Heiliger Vater, am 16. April 2005, Ihrem 78. Geburtstag, verkündeten Sie Ihren Mitarbeitern, wie sehr Sie sich jetzt auf Ihren Ruhestand freuten. Drei Tage später waren Sie das Oberhaupt der universalen Kirche mit 1,2 Milliarden Mitgliedern. Nicht gerade eine Aufgabe, die man sich für das hohe Alter aufspart.
Ich hatte eigentlich erwartet, endlich Frieden und Ruhe zu finden. Dass ich mich plötzlich dieser gewaltigen Aufgabe gegenüber sah, war, wie alle Leute wissen, ein Schock für mich. Die Verantwortung ist in der Tat ungeheuerlich.
Es gab die Minute, von der Sie später sagten, Sie fühlten regelrecht ein „Fallbeil“ auf sich heruntersausen.
Ja, der Gedanke an die Guillotine ist mir gekommen: Jetzt fällt sie herunter und trifft dich. Ich war mir ganz sicher gewesen, dass dieses Amt nicht meine Bestimmung ist, sondern dass Gott mir jetzt, nach anstrengenden Jahren, etwas Frieden und Ruhe gewähren wird. Ich konnte da nur sagen, mir klar machen: Der Wille Gottes ist offenbar anders, und es beginnt etwas ganz Anderes, Neues für mich. Er wird mit mir sein.
Im sogenannten „Zimmer der Tränen“ liegen bei einem Konklave schon mal drei Gewänder für den künftigen Papst bereit. Eines ist lang, eines kurz, eines mittel. Was ging Ihnen in diesem Zimmer, in dem so mancher neue Pontifex schon zusammengebrochen sein soll, durch den Kopf? Fragt man sich spätestens hier noch einmal: Warum ich? Was will Gott von mir?
Eigentlich ist man in diesem Moment erst einmal durch ganz praktische, äußere Dinge in Anspruch genommen. Man muss schauen, wie man mit den Gewändern zu Rande kommt, und dergleichen. Zudem wusste ich, ich werde gleich vorne auf dem Balkon einige Worte sprechen müssen, und habe begonnen zu überlegen, was ich sagen kann. Im Übrigen konnte ich schon in dem Augenblick, in dem es mich getroffen hatte, einfach zum Herrn nur sagen: „Was tust Du mit mir? Jetzt hast Du die Verantwortung. Du musst mich führen! Ich kann es nicht. Wenn Du mich gewollt hast, dann musst Du mir auch helfen!“
In diesem Sinn stand ich, sagen wir, in einem dringenden Dialogverhältnis mit dem Herrn – dass er, wenn er das eine tut, auch das andere tun muss.
Wollte Johannes Paul II. Sie als seinen Nachfolger haben?
Das weiß ich nicht. Ich glaube, er hat das ganz dem Lieben Gott überlassen.
Immerhin hat er Sie nicht aus dem Amt gelassen. Das könnte man als argumentum e silentio verstehen, als ein stilles Argument für den Lieblingskandidaten.
Er hat mich im Amt halten wollen, das ist offenkundig. Als mein 75. Geburtstag nahte, das Erreichen der Altersgrenze, an der man die Demission einreicht, hat er zu mir gesagt: „Sie brauchen den Brief gar nicht zu schreiben, denn ich will Sie bis zum Ende haben.“ Das war das große und unverdiente Wohlwollen, das er von Anfang an für mich hegte. Er hatte meine „Einführung in das Christentum“ gelesen. Das war für ihn offenbar eine wichtige Lektüre. Gleich als er Papst wurde, hat er sich vorgenommen, mich als Präfekten der Glaubenskongregation nach Rom zu berufen. Er hatte ein großes, ganz herzliches und tiefes Vertrauen in mich gesetzt. Sozusagen als die Gewähr dafür, dass wir im Glauben den richtigen Kurs fahren.
Sie haben Johannes Paul II. noch auf seinem Sterbebett besucht. An jenem Abend eilten Sie von einem Vortrag aus Subiaco zurück, wo Sie über „Benedikts Europa in der Krise der Kulturen“ gesprochen hatten. Was hat Ihnen der sterbende Papst noch gesagt?
Er war sehr leidend und dennoch sehr präsent. Er hat aber nichts mehr gesagt. Ich habe ihn um den Segen gebeten, den er mir gab. So sind wir mit einem herzlichen Händedruck und in dem Bewusstsein, dass es die letzte Begegnung ist, voneinander gegangen.
Sie wollten nicht Bischof werden, Sie wollten nicht Präfekt werden, Sie wollten nicht Papst werden. Erschrickt man da nicht auch darüber, was einem ganz gegen den eigenen Willen immer wieder geschieht?
Es ist eben so: Wenn man bei der Priesterweihe ja sagt, kann man zwar seine Idee davon haben, was das eigene Charisma sein könnte, aber man weiß auch: Ich habe mich dem Bischof und letztlich dem Herrn in die Hand gegeben. Ich kann mir nicht aussuchen, was ich will. Am Ende muss ich mich führen lassen.
Ich hatte in der Tat die Idee, dass Professor der Theologie mein Charisma sei, und ich war sehr glücklich, als meine Vorstellung in Erfüllung ging. Aber es war für mich auch klar: Ich bin immer in den Händen des Herrn, und ich muss auch mit Dingen rechnen, die ich nicht gewollt habe. In diesem Sinn waren es sicher Überraschungen, plötzlich weggerissen zu werden und nicht mehr dem eigenen Weg folgen zu können. Aber wie gesagt, in dem grundlegenden Ja war auch enthalten: Ich stehe dem Herrn zur Verfügung und muss vielleicht eines Tages auch Dinge tun, die ich selber nicht möchte.
Sie sind nun der mächtigste Papst aller Zeiten. Niemals zuvor hatte die katholische Kirche mehr Gläubige, noch nie eine solche Ausdehnung, buchstäblich bis zu den Enden der Welt.
Natürlich sind diese Statistiken wichtig. Sie zeigen an, wie weit die Kirche verbreitet ist und wie groß diese Gemeinschaft, die Rassen und Völker, Kontinente, Kulturen, Menschen aller Art umspannt, wirklich ist. Aber der Papst hat durch diese Zahlen nicht Macht.
Warum nicht?
Die Art der Gemeinschaft mit dem Papst ist anders, und die Art der Zugehörigkeit zur Kirche natürlich auch. Unter den 1,2 Milliarden sind viele, die innerlich nicht mit dabei sind. Der heilige Augustinus hat schon zu seiner Zeit gesagt: Es sind viele draußen, die drinnen zu sein scheinen; und es sind viele drinnen, die draußen zu sein scheinen. Bei einer Sache wie dem Glauben, der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, ist Innen und Außen geheimnisvoll miteinander verwoben. Darin hatte Stalin schon Recht, dass der Papst keine Divisionen hat und nicht gebieten kann. Er hat auch kein großes Unternehmen, in dem gleichsam alle Gläubigen der Kirche seine Angestellten oder seine Untertanen wären.
Insofern ist der Papst einerseits ein ganz ohnmächtiger Mensch. Andererseits steht er in einer großen Verantwortung. Er ist gewissermaßen der Anführer, der Repräsentant und zugleich der Verantwortliche dafür, dass der Glaube, der die Menschen zusammenhält, geglaubt wird, dass er lebendig bleibt und dass er in seiner Identität unangetastet ist. Aber nur der Herr selber hat die Macht, die Menschen auch im Glauben zu halten.
Für die katholische Kirche ist der Papst der Vicarius Christi, der Stellvertreter Christi auf Erden. Können Sie wirklich für Jesus sprechen?
Bei der Verkündigung des Glaubens und im Vollzug der Sakramente spricht jeder Priester im Auftrag Jesu Christi, für Jesus Christus. Christus hat der Kirche sein Wort anvertraut. In der Kirche lebt dieses Wort. Und wenn ich den Glauben dieser Kirche innerlich annehme und lebe, aus ihm heraus spreche und denke, wenn ich Ihn verkündige, dann spreche ich für Ihn – auch wenn natürlich in Details immer Schwächen sein können. Wichtig ist, dass ich nicht meine Ideen vortrage, sondern versuche, den Glauben der Kirche zu denken und zu leben, in Seinem Auftrag gehorsam zu handeln.
Ist der Papst wirklich „unfehlbar“ in dem Sinne, wie es in den Medien zuweilen kolportiert wird? Ein absoluter Souverän, dessen Denken und Wille Gesetz sind?
Das ist verkehrt. Der Begriff der Unfehlbarkeit hat sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt. Er entstand angesichts der Frage, ob es irgendwo eine letzte Instanz gibt, die entscheidet. Das Erste Vatikanische Konzil hat, einer langen Tradition aus der Zeit der Urchristenheit folgend, schließlich festgehalten: Es gibt eine letzte Entscheidung! Es bleibt nicht alles offen! Der Papst kann in bestimmten Umständen und unter bestimmten Bedingungen letztverbindliche Entscheidungen treffen, durch die klar wird, was der Glaube der Kirche ist und was nicht.
Was nicht heißt, dass der Papst ständig „Unfehlbares“ produzieren kann. Für gewöhnlich handelt der Bischof von Rom wie jeder andere Bischof auch, der seinen Glauben bekennt, der ihn verkündigt, der treu ist in der Kirche. Nur wenn bestimmte Bedingungen vorliegen, wenn die Tradition geklärt ist und er weiß, dass er jetzt nicht willkürlich handelt, kann der Papst sagen: Dies ist der Glaube der Kirche – und das Nein dazu ist nicht der Glaube der Kirche. In diesem Sinn hat das Erste Vatikanische Konzil die Fähigkeit zur Letztentscheidung definiert, damit der Glaube seine Verbindlichkeit behält.
Das Petrusamt, so erklärten Sie, garantiere die Übereinstimmung mit der Wahrheit und der authentischen Tradition. Die Gemeinschaft mit dem Papst sei Voraussetzung für Rechtgläubigkeit und Freiheit. Der heilige Augustinus hatte es so ausgedrückt: „Wo Petrus ist, da ist die Kirche, und da ist auch Gott.“ Aber dieses Diktum stammt aus einer anderen Zeit, es muss heute nicht mehr gelten.
Dieses Wort ist zwar nicht so und nicht von Augustinus formuliert worden, aber das können wir hier offen lassen. Jedenfalls ist es ein altes Axiom der katholischen Kirche: Wo Petrus ist, da ist die Kirche.
Der Papst kann selbstverständlich verkehrte Privatmeinungen haben. Aber wenn er, wie schon gesagt, als oberster Hirte der Kirche im Bewusstsein seiner Verantwortung spricht, dann sagt er nicht mehr irgendetwas Eigenes, was ihm gerade eingefallen ist. Dann weiß er sich in dieser großen Verantwortung und zugleich auch unter dem Schutz des Herrn, dass er in einer solchen Entscheidung die Kirche nicht in die Irre führt, sondern ihre Einheit mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft und vor allem mit dem Herrn gewährleistet. Das ist, worum es geht, und das ist, was auch andere christliche Gemeinschaften empfinden.
Aus Anlass eines Symposiums zum 80. Geburtstag Pauls VI. referierten Sie 1977 darüber, was und wie ein Papst sein sollte. Er müsse sich „als der ganz Kleine halten und verhalten“, zitierten Sie den englischen Kardinal Reginald Pole. Er müsse bekennen, „dass er nichts anderes weiß als nur das eine, was ihm von Gott, dem Vater, durch Christus gelehrt worden ist“. Vicarius Christi zu sein, sei Anwesend-Halten der Macht Christi als Gegenmacht zur Macht der Welt. Und zwar nicht in Form irgendeiner Herrschaft, sondern im Tragen der übermenschlichen Last auf den menschlichen Schultern. Insofern sei der eigentliche Ort des Vicarius Christi das Kreuz.
Ja, das halte ich auch heute für richtig. Der Primat hat sich von Anfang an als Primat des Martyriums entwickelt. Rom war in den ersten drei Jahrhunderten der Vor- und Hauptort der Christenverfolgungen. Diesen Verfolgungen standzuhalten und das Zeugnis Christi zu geben, war die besondere Aufgabe des römischen Bischofssitzes.
Man darf es als Sache der Vorsehung betrachten, dass sich in dem Augenblick, in dem das Christentum mit dem Staat in Frieden trat, das Kaisertum an den Bosporus nach Konstantinopel verlegte. Rom war nun gleichsam in die Provinz geraten. So konnte der Bischof von Rom leichter die Eigenständigkeit der Kirche, ihre Unterschiedenheit vom Staat herausstellen. Man muss nicht eigens den Konflikt suchen, das ist klar, sondern im Grunde den Konsens, das Verstehen anstreben. Aber immer muss die Kirche, muss der Christ, muss vor allem der Papst darauf gefasst sein, dass das Zeugnis, das er abzulegen hat, Skandal wird, nicht angenommen wird, und dass er dann in die Situation des Zeugen, des leidenden Christus hineingerückt wird.
Dass die frühen Päpste alle Märtyrer waren, hat seine Bedeutung. Zum Papst gehört nicht, dass er als glorreicher Herrscher dasteht, sondern dass er für jenen Zeugnis ablegt, der gekreuzigt wurde, und dass er bereit ist, auch selbst in dieser Form, in der Bindung an Ihn, sein Amt auszuüben.
Es gab allerdings auch Päpste, die sich sagten: Der Herr hat uns das Amt gegeben, jetzt wollen wir es auch genießen.
Ja, auch das gehört zum Geheimnis der Papstgeschichte.
Die christliche Bereitschaft zum Widerspruch durchzieht Ihre eigene Biografie wie ein stetes Webmuster. Das beginnt im Elternhaus, wo Widerstand gegen ein atheistisches System als Merkmal einer christlichen Existenz verstanden wird. Im Priesterseminar steht Ihnen ein Rektor zur Seite, der im KZ Dachau interniert war. Als Priester beginnen Sie in einer Pfarrgemeinde in München, in der Ihre beiden Vorgänger als Widerstandskämpfer von den Nazis hingerichtet wurden. Während des Konzils opponieren Sie gegen die zu engen Vorgaben der Kirchenführung. Als Bischof warnen Sie vor den Gefährdungen einer Wohlstandsgesellschaft. Als Kardinal stemmen Sie sich gegen den Umbau des christlichen Kerns durch glaubensfremde Strömungen.
Haben diese Grundlinien nun auch Einfluss darauf, wie Sie Ihr Pontifikat gestalten?
Natürlich bedeutet eine so lange Erfahrung auch eine Formung des Charakters, sie prägt das Denken und das Tun. Ich war natürlich nicht einfach immer nur grundsätzlich dagegen. Es gab viele schöne Situationen des Einverständnisses. Wenn ich an meine Kaplanszeit denke, war zwar schon das Aufbrechen der säkularen Welt in den Familien spürbar, aber trotzdem gab es so viel Freude im gemeinsamen Glauben, in der Schule, mit den Kindern, mit der Jugend, dass ich richtiggehend von dieser Freude getragen wurde. Und so war es auch in der Zeit, als ich Professor war.
Durch mein ganzes Leben hat sich immer auch die Linie hindurchgezogen, dass Christentum Freude macht, Weite gibt. Schließlich könnte man als einer, der immer nur dagegen ist, das Leben wohl auch gar nicht ertragen.
Aber gleichzeitig war immer gegenwärtig, wenn auch in unterschiedlichen Dosierungen, dass das Evangelium gegen machtvolle Konstellationen steht. Dies war in meiner Kindheit und Jugend bis zum Kriegsende natürlich besonders drastisch. Seit den 1968er Jahren geriet der christliche Glaube dann in den Gegensatz zu einem neuen Gesellschaftsentwurf, so dass er immer wieder gegen machtvoll auftrumpfende Meinungen bestehen musste. Anfeindungen zu ertragen und Widerstand zu leisten, gehört also dazu – ein Widerstand aber, der dazu dient, das Positive ins Licht zu bringen.
Nach dem Annuario Pontificio, dem Jahrbuch der katholischen Kirche, errichteten Sie alleine im Jahr 2009 acht neue Bischofssitze, eine Apostolische Präfektur, zwei neue Metropolitansitze und drei Apostolische Vikariate. Die Zahl der Katholiken stieg gerade wieder um 17 Millionen, so viel wie die Einwohnerschaft Griechenlands und der Schweiz zusammen. In den fast 3000 Diözesen haben Sie 169 neue Bischöfe ernannt. Dann sind da die ganzen Audienzen, die Predigten, die Reisen, die Vielzahl von Entscheidungen – und neben all dem haben Sie auch noch ein großes Jesus-Werk geschrieben, dessen zweiter Band demnächst veröffentlicht wird. Sie sind heute 83 Jahre alt; woher nehmen Sie Ihre Kraft?
Zunächst muss ich sagen, dass das, was Sie aufzählen, ein Zeichen dafür ist, wie sehr die Kirche lebt. Von Europa alleine aus betrachtet hat es den Anschein, dass sie im Niedergang ist. Aber das ist nur ein Teil des Ganzen. In anderen Erdteilen wächst und lebt sie, ist sie voller Dynamik. Die Zahl der Neupriester ist in den letzten Jahren weltweit gestiegen, auch die Zahl der Seminaristen. Wir erleben auf dem europäischen Kontinent nur eine bestimmte Seite und nicht auch die große Dynamik des Aufbruchs, die anderswo wirklich da ist und der ich auf meinen Reisen und durch die Besuche der Bischöfe immer wieder begegne.
Richtig ist, dass das einen 83-jährigen Menschen eigentlich überfordert. Gott sei Dank gibt es viele gute Mitarbeiter. Alles wird in einer gemeinsamen Anstrengung erarbeitet und durchgeführt. Ich vertraue darauf, dass mir der Liebe Gott so viel Kraft gibt, wie ich brauche, damit ich das Nötige tun kann. Ich merke aber auch, dass die Kräfte nachlassen.
Immerhin hat man den Eindruck, der Papst könnte einem auch als Fitnesslehrer etwas beibringen.
(Papst lacht.) Ich glaube nicht. Man muss natürlich seine Zeit richtig einteilen. Und darauf achten, dass man auch genügend Ruhezeiten hat. Dass man dann in den Zeiten, in denen man gebraucht wird, entsprechend präsent ist. Kurzum: dass man den Rhythmus des Tages diszipliniert einhält und weiß, für wann man Energien braucht.
Benutzen Sie eigentlich das Trimmrad, das Ihnen Ihr früherer Leibarzt Dr. Buzzonetti aufgestellt hat?
Nein, ich komme gar nicht dazu – und brauche es Gott sei Dank im Moment auch nicht.
Der Papst hält es also wie Churchill: no sports!
Ja!
Von der Seconda Loggia, der Audienzetage des Apostolischen Palastes, ziehen Sie sich für gewöhnlich ab 18 Uhr zurück, um in Ihrer Wohnung in den sogenannten „Tabellenaudienzen“ noch die wichtigsten Mitarbeiter zu empfangen. Ab 20.45 Uhr, so heißt es, ist der Papst privat. Was macht ein Papst in der Freizeit, vorausgesetzt, dass er überhaupt über eine solche verfügt?
Ja, was macht er …? Natürlich muss er auch in seiner Freizeit Akten studieren und lesen. Es bleibt immer sehr viel Arbeit übrig. Aber es gibt mit der Päpstlichen Familie, den vier Frauen aus der Gemeinschaft der „Memores Domini“ und den beiden Sekretären, auch die gemeinsamen Mahlzeiten; das sind Momente der Entspannung.
Sehen Sie gemeinsam fern?
Die Nachrichten schaue ich mit den Sekretären an, aber wir sehen uns manchmal gemeinsam auch eine DVD an.
Welche Filme mögen Sie?
Da gibt es einen sehr schönen Film über die heilige Josephine Bakhita, eine Afrikanerin, den wir uns kürzlich angesehen haben. Und dann schauen wir uns gerne Don Camillo und Peppone an …
… Wobei Sie vermutlich jede Folge längst auswendig kennen.
(Papst lacht.) Nicht ganz.
Man erlebt also den Papst auch ganz privat.
Natürlich. Wir feiern zusammen Weihnachten, hören an den Festtagen Musik und tauschen uns aus. Die Namenstage werden begangen, und gelegentlich singen wir auch eine gemeinsame Vesper.
Also die Feste begehen wir miteinander. Und dann sind da neben den gemeinsamen Mahlzeiten vor allem die gemeinsamen Heiligen Messen am Morgen. Das ist ein besonders wichtiger Moment, in dem wir alle vom Herrn her auf besonders konzentrierte Weise beieinander sind.
Der Papst ist immer weiß gekleidet. Trägt er statt der Soutane nicht auch mal einen Freizeitpullover?
Nein. Das hat mir der frühere zweite Sekretär von Papst Johannes Paul II. vermacht, Monsignore Mieczysław Mokrzycki, der mir sagte: „Der Papa hat die Soutane immer getragen, das müssen Sie auch tun.“
Die Römer staunten nicht schlecht, als sie auf dem Umzugs-Lkw Ihre Habseligkeiten sahen, mit denen Sie nach der Wahl zum 264. Nachfolger Petri aus Ihrer Wohnung in den Vatikan umgezogen sind. Haben Sie das päpstliche Appartamento mit Ihren Gebrauchtmöbeln ausgestattet?
Jedenfalls mein Arbeitszimmer. Es war mir wichtig, mein Arbeitszimmer so zu haben, wie es im Laufe vieler Jahrzehnte gewachsen ist. Ich habe 1954 meinen Schreibtisch und die ersten Büchergestelle gekauft. Das ist dann allmählich angewachsen. Da drinnen sind alle meine Bücher, ich kenne jeden Winkel, und alles hat seine Geschichte. Also das Arbeitszimmer habe ich komplett mitgenommen. Die übrigen Zimmer wurden mit den päpstlichen Möbeln ausgestattet.
Jemand hat herausgefunden, dass Sie offenbar an beständigen Uhrwerken hängen. Sie tragen eine Armbanduhr aus den 60er oder 70er Jahren, eine Junghans.
Die gehörte meiner Schwester, die sie mir hinterlassen hat. Als sie starb, ging die Uhr an mich.
Ein Papst hat noch nicht einmal eine eigene Brieftasche, geschweige denn ein Gehaltskonto. Das ist doch richtig, oder?
Das ist richtig, ja.
Bekommt er dann wenigstens mehr Hilfen und Tröstungen „von oben“ als, sagen wir, ein gewöhnlicher Sterblicher?
Nicht nur von oben. Ich bekomme so viele Briefe von einfachen Menschen, von Ordensschwestern, von Müttern, Vätern, Kindern, in denen sie mir Mut zusprechen. Sie schreiben: „Wir beten für dich, hab keine Angst, wir mögen dich.“ Und sie fügen auch Geldgeschenke und andere kleine Geschenke bei …
Der Papst bekommt Geldgeschenke?
Nicht für mich persönlich, sondern damit ich anderen helfen kann. Und das rührt mich auch sehr, dass einfache Leute etwas beilegen und zu mir sagen: „Ich weiß, dass Sie so viel zu helfen haben, ich will auch ein wenig dazutun.“ Insofern kommen Tröstungen vielfältigster Art an. Da sind dann auch die Mittwochsaudienzen mit den einzelnen Begegnungen. Von alten Freunden kommen Briefe, gelegentlich auch Besuche, wobei das natürlich immer schwieriger geworden ist. Da ich immer auch den Trost „von oben“ spüre, beim Beten die Nähe des Herrn erlebe oder beim Lesen der Kirchenväter das Schöne des Glaubens aufleuchten sehe, gibt es ein ganzes Konzert von Tröstungen.
Hat sich Ihr Glaube verändert, seit Sie als oberster Hirte für die Herde Christi verantwortlich sind? Manchmal hat man den Eindruck, er wäre jetzt irgendwie geheimnisvoller, mystischer geworden.
Mystiker bin ich nicht. Aber richtig ist, dass man als Papst noch viel mehr Anlass hat zu beten und sich ganz Gott zu überlassen. Denn ich sehe ja, dass fast alles, was ich tun muss, etwas ist, was ich selber gar nicht kann. Schon dadurch bin ich sozusagen gezwungen, mich dem Herrn in die Hände zu geben und ihm zu sagen: „Mach Du es, wenn Du es willst!“ In diesem Sinn ist Gebet und Kontakt mit Gott jetzt noch notwendiger und auch noch natürlicher und selbstverständlicher als vorher.
Profan gesprochen: Gibt es da nun einen „besseren Draht“ zum Himmel oder so etwas wie eine Amtsgnade?
Ja, manchmal spürt man das schon. Im Sinne von: Jetzt habe ich etwas machen können, was gar nicht von mir selbst kam. Jetzt überlasse ich mich dem Herrn und merke: Ja, es ist eine Hilfe da, es wird etwas getan, was nicht aus mir selber ist. In dem Sinn gibt es durchaus die Erfahrung von Amtsgnade.
Johannes Paul II. berichtete einmal davon, dass sein Vater ihm eines Tages ein Gebetbuch mit dem „Gebet zum Heiligen Geist“ in die Hand gedrückt hat und meinte, er solle es täglich beten. Allmählich habe er dann verstanden, was es heißt, wenn Jesus sagt, die wahren Gottesanbeter seien jene, die Gott „im Geist und in der Wahrheit“ anbeten. Was heißt das?
Diese Stelle im Johannes-Evangelium, Kapitel vier, ist die Prophezeiung einer Anbetung, in der kein Tempel mehr da sein wird, sondern in der ohne äußeren Tempel gebetet wird in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes und der Wahrheit des Evangeliums, in der Gemeinschaft mit Christus; wo man keinen sichtbaren Tempel mehr braucht, sondern die neue Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn. Das bleibt immer wichtig, weil es auch religionsgeschichtlich eine große Wende bedeutet.
Und wie betet Papst Benedikt?
Was den Papst angeht, so ist auch er ein einfacher Bettler vor Gott – mehr noch als alle anderen Menschen. Natürlich bete ich zuallererst immer zu unserem Herrn, mit dem mich einfach sozusagen diese alte Bekanntschaft verbindet. Aber ich rufe auch die Heiligen an. Ich bin mit Augustinus, mit Bonaventura, mit Thomas vonAquin befreundet. Man sagt dann auch zu solchen Heiligen: „Helft mir!“ Und die Mutter Gottes ist ohnehin immer ein großer Bezugspunkt. In diesem Sinn gebe ich mich in die Gemeinschaft der Heiligen hinein. Mit ihnen, durch sie bestärkt, rede ich dann auch mit dem Lieben Gott, vor allem bettelnd, aber auch dankend – oder ganz einfach freudig.
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