„Erster Völkermord des 20. Jahrhunderts“
Einladung an die Türkei, den Genozid aufzuarbeiten
Der Völkermord an den christlichen Armeniern ist in der Türkei, der Erbin des Osmanischen Reiches, hundert Jahre später immer noch ein tabubesetztes Thema. Franziskus rief in seiner Botschaft indirekt auch die Türkei dazu auf, die Erinnerung an den Genozid zuzulassen. „Das Gedenken an das Vorgefallene zu begehen, ist nicht nur dem armenischen Volk und der Weltkirche aufgegeben, sondern der gesamten Menschheitsfamilie“, schreibt der Papst. Nur so könne die Mahnung, die aus dieser Tragödie kommt, „uns von der Gefahr befreien, in ähnliche Gräuel zurückzufallen, die Gott und die Menschenwürde beleidigen.“ Heute noch würden Konflikte mitunter in nicht zu rechtfertigende Gewalt ausarten, Gewalt, die durch die Instrumentalisierung ethnischer und religiöser Unterschiede noch geschürt werde. Franziskus erinnerte an Massenvernichtungen in Kambodscha, Ruanda, Burundi und Bosnien. In seiner Botschaft schloss er einen Aufruf an die Staats- und Regierungschefs und die internationalen Organisationen an: Sie seien „dazu aufgerufen, sich solchen Verbrechen mit fester Verantwortung entgegenzustellen, ohne Zweideutigkeiten und Kompromissen nachzugeben.“ Der Papst verwies darauf, dass sein Vorgänger Benedikt XV. am 10. September 1915 versucht habe, den Völkermord an den Armeniern zu stoppen. „Er schrieb in dieser Angelegenheit an Sultan Mohammed V. und flehte ihn an, das Leben so vieler Unschuldiger zu verschonen“.
Die Wunden Jesu – Schlüssel einer möglichen Versöhnung
In seiner Predigt bei der Messe mit den Armeniern verwies der Papst freilich auch auf den Weg, den Jesus aus einer Verschlossenheit in den Wunden der Vergangenen weist: die Barmherzigkeit. Das Evangelium an diesem ersten Sonntag nach Ostern, dem Sonntag der Barmherzigkeit, stellt uns den ungläubigen Thomas vor, der nicht an die Auferstehung glauben will, solange er die Wunden Jesu nicht mit eigenen Händen berührt. „Die Wunden Jesu sind Wunden der Barmherzigkeit“, erläuterte Franziskus. Durch diese Wunden können Christen „wie durch einen leuchtenden Zugang hindurch das ganze Geheimnis Christi und Gottes sehen … wir können die ganze Heilsgeschichte zurückgehen … bis zu Abel und seinem Blut, das zum Himmel schreit.“
Angesichts der „tragischen Ereignisse in der Menschheitsgeschichte“ fragten sich Menschen stets nach dem Warum, so der Papst vor den armenischen Gläubigen. „Die menschliche Bosheit kann in der Welt gleichsam Abgründe, ein großes Vakuum auftun: ein Vakuum an Liebe, ein Vakuum an Gutem, ein Vakuum an Leben. Und dann fragen wir uns: Wie können wir diese Abgründe auffüllen? Für uns ist es unmöglich; Gott allein kann diese Leere, welche das Böse in unseren Herzen und in unserer Geschichte auftut, füllen. Und Jesus, der Mensch geworden und am Kreuz gestorben ist, füllt den Abgrund der Sünde mit dem Abgrund seiner Barmherzigkeit.”
Ein neuer Kirchenlehrer: Gregor von Narek
Einen Ehrenplatz in der Liturgie und im Gedenken nahm an diesem Sonntag der armenische Heilige Gregor von Narek ein. Franziskus erhob den Mönch aus dem 10. Jahrhundert zum Kirchenlehrer. Gregor „verstand es mehr als jeder andere, die Sensibilität eures Volkes auszudrücken“, schreibt der Papst in seiner Botschaft an die armenischen Christen. Der Heilige habe dem „Schreien“ einer in Sünde befangenen Menschheit eine Stimme gegeben, die dennoch vom Glanz der Liebe Gottes erleuchtet sei. Franziskus würdigte überdies die sehr weit zurückreichende Tradition der Kirche Armeniens. 301 habe der Heilige Gregor der Erleuchter Armenien zur Taufe geführt – „die erste Nation im Lauf der Jahrhunderte, die das Evangelium Christi annahm“. Das Christentum habe das armenische Volk „unauslöschlich“ geprägt, wobei in seiner Geschichte das Martyrium schon seit dem 5. Jahrhundert „einen herausragenden Platz“ einnimmt.
Armenischer Würdenträger nutzt Auftritt zu politischen Forderungen
Die stärksten Worte zum Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren fand – sichtlich aus eigener Betroffenheit – der armenische Katholikos des Großen Hauses von Kilikien, Aram I. Der gebürtige Libanese ergriff am Ende der Messe im Petersdom das Wort. In erheblichen Abweichungen vom ursprünglichen Redetext und unter dem Applaus der armenischen Gläubigen sprach Aram vom Genozid als „unvergesslichem und unleugbarem Fakt der Geschichte, der in den Annalen moderner Geschichte und im gemeinsamen Bewusstsein tief verwurzelt“ sei. Er erinnerte an die eineinhalb Millionen Getöteten und Tausende armenischer Klöster und Einrichtungen, die von den Osmanen zerstört oder beschlagnahmt wurden und „immer noch konfisziert“ seien. Aram berief sich auf internationales Recht und forderte im Petersdom „Verurteilung, Anerkennung und Reparation“ für den Völkermord vor 100 Jahren. Er würdigte das Einschreiten des Heiligen Stuhles für die Armenier, namentlich den Brief von Benedikt XV. zur Beendigung der Massaker, und das Engagement in den darauf folgenden Jahrzehnten. „Wir schätzen diese Unterstützung des Vatikans und besonders eurer Heiligkeit sehr“, sagte Aram.
Papst Franziskus hatte bereits wenige Monate nach seinem Amtsantritt die Verfolgung der Armenier als „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Daraufhin legte die Türkei offiziell Protest ein. Die Äußerung sei „absolut inakzeptabel“, hieß es 2013 aus Ankara. Franziskus hatte sich in einem privaten Gespräch geäußert, das später publik wurde. Bereits als Erzbischof von Buenos Aires hatte der heutige Papst keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich als Völkermord betrachtet.
