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JOSEPH KARDINAL RATZINGER: AUS: “GOTT UND DIE WELT”

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2000-GATW-SEEWALD

Glauben und Leben in unserer Zeit

Ein Gespräch mit Peter Seewald

Prolog

Glaube, Hoffnung, Liebe

Eminenz, haben Sie manchmal nicht auch ein wenig Angst vor Gott?

Angst würde ich das nicht nennen. Von Christus wissen wir ja, wie Gott ist, daß er uns liebt. Und er weiß, wie wir sind. Er weiß, wir sind Fleisch. Wir sind Staub. Deswegen nimmt er uns in unserer Schwachheit an.
Ich habe allerdings immer wieder dieses brennende Gefühl, hinter meiner Berufung zurückzubleiben. Hinter der Idee, die Gott von mir hat, von dem, was ich geben könnte und müßte.

Kann es sein, daß Gott Sie auch einmal kritisiert oder eine Ihrer Entscheidungen nicht in Ordnung findet?

Gott ist nicht wie ein Gendarm oder ein Strafrichter, der einem eine Buße aufbrummt. Aber im Spiegel des Glaubens und auch des mir gewordenen Auftrags muß ich mich jeden Tag besinnen, was recht ist und wann etwas verkehrt war. Natürlich spüre ich dann auch, daß etwas nicht richtig gewesen ist. Dafür gibt es ja auch das Bußsakrament.

Den Katholiken wird ja nachgesagt, sie seien Gott gegenüber voller Schuldgefühle.

Ich glaube, daß die Katholiken vor allem von einem großen Gefühl der Vergebung Gottes beseelt sind. Nehmen wir die Kunst des Barock oder des Rokoko. Hier sieht man große Heiterkeit. So typischen katholischen Nationen wie Italien oder Spanien wird nicht ohne Grund eine innere Leichtigkeit nachgesagt.
Vielleicht hat es in einzelnen Zonen des Christentums auch Erziehungsformen und Verbiegungen gegeben, wo das Erschreckende, das Schwere, das Strenge ein Übergewicht hat, aber das eigentlich Katholische ist das nicht. Meinem Gefühl nach überwiegt gerade bei Menschen, die aus dem Glauben der Kirche leben, letztlich ein Bewußtsein der Erlösung: Gott läßt uns nicht fallen!

Gibt es da eine Sprache, die Gott gebraucht, um uns ganz konkret manchmal zu sagen: »Ja, tu es.« Oder eben: »Stop mal, letzte Warnung! Laß es lieber sein!«?

Die Sprache Gottes ist leise. Aber er gibt uns vielerlei Winke. Gerade rückschauend kann man erkennen, daß er uns durch Freunde, durch ein Buch oder auch durch ein vermeintliches Scheitern, ja selbst durch Unfälle einen kleinen Stoß gegeben hat. Das Leben ist eigentlich voll von diesen stillen Weisungen. Langsam, wenn ich wach bleibe, setzt sich daraus ein Ganzes zusammen, und ich fange an zu spüren, wie Gott mich führt.

Wenn Sie nun persönlich mit Gott sprechen, ist das so selbstverständlich geworden wie telefonieren?

Man kann es in gewisser Hinsicht vergleichen. Ich weiß, er ist immer da. Und er weiß ohnedies, wer ich bin und was ich bin. Um so mehr habe ich das Bedürfnis, ihn herbeizurufen, mich ihm mitzuteilen, mit ihm zu reden. Mit ihm kann ich das Allereinfachste und Innerste wie das Beschwerendste und Größte austauschen. Es ist für mich irgendwie normal, im Alltag immer wieder die Möglichkeit zu haben, ihn anzureden.

Ist Gott dabei immer nur respektvoll, oder zeigt er auch Humor?

Ich glaube, daß er viel Humor hat. Manchmal gibt er einem auch so einen Stups und sagt, nimm dich nicht so wichtig! Der Humor ist eigentlich Bestandteil der Heiterkeit der Schöpfung. In vielen Dingen unseres Lebens merkt man, daß Gott uns auch anstoßen will, ein bißchen leichter zu sein; auch das Heitere zu sehen; von unserem hohen Sockel herunterzusteigen und den Sinn für das Lustige nicht zu vergessen.

Müssen Sie sich nicht manchmal über Gott ärgern?

Natürlich denke auch ich hin und wieder: Warum hilft er mir denn nicht stärker? Er bleibt mir manchmal auch rätselhaft. In den Zufällen, die mich ärgern, spüre ich irgendwo auch sein Geheimnis, seine Fremdheit. Aber sich direkt über Gott zu ärgern, das würde heißen, daß man Gott zu weit heruntergezogen hat. Vielfach sind ganz vordergründige Dinge an einem Ärger schuld. Und dort, wo Ärger wirklich gerechtfertigt ist, muß man sich immer fragen, ob mir dadurch vielleicht nicht auch etwas Wichtiges mitgeteilt wird in den Dingen, die mich ärgern, und in den Menschen, die mich ärgern. Über Gott selber aber ärgere ich mich nie.

Wenn Sie Ihren Tag beginnen, wie machen Sie das?

Bevor ich aufstehe, mache ich zunächst ein kurzes Gebet. Der Tag sieht anders aus, wenn man nicht so direkt in ihn hineinstolpert. Dann kommt all das, was man in der Frühe tut, waschen, frühstücken. Anschließend gibt es die Heilige Messe und das Brevier. Beides sind für mich die grundlegenden Akte des Tages: Die Messe ist die ganz reale Begegnung mit der Anwesenheit des auferstandenen Christus, und das Brevier ist das Eintreten in das große Beten der ganzen Heilsgeschichte. Die Psalmen sind dabei das Herzstück. Hier betet man mit den Jahrtausenden mit und hört 16 darin die Stimmen der Väter. All das öffnet einem die Tür in den Tag hinein. Dann kommt die normale Arbeit.

Und wie oft beten Sie?

Feste Gebetszeiten sind am Mittag, wo wir nach katholischer Überlieferung den Engel des Herrn beten. Am Nachmittag gibt es die Vesper und abends die Komplet, das kirchliche Abendgebet. Und dazwischen, wenn ich spüre, jetzt brauche ich Hilfe, können kleine Gebete immer eingeschoben werden.

Beten Sie vor dem Aufstehen immer ein anderes Gebet?

Nein, das ist schon ein festes Gebet, eigentlich eine Ansammlung von verschiedenen kleinen Gebeten, aber insgesamt eine feste Formel.

Gibt es da eine Empfehlung?

Da kann sich sicher jeder etwas aus dem Schatz der Kirche aussuchen.

Nachts, wenn man keine Ruhe finden kann . . .

. . . würde ich den Rosenkranz empfehlen. Das ist ein Gebet, das neben seiner geistlichen Bedeutung eine seelisch beruhigende Kraft hat. Wenn man sich hier immer wieder an den Wörtern festhält, wird man allmählich frei von den Gedanken, die einen so plagen.

Wie werden Sie persönlich mit Problemen fertig – vorausgesetzt, daß Sie überhaupt welche haben?

Wie sollte ich sie nicht haben? Zum einen versuche ich, Probleme ins Gebet hineinzutragen und mich dort innerlich festzumachen. Zum anderen versuche ich, etwas Anspruchsvolles zu tun, mich wirklich einer Aufgabe hinzugeben, die mich fordert und mir zugleich auch Freude macht. Und schließlich kann ich durch die Begegnung mit Freunden mich ein bißchen von dem losheben, was sonst da ist. Diese drei Komponenten sind wichtig.

Ich glaube, jeder ist irgendwann einmal müde und zerstört und ziemlich kraftlos, und verzweifelt und wütend auch über sein anscheinend ganz verbogenes, ungerechtes Schicksal. Probleme in das Gebet einbringen, wie Sie sagten – wie sollte das gehen?

Man muß vielleicht anfangen wie Hiob. Man muß zunächst den lieben Gott meinetwegen auch innerlich anschreien, ganz unverblümt, ihm sagen: Was machst du denn mit mir?! Die Stimme von Hiob bleibt ja eine authentische Stimme, die uns auch sagt, daß wir das dürfen – und vielleicht sogar müssen. Obwohl Hiob wirklich klagend vor Gott gestanden hat, gibt Gott ihm am Schluß recht. Gott sagt, er hat es richtig gemacht, und die anderen, die alles erklärt haben, haben nicht recht von mir gesprochen.
Hiob tritt in ein Ringen ein und breitet seine Anklagen vor ihm aus. Allmählich hört er dann Gott reden, die Dinge wenden sich und rücken in eine andere Perspektive. Ich komme damit aus dem bloßen Zustand des Gefoltertseins heraus und weiß, daß ich zwar die Liebe, die er ist, nicht verstehen kann in diesem Moment, aber daß ich mich doch darauf verlassen kann, daß es so, wie es ist, gut ist.

Vielleicht sollte man einfach strenger mit seinen Problemen umgehen, sie gar nicht erst zulassen.

Probleme gibt’s halt einfach. Gewisse Entscheidungen, Mißerfolg, menschliche Mißverhältnisse, Enttäuschungen, das rührt einen an, und das soll einen auch anrühren. Probleme sollen einen eben auch dazu erziehen, solche Dinge verarbeiten zu können. Wenn man ganz stählern würde, undurchlässig, wäre das ein Verlust an Menschlichkeit und Empfindungsfähigkeit, auch gegenüber den anderen. Der Stoiker Seneca hat gesagt: Mitleid ist etwas Abscheuliches. Wenn wir hingegen Christus sehen, so ist er der Mitleidende, und das macht ihn uns kostbar. Zum Christen gehört auch das Mitleiden, die Verwundbarkeit. Man muß dann lernen, Wunden anzunehmen, mit Verwundungen zu leben und darin schließlich eine tiefere Heilung zu finden.

Viele konnten als Kinder beten, aber irgendwann kam es ihnen abhanden. Muß man es lernen, mit Gott zu sprechen?

Das Organ für Gott kann soweit verkümmern, daß die Worte des Glaubens ganz sinnlos werden. Und wer kein Gehör mehr dafür hat, der kann ja auch nicht reden, weil Taubheit und Stummheit ineinandergehen.
Es ist, als ob man seine eigene Muttersprache erlernen müßte. Langsam lernt man, die Chiffren Gottes aufzulesen, diese Sprache zu reden und Gott, wenn auch immer unzulänglich, zu verstehen. Allmählich wird man dann selber beten und mit Gott reden können, zunächst sehr kindlich – in einem gewissen Sinn werden wir das immer bleiben – , aber dann mehr und mehr mit seinen eigenen Worten.

Sie sagten einmal:
Wenn der Mensch nur dem traut, was seine Augen sehen, ist er eigentlich blind . . .

. . . denn dann beschränkt er seinen Horizont in einer Weise, daß ihm gerade das Wesentliche entgeht. Er sieht ja auch seinen Verstand nicht. Gerade die eigentlich tragenden Dinge sieht er mit dem bloß sinnlichen Auge nicht, und insofern sieht er noch nicht recht, wenn er über das unmittelbare Wahrnehmbare nicht hinausschauen kann.

Jemand sagte mir, den Glauben zu haben, das wäre wie ein Sprung vom Aquarium in einen Ozean. Können Sie sich an Ihr erstes großes Glaubenserlebnis erinnern?

Ich würde sagen, bei mir war das eher ein stilles Wachsen. Natürlich gibt es Höhepunkte, wo einem in der Liturgie, in der Theologie, im ersten Konzipieren von theologischer Einsicht etwas aufgeht, wo es plötzlich weit und tragend wird und nicht mehr bloß übernommen ist. Den großen Sprung, von dem Sie gesprochen haben, einen speziellen Vorgang, könnte ich in meinem Leben nicht identifizieren. Es war eher so, daß man sich langsam aus dem ganz seichten Wasser vorsichtiger ein bißchen weiter hinauswagen darf und langsam etwas von dem Ozean spürt, der auf uns zukommt.
Ich denke auch, daß man den Glauben nie einfach fertig hat. Glaube muß immer wieder im Leiden und im Leben wie auch in den großen Freuden, die Gott uns schenkt, gelebt werden. Er ist nie einfach etwas, was ich wie ein Geldstück einstecken kann.

Ein Bild von Gott

Mein kleiner Sohn fragt mich manchmal: Sag mal Papa, wie sieht Gott eigentlich aus?

Ich würde ihm antworten, man kann sich Gott so vorstellen, wie wir ihn durch Jesus Christus kennen. Christus sagt ja einmal: »Wer mich ansieht, sieht den Vater.«
Und wenn man dann die ganze Geschichte Jesu betrachtet – von der Krippe angefangen, über sein öffentliches Wirken, über die großen und bewegenden Worte, bis hin zum letzten Abendmahl, zum Kreuz, zur Auferstehung und zum Sendungsbefehl – , dann bekommt man etwas von dem Gesicht Gottes zu sehen. Dieses Gesicht ist einerseits ernst und groß. Es geht weit über unser Maß hinaus. Aber in ihm ist im Grunde die Güte, das Annehmen, das uns Gutwollen letztlich der charakteristische Zug.

Heißt es aber nicht auch, wir sollten uns kein Bild von Gott machen?

Dieses Gebot ist insofern umgewandelt, als Gott sich selbst sein Bild gegeben hat. Von Christus sagt der Epheser-Brief: Er ist das Bild Gottes. Und in ihm ist ganz verwirklicht, was in der Schöpfung vom Menschen gesagt wird.
Christus ist das Urbild des Menschen. Wir können damit zwar nicht Gott selbst in seiner ewigen Unendlichkeit darstellen, aber wir können das Bild sehen, in dem er sich selbst dargestellt hat. Von nun an machen wir nicht mehr ein Bild, sondern Gott selbst hat sein Bild gezeigt. Hier schaut und redet er uns an.
Das Bild von Christus ist freilich nicht einfach ein Foto von Gott. In diesem Bild des Gekreuzigten sieht man vielmehr die ganze Biographie Jesu, vor allem seine innere Biographie. Man wird damit in ein Sehen eingeführt, in dem die Sinne sich öffnen und übersteigen.

Wie könnte man Jesus mit wenigen Sätzen charakterisieren?

Hier sind unsere Worte immer überfordert. Grundlegend ist, daß Jesus der Sohn Gottes ist, daß er von Gott und zugleich wahrer Mensch ist. Daß er der ist, in dem nicht nur eine menschliche Genialität oder eine menschliche Heroizität auf uns zukommt, sondern in dem Gott durchscheint. Man kann sagen, in dem aufgerissenen Leib Jesu am Kreuz sehen wir, wie Gott ist, nämlich der, der sich bis zu diesem Punkte für uns aus-gibt.

War Jesus katholisch?

Das kann man so sicher nicht sagen, denn er steht über uns. Es gibt ja heute die umgekehrte Formel, daß man sagt, Jesus war kein Christ, sondern er war ein Jude. Das stimmt auch nur beschränkt. Er war ein Jude seinem Volkstum nach. Er war ein Jude, weil er das Gesetz angenommen und gelebt hat, und er war sogar auch, trotz aller Kritik, ein frommer Jude, der die Tempelordnung eingehalten hat. Und trotzdem hat er das Alte Testament durchbrochen und überschritten – aus der Vollmacht des Sohnes heraus.
Jesus hat sich selbst als den neuen, größeren Mose verstanden, der nun nicht mehr bloß interpretiert, sondern erneuert. Insofern ist er über das Vorhandene hinausgegangen und hat damit Neues geschaffen, nämlich die Ausweitung des Alten Testamentes in die Universalität eines Volkes hinein, das die Erde umspannt und immer weiter wachsen soll. Er ist also der, von dem der Glaube ausgeht, von dem sich die katholische Kirche gewollt weiß, aber der eben doch nicht einfach einer von uns ist.

Wie und wann haben Sie persönlich eigentlich gewußt, was Gott von Ihnen will?

Ich denke, das muß man immer wieder neu lernen. Gott will ja immer auch Weitergehendes. Wenn Sie allerdings auf die Berufsentscheidung anspielen, auf die Grundrichtung, die ich einschlagen sollte und wollte, so war das ein intensiver Reifungsprozeß, der in den Jahren des Studiums zum Teil auch kompliziert gewesen ist. Dieser Weg führte mich über das Zugehen auf die Kirche, über priesterliche Führer und Weggefährten und natürlich über die Heilige Schrift. Es war ein ganzes Knäuel von Beziehungen, das sich dann allmählich geklärt hat.

Sie haben allerdings auch einmal davon gesprochen, daß es bei Ihrer Entscheidung für den Priesterberuf ein »wirkliches Treffen« zwischen Gott und Ihnen gegeben habe. Wie kann man sich denn dieses Treffen zwischen Gott und Kardinal Ratzinger vorstellen?

Jedenfalls nicht so, wie man sich ein Rendezvous zwischen zwei menschlichen Personen vorstellt. Vielleicht kann man es beschreiben als etwas, das einem auf die Haut kommt und sich dann in die Seele einbrennt. Man spürt, daß das nun einfach sein muß, daß es der richtige Weg ist. Es war keine Begegnung im Sinne einer mystischen Erleuchtung. Das ist nicht der Bereich von Erfahrungen, dessen ich mich rühmen dürfte. Aber ich kann sagen, daß das Ganze des Ringens zu einer deutlichen, fordernden Erkenntnis führte, so daß sich mir der Wille Gottes auch inwendig darstellte.

»Gott hat dich zuerst geliebt!«, heißt es in der Lehre Christi. Und er liebt dich ohne Ansehen von Herkunft und Bedeutung. Was bedeutet das?

Man sollte diesen Satz so wörtlich nehmen wie nur irgend möglich, und ich versuche es auch zu tun. Denn er ist wirklich die große Kraft unseres Lebens und die Tröstung, die wir brauchen. Und das ist ja gar nicht so selten.
Er hat mich zuerst geliebt, bevor ich überhaupt selber lieben konnte. Nur weil er mich schon kannte und liebte, bin ich überhaupt geschaffen. Ich bin also nicht durch einen Zufall in die Welt hineingeworfen worden, wie Heidegger sagt, und muß jetzt sehen, wie ich in diesem Ozean herumschwimme, sondern mir geht eine Erkenntnis, eine Idee und eine Liebe voraus. Sie ist auf dem Grund meiner Existenz vorhanden.
Was für jeden Menschen wichtig ist, was seinem Leben erst Wichtigkeit gibt, ist, wenn er weiß, daß er geliebt wird. Gerade wer in einer schwierigen Situation ist, hält durch, wenn er weiß, jemand wartet auf mich, ich bin gewollt und gebraucht. Gott ist zuerst da und liebt mich. Und das ist der verläßliche Grund, auf dem mein Leben steht, und von dem aus ich es selber entwerfen kann.

Krise des Glaubens

Herr Kardinal, der christliche Glaube wird in den meisten Kontinenten der Erde nachgefragt wie noch nie. Alleine in den letzten 50 Jahren hat sich die Zahl der Katholiken weltweit auf über eine Milliarde Menschen verdoppelt. In vielen Ländern der sogenannten Alten Welt allerdings erleben wir eine weitere Säkularisierung. Es scheint, als würden sich große Teile der Gesellschaften in Europa nunmehr gänzlich von ihrem Erbe trennen wollen. Gegner des Glaubens sprechen von einem »Fluch des Christentums«, von dem man sich nun endlich befreien müsse.
Wir haben in unserem ersten Buch Salz der Erde diese Thematik ausführlich behandelt. Viele Menschen sind bereit, den antichristlichen oder antikirchlichen Stereotypen ohne eigene Überlegung zu folgen. Der Grund liegt oftmals einfach darin, daß uns die Inhalte und Zeichen des Glaubens abhanden gekommen sind. Wir wissen nicht mehr, was sie zu bedeuten haben. Hat die Kirche nichts mehr zu sagen?

Wir leben ohne Zweifel in einem Geschichtsraum, wo die Versuchung, es ohne Gott schaffen zu wollen, sehr groß geworden ist. Unsere Technik- und Wohlstands-Kultur beruht auf der Überzeugung, daß im Grunde alles machbar ist. Natürlich verschließt sich, wenn wir so denken, das Leben dann in dem, was von uns gemacht und hergestellt und bewiesen werden kann. Die Gottesfrage tritt somit ab.
Wenn man diese Einstellung verallgemeinert – und die Versuchung ist sehr groß, weil das Ausschauhalten nach Gott tatsächlich das Herausgehen in eine andere Ebene bedeutet, die früher vermutlich leichter zugänglich gewesen ist – , liegt es auf der Hand zu sagen: Was wir nicht selber machen, das gibt es auch nicht.

Inzwischen gibt es genügend Versuche, Ethiken ohne Gott zu bauen.

Sicher, und das Kalkül darin ist, das zu suchen, was der Menschheit angeblich am besten bekommt. Zum anderen haben wir auch Versuche, die innere Erfüllung des Menschen, das Glück, zu einem konstruierbaren Produkt zu machen. Oder aber es gibt das Ausweichen in Religionsformen, die scheinbar ohne Glauben auskommen, esoterische Angebote, die dann häufig nur Glückstechniken sind.
Alle diese Formen, die Welt im Lot halten zu wollen und mit dem eigenen Leben auszukommen, liegen von dem Lebens- und Existenzmuster unserer Gegenwart her sehr nahe. Das Wort der Kirche dagegen kommt scheinbar aus einer Vergangenheit, sei es, daß es lange her ist und nicht mehr unserer Periode zugehört, oder daß es einer ganz anderen Lebensform entstammt, die nicht mehr die gegenwärtige zu sein scheint. Sicher hat die Kirche den Sprung in die Gegenwart noch nicht gänzlich geschafft. Die alten, wirklich gültigen und großen Worte wieder so mit Lebenserfahrung zu füllen, daß sie vernehmbar werden, steht als eine große Aufgabe vor uns. Wir haben da viel zu tun.

Ein an die Esoterik angelehntes Gottesbild gibt die Vorstellung von einem ganz anderen Gott, der sich in neuen Botschaften mehr und mehr von der Lehre der Juden und Christen distanziert. Rabbis und Priester und sogar die Bibel, heißt es hier, seien gar keine Quellen seiner Botschaft. Die Menschen sollten sich statt dessen lieber an den eigenen Gefühlen orientieren. Sie sollten sich endlich von den Zwängen dieser überkommenen, ja albernen Religionen und ihrer machtbesessenen Priesterkasten befreien und wieder ganzheitlich und glücklich werden, eben so, wie sie vom Ursprung her gedacht waren. – Vieles davon klingt sehr verheißungsvoll.

Das entspricht genau unserem Gegenwartsbedürfnis von Religion und auch dem Bedürfnis nach Vereinfachung. Insofern hat es etwas Einleuchtendes, Erfolgversprechendes an sich. Man muß freilich auch fragen: Wer oder was legitimiert diese Botschaft? Ist sie dadurch hinlänglich legitimiert, daß sie uns plausibel erscheint? Genügt die Plausibilität als Kriterium, um eine Botschaft über Gott anzunehmen? Oder kann nicht gerade die Plausibilität eine Verführung sein, die uns schmeichelt? Sie zeigt uns zwar den einfacheren Weg auf, aber sie hindert auch daran, der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen.
Letztlich machen wir damit unsere Gefühle zum Maßstab dafür, wer Gott ist und wie wir leben sollten. Aber Gefühle sind wechselhaft und wir merken dann doch bald selber, daß wir so auf trügerischem Grund bauen. So einleuchtend das auch zunächst scheint – ich begegne darin doch wieder nur menschlichen Ideen, die letzten Endes fragwürdig bleiben. Das Wesentliche des Glaubens aber ist doch, daß ich darin nicht dem Ausgedachten begegne, sondern daß hier etwas auf mich zukommt, das größer ist als das, was wir Menschen uns ausdenken können.

Einwand: Das sagt die Kirche!

Es ist bewährt durch die Geschichte, die daraus gewachsen ist. In ihr hat sich Gott gleichsam immer wieder verifiziert und wird sich auch weiterhin verifizieren. Ich denke, wir werden in diesem Buch noch vieles dazu erfahren.
Letzten Endes reicht es aber für den Menschen eben doch nicht aus, daß uns Gott dieses oder jenes geäußert haben soll, oder daß wir uns dieses und jenes über ihn vorstellen können. Sondern nur dann, wenn er etwas für uns getan hat und ist, dann geschieht das, was wir brauchen und worauf ein Leben stehen kann.
Wir können dabei erkennen, daß es nicht nur Worte über Gott gibt, sondern daß es eine Realität von ihm gibt. Daß nicht nur Menschen etwas erdacht haben, sondern daß etwas passiert ist; passiert in dem wörtlichen Sinn einer Passion. Diese Realität ist größer als alle Worte, auch wenn sie schwerer zugänglich ist.

Für viele ist es freilich nicht nur unglaublich, sondern auch schon eine Anmaßung, eine ungeheure Provokation, zu glauben, daß ein einzelner Mensch, der um das Jahr 30 in Palästina hingerichtet worden ist, der Gesalbte und Erwählte Gottes, eben »Christus«, sein soll. Daß eine einzelne Gestalt die Mitte aller Geschichte ist. Es gibt in Asien hunderte von Theologen, die sagen, Gott sei viel zu groß und umfassend, als daß er sich nur in einer einzelnen Person inkarniert hätte. Und in der Tat, wird der Glaube dadurch nicht auch verkleinert, wenn das Heil der ganzen Welt an einem einzigen Punkt ausgerichtet sein soll?

Diese religiöse Erfahrung in Asien hält Gott einerseits für so unermeßlich und andererseits unser Fassungsvermögen für so begrenzt, daß Gott sich danach nur in einer unendlichen Vielzahl von Spiegelungen immer wieder neu darstellen kann. Christus ist dann vielleicht ein herausgehobenes Symbol Gottes, aber doch eine Spiegelung, die absolut nicht das Ganze faßt.
Scheinbar ist dies ein Ausdruck der Demut des Menschen Gott gegenüber. Man hält es gar nicht für möglich, daß Gott in einen einzelnen Menschen eingehen kann. Und rein vom Menschen aus gedacht könnten wir vielleicht auch nichts anderes erwarten, als daß wir von Gott immer nur irgendeinen Funken, einen kleinen Ausschnitt sehen könnten.

Klingt nicht unvernünftig.

Ja. Vernünftigerweise müßte man in der Tat sagen, Gott ist viel zu groß, um in das Kleinsein eines Menschen einzugehen. Gott ist viel zu groß, als daß eine Idee oder eine Schrift sein Wort umfassen könnte, er kann sich nur in vielfältigen, auch widersprüchlichen Erfahrungen spiegeln. Andererseits würde die Demut zu Hochmut werden, wenn wir Gott die Möglichkeit absprächen, daß er die Freiheit und die Macht der Liebe hat, so klein zu werden.
Der christliche Glaube bringt uns eben den Trost, daß Gott so groß ist, daß er klein werden kann. Und das ist eigentlich für mich erst die unerwartete und vorher auch gar nicht entwerfbare Größe Gottes, daß er auch diese Möglichkeit hat, sich so herunterzubeugen. Daß er wirklich selbst in einen Menschen eingeht, sich in ihn nicht mehr verkleidet, damit er ihn dann wieder ablegen und ein anderes Gewand anziehen kann, sondern daß er dieser Mensch wird. Erst darin sehen wir eigentlich die wahre Unendlichkeit Gottes, denn das ist eben doch gewaltiger, unausdenkbarer und zugleich rettender als alles andere.
Im anderen Fall müßten wir immer auch mit einer Menge von Unwahrheit leben. Die widersprüchlichen Fragmente, die es gibt, legen im Buddhismus wie im Hinduismus tatsächlich die Lösung der negativen Mystik nahe. Aber dann wird Gott eigentlich zur Negation – und hat dieser Welt positiv, konstruktiv letzten Endes auch nichts mehr zu sagen.
Umgekehrt ist genau dieser eine Gott, der die Macht hat, Liebe so zu realisieren, daß er in einem Menschen er selbst ist, daß er da ist und sich uns zu erkennen gibt, daß er Gemeinschaft mit uns aufnimmt, genau das, was wir brauchen, um nicht mit Fragmenten, Halbwahrheiten zu Ende leben zu müssen.
Das bedeutet nicht, daß wir nichts mehr von den andern Religionen lernen könnten. Oder daß der Kanon des Christlichen so fertig zementiert ist, daß wir nicht weitergeführt werden könnten. Das Abenteuer des christlichen Glaubens ist immer wieder neu, und seine Unermeßlichkeit erschließt sich gerade darin, daß wir Gott diese Möglichkeiten zuerkennen.

Ist denn der Glaube im Menschen prinzipiell immer vorhanden?

Soweit die Geschichte der Menschheit bis in die früheste Urgeschichte hinein aus den Ausgrabungen erkennbar ist, kann man feststellen, daß es die Gottesidee immer gegeben hat. Die Marxisten hatten das Ende der Religion vorhergesagt. Man werde mit dem Ende der Unterdrückung die Medizin Gott nicht mehr brauchen, hieß es. Aber auch sie haben erkennen müssen, daß Religion nie aufhört, weil sie wirklich im Menschen selbst vorhanden ist. Dieser innere Sensor funktioniert allerdings nicht mit dem Automatismus eines technischen Geräts, sondern er ist etwas Lebendiges, das entweder mit dem Menschen mitwachsen oder aber auch betäubt werden und beinahe absterben kann. Mit dem inneren Mitvollziehen wird der Sensor immer mehr geschärft, lebendiger und reaktionsintensiver – im anderen Fall wird er stumpf und gleichsam unter einer Anästhesie begraben. Und dennoch, irgendwie bleibt auch im ungläubigen Menschen eine Restfrage da, ob nicht vielleicht doch etwas vorhanden ist. Ohne dieses innerste Organ ist die Menschheitsgeschichte gar nicht verstehbar.

Andererseits gibt es Bibliotheken von Büchern und gewaltige Theorien, die versuchen, diesen Glauben zu widerlegen. Auch der Glaube gegen den Glauben scheint also prinzipiell vorhanden zu sein, ja sogar etwas Missionarisches zu haben. Die größten Menschenexperimente der bisherigen Geschichte, Nationalsozialismus und Kommunismus, waren darauf angelegt, den Glauben an Gott ad absurdum zu führen und aus den Herzen der Menschen herauszureißen. Und das wird nicht der letzte Versuch gewesen sein.

Deswegen ist ja der Glaube an Gott nicht ein Wissen, so wie ich Chemie oder Mathematik erlernen kann, sondern bleibt Glaube. Das heißt er hat durchaus eine rationale Struktur, darauf werden wir noch kommen. Er ist nicht einfach irgendeine dunkle Sache, auf die ich mich einlasse. Er gibt mir Einsicht. Und es gibt einsichtige Gründe genug, ihm anzuhängen. Aber er wird nie zu reinem Wissen. Da der Glaube eben die ganze Existenz einfordert, den Willen, das Lieben, das Sichloslassen, ist in ihm immer auch die Übersteigung des bloßen Wissens, des bloßen Beweisens vonnöten. Und weil das so ist, kann ich auch immer vom Glauben wegleben und Gründe finden, die ihn zu widerlegen scheinen.
Da gibt es, wie Sie selber wissen, ganze Schichten von Gegengründen. Wir müssen uns nur das ungeheure Leid in der Welt ansehen. Allein dieses scheint Gott schon zu widerlegen. Oder nehmen wir diese Kleinheit, die Unscheinbarkeit Gottes. Für denjenigen, dem die Augen des Glaubens aufgegangen sind, ist das gerade seine ganze Größe, aber für den, der den Sprung nicht machen kann oder will, macht es Gott irgendwie widerlegbar. Man kann das Ganze auch in lauter Details auflösen. Man kann die Heilige Schrift, das Neue Testament so zerlesen, daß nur noch lauter Stücke übrigbleiben, daß dann ein gelehrter Herr sagen kann, die Auferstehung ist erst später erfunden worden, alles ist später hinzugefügt worden, nichts von dem hält.
Das alles ist möglich. Gerade auch deshalb, weil Geschichte und Glaube etwas Menschliches ist. Insofern wird der Streit um den Glauben nie aufhören. Dieser Streit ist ja immer auch ein Ringen des Menschen mit sich und ein Ringen mit Gott, das bis in die Morgenröte der endenden Geschichte hinein fortdauern wird.

In der modernen Gesellschaft wird angezweifelt, daß es die eine Wahrheit überhaupt geben könnte. Das schlägt sich auch auf die Kirche nieder, die unbeirrt an diesem Begriff festhält. Sie meinten sogar einmal, die derzeitige tiefgehende Krise des Christentums in Europa beruhe ganz wesentlich auf der Krise seines Wahrheitsanspruches. Warum?

Weil sich niemand mehr zu sagen traut, daß das, was der Glaube sagt, wahr sei. Man fürchtet dann schon, daß man intolerant ist, auch anderen Religionen oder Weltanschauungen gegenüber. Und die Christen untereinander sagen, wir haben Furcht vor der Höhe des Wahrheitsanspruches bekommen. Einerseits ist das irgendwie heilsam. Denn wenn man zu schnell, zu leichtfertig mit dem Wahrheitsanspruch um sich schlägt und zu ruhig und gelassen sich darin niederläßt, kann man nicht nur selbstherrlich werden, sondern auch etwas, das nur zweitrangig und vorläufig ist, zu leicht als Wahrheit etikettieren.
Die Behutsamkeit mit dem Anspruch der Wahrheit ist durchaus angemessen. Sie darf nur nicht dazu führen, daß man diesen Anspruch ganz generell fallen läßt. Denn dann tappen wir halt nur in verschiedenen Traditionsmodellen herum.

Allerdings werden die Grenzen auch wirklich unschärfer. Viele träumen von einer Art Eintopfreligion, allerdings mit ausgewählten Zutaten, die ganz besonders mundgerecht sind. Es gibt zunehmend eine Unterscheidung zwischen »schlechter« und »guter« Religion.

Interessant ist, daß der Begriff Tradition den Begriff Religion und Konfession weitgehend abgelöst hat – und damit eben auch den Wahrheitsbegriff. Die einzelnen Religionen werden als Traditionen angesehen. Sie gelten dann als »ehrwürdig«, als »schön«, und man sagt, wer in der einen Tradition steht, soll die seine achten, der andere die andere und alle sich gegenseitig. Wenn wir allerdings nur noch Traditionen haben, entsteht natürlich auch ein Wahrheitsverlust. Und irgendwann wird man sich fragen, warum eigentlich überhaupt noch Tradition. Und dann ist auch die Rebellion gegen die Tradition begründet.
Mir fällt da immer das Wort von Tertullian ein, der einmal meinte: Christus hat nicht gesagt, ich bin die Gewohnheit, sondern die Wahrheit. Christus sanktioniert eben nicht einfach die Gewohnheit, im Gegenteil, er führt ja gerade aus den Gewohnheiten heraus. Er will den Aufbruch, er fordert uns auf, das zu suchen, was wahr ist, was uns in die Wirklichkeit des Schöpfers, des Erlösers, unseres eigenen Seins hineinbringt. Insofern müssen wir die Behutsamkeit mit dem Wahrheitsanspruch als eine große Verpflichtung ansehen, aber auch den Mut dazu haben, die Wahrheit nicht zu verlieren, uns nach ihr auszustrecken und sie da demütig und dankbar anzunehmen, wo sie uns geschenkt wird.

Vom Zweifel

Sie haben einmal die Geschichte eines jüdischen Rabbis von Martin Buber nacherzählt. In dieser Geschichte wird der Rabbi eines Tages von einem Aufklärer besucht. Der Aufklärer ist ein gelehrter Mann. Er will dem Rabbi beweisen, daß es keine Wahrheit des Glaubens gibt, und daß der Glaube in Wahrheit sogar rückständig, ein Relikt der Vergangenheit sei. Als der Gelehrte die Stube des Rabbis betritt, sieht er ihn mit einem Buch in der Hand sinnierend auf und ab gehen. Der Rabbi achtet nicht auf den Aufklärer. Nach einer Zeit aber bleibt er dann doch stehen, sieht ihn flüchtig an und sagt nur: »Vielleicht ist es aber wahr.« Das genügte. Dem Gelehrten schlotterten die Knie, und er verließ fluchtartig das Haus. – Eine schöne Geschichte, aber dennoch: Immer wieder kehren auch Priester ihrer Kirche den Rücken, Mönche flüchten aus ihren Klöstern. Sie selbst haben einmal von der »bedrängenden Macht des Unglaubens« gesprochen.

Der Glaube ist nie einfach da, so daß ich ab einem bestimmten Zeitpunkt sagen könnte: ich habe ihn, andere haben ihn nicht. Wir sprachen bereits davon. Er ist etwas Lebendiges, das den ganzen Menschen – Verstand, Wille, Gefühl – in allen seinen Dimensionen einbezieht. Er kann zwar dann im Leben immer tiefer einwurzeln, so daß mein Leben mit meinem Glauben mehr und mehr identisch werden kann, aber trotzdem ist er nie einfach ein Besitz. Der Mensch behält immer die Möglichkeit, dieser anderen Tendenz in sich nachzugeben und zu Fall zu kommen.

Der Glaube bleibt ein Weg. Solange wir leben, sind wir unterwegs, und deswegen wird er auch immer wieder bedroht und bedrängt. Und es ist auch heilend, daß er nicht zu einer handhabbaren Ideologie wird. Daß er nicht verhärtet und mich unfähig macht, mit dem fragenden, zweifelnden Bruder mitzudenken und auch mitzuleiden. Glaube kann nur dadurch reifen, daß er in allen Stufen des Lebens die Bedrängung und die Macht des Unglaubens neu erträgt und aufnimmt und sie dann schließlich auch durchschreitet, damit er wieder in einer neuen Zeit begehbar wird.

Wie ist es bei Ihnen? Kennen auch Sie ganz persönlich diese »bedrängende Macht des Unglaubens«?

Natürlich. Gerade wenn man als Professor oder als ein Lehrer des Glaubens in der geistigen Situation unseres Jahrhunderts mitzuglauben versucht, muß man die Fragen an sich heranlassen, die es uns schwermachen. Und dann treten selbstverständlich auch jene Lebensmodelle an einen heran, die uns mit dem Versprechen vorgehalten werden, den Glauben ersetzen oder überflüssig machen zu können. Insofern ist für mich das Annehmen, das innere Bestehen, und das Bedrängtwerden durch all das, was heute gegen den Glauben spricht, ein wesentlicher Teil meiner Aufgabe. Aber auch wenn ich nicht wollte, tritt es an einen heran, durch Informationen, durch das Geschehen, durch alles, was sich einem an Lebenserfahrung auftut. All das macht den Glaubensweg einerseits mühsam. Aber dann, wenn man wieder ins Licht kommt, sieht man auch, daß es eine Bergbesteigung ist, und daß man gerade auf diese Weise auch näher an den Herrn herankommt.

Ist das irgendwann einmal vorbei?

Ganz vorbei ist es nie.

Kann man sich vorstellen, daß auch ein Papst vom Zweifel oder gar vom Unglauben befallen wird?

Vom Unglauben nicht, aber daß auch er unter den Fragen leidet, die das Glauben schwermachen, das sollte man sich schon vorstellen. Mir ist als Kaplan eine kleine Begegnung aus München unvergeßlich geblieben. Mein damaliger Pfarrer Blumscheid war mit dem Pfarrer der benachbarten evangelischen Pfarrei befreundet. Eines Tages kam Romano Guardini zu einem Vortrag, und die beiden Pfarrer konnten mit ihm reden. Ich weiß nicht wie das Gespräch verlaufen ist, aber Blumscheid hat mir dann ganz entgeistert erzählt, Guardini hätte gesagt, es wird, wenn man älter wird, nicht leichter mit dem Glauben, sondern schwerer. Guardini mag damals so zwischen 65 oder 70 Jahre alt gewesen sein. Natürlich, das ist die spezifische Erfahrung eines Menschen, der an sich schwermütig war und viel gelitten hat. Aber, wie gesagt, ganz erledigt ist die Sache nie. Andererseits wird es irgendwo leichter, weil auch die Flamme des Lebens kleiner wird. Aber solange man unterwegs ist, ist man unterwegs.

Weiß denn die katholische Kirche mit absoluter Sicherheit, wie Gott wirklich ist, was er wirklich sagt und auch, was er eigentlich von uns will?

Die katholische Kirche weiß im Glauben das, was Gott uns in der Geschichte der Offenbarung gesagt hat. Natürlich bleibt das Verständnis davon – auch das, das die Kirche davon hat – immer hinter der Größe dessen zurück, was Gott geredet hat. Deshalb gibt es die Entwicklung des Glaubens. Jede Generation kann von ihren Lebenszusammenhängen her neue Dimensionen entdecken, die vorher auch die Kirche nicht gewußt hat. Der Herr selber sagt ja im Johannes-Evangelium voraus: »Der Heilige Geist wird euch führen, in alle Wahrheit hinein, um auch das zu erkennen, was ihr jetzt noch gar nicht ertragen könntet.« Das heißt, es gibt immer einen Überschuß, ein »Voraus« der Offenbarung, nicht nur gegenüber dem, was der einzelne davon begriffen hat, sondern auch gegenüber dem, was die Kirche davon weiß. Dieser Überschuß ist daher für jede Generation ein neues Abenteuer.

Was heißt das?

Es ist nie so, daß man sagen könnte, jetzt wissen wir alles, jetzt ist das Christentum in seiner Erkenntnis abgeschlossen. Weil Gott und das menschliche Leben unergründlich sind, gibt es immer neue Dimensionen. Was der Kirche allerdings gegeben ist, ist eine Sicherheit darüber, was nicht mit dem Evangelium vereinbar ist. Sie hat in ihrem Glaubensbekenntnis und in ihren Dogmen die wesentlichen Erkenntnisse formuliert. Sie sind alle negativ formuliert. Sie sagen einem, wo die Grenze ist, von wo an man abirren würde. Der Innenraum bleibt sozusagen immer offen und weit. Und deswegen kann sie auch für das menschliche Leben die großen Grundrichtungen angeben und sagen, wohin ich sicher nicht gehen darf, wenn ich nicht abstürzen möchte. Es bleibt Aufgabe des einzelnen, die vielfältigen Möglichkeiten auf seinem Weg zu erkennen und auszuschöpfen.

Manche meinen allerdings, das Christentum sei weniger eine praktische Religion, sondern etwas für das Jenseits, also ein Weg, mit dem man Punkte sammeln kann für ein Konto in der anderen Welt.

Richtig ist, daß das Jenseits zur christlichen Lebensperspektive gehört. Wenn man das wegnehmen wollte, dann wird unsere Perspektive zu einem merkwürdigen Fragment, zu einer zerstückelten Sache. Das menschliche Leben wäre grob verstümmelt, wenn man es nur in der Dimension dieser 70 oder 80 Jahre ansieht, die wir leben dürfen. Auf diese Weise entsteht ja diese merkwürdige Habgier nach Leben. Wenn das augenblickliche Leben das einzige ist, das ich überhaupt haben kann, dann muß ich natürlich schauen, daß ich soviel heraushole und zusammenraffe wie nur irgend möglich. Dann kann ich auch auf den anderen keine Rücksicht mehr nehmen.
Das Jenseits gibt mir die Maßstäbe und gibt dem jetzigen Leben den Ernst und das Gewicht, um nicht nur für den Augenblick zu leben, sondern so, daß dieses Leben am Schluß etwas taugt, etwas wert ist – und nicht nur für mich, sondern für das Ganze. Der erhörende Gott nimmt uns die Verantwortung nicht ab, sondern lehrt uns Verantwortung. Er führt uns dazu, daß wir aus dem, was uns aufgegeben ist, verantwortlich leben und damit auch fähig werden, einmal vor ihm zu bestehen.

Christus sagt: »Bittet, so wird euch gegeben werden. Suchet, so werdet ihr finden. Klopfet an, und es wird euch aufgetan werden«. Andererseits: Wenn mein Sohn zum Beispiel vor einer Schulaufgabe steht, bittet er Gott um Hilfe. Aber, ehrlich gesagt, es hilft nicht immer.

Man bittet zum Beispiel um Gesundheit; eine Mutter macht das für ihr Kind, ein Mann für seine Frau; man bittet darum, daß ein Volk nicht in einen großen Irrtum abstürzt – und wir wissen, daß das keineswegs immer erhört wird. Das kann für einen Menschen, bei dem es um Leben und Tod geht, zu einer großen Frage werden. Warum hat er keine Antwort bekommen, oder jedenfalls ganz und gar nicht die Antwort, um die er gebeten hat? Warum schweigt Gott?, wird er sich fragen. Warum zieht er sich zurück? Warum geschieht genau das Gegenteil von dem, was ich wollte?
Diese Distanz zwischen der Verheißung Jesu und dem, was wir in unserem eigenen Leben erfahren, hat alle Generationen, hat jeden einzelnen und hat auch mich immer wieder zum Nachdenken veranlaßt. Jeder muß sich ja auch selber zu einer Antwort durchringen, indem er dann schließlich verstehen lernt, warum Gott gerade so mit ihm geredet hat.

Und welche Antwort gibt es da?

Augustinus und andere Große sagen, Gott gibt uns das, was das Beste für uns ist – auch wenn wir das im voraus nicht erkennen können. Oft halten wir ja genau das Gegenteil von dem, was er tut, für unser Bestes. Man müßte lernen, diesen Weg, der uns von unserer Erfahrung und von unserem Schmerz her so schwerfällt, auch anzunehmen und darin eine Führung zu sehen. Der Weg Gottes ist oftmals ein ungeheurer Weg der Umformung, der Umschmelzung unseres Lebens, in dem wir dann aber auch wirklich geändert und zurechtgebogen werden.
Insofern muß man sagen, dieses »Bittet, ihr werdet empfangen« kann sicher nicht heißen, daß ich einfach für alles, was ich möchte, Gott als Lückenbüßer hereinholen kann, der mir das Leben bequem macht. Oder der mir das Leiden und die Fragen abnehmen würde. Im Gegenteil, es bedeutet, daß Gott mich auf jeden Fall hört und mich in der allein ihm bekannten Weise so erhört, wie es für mich richtig ist.
Um auf den konkreten Fall zurückzukommen: Für Ihren Sohn kann es auch heilsam sein, zu lernen, daß da nicht einfach der liebe Gott einspringt, wenn er seine Vokabeln nicht richtig gelernt hat, sondern daß er sich schon selber einsetzen muß. Es kann manchmal auch heißen, daß ihm die kleine Züchtigung, die in einem Mißerfolg liegt, nicht erspart wird. Denn vielleicht braucht er gerade diese sehr notwendig, um den Weg zu finden, auf dem er gehen sollte. Klagen wie Hiob?

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Fortsetzung folgt!



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