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Kardinal Stanislaw Dziwisz zu: Johannes Paul II. und Fatima und “Russlandweihe”

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Ein Auszug aus dem Buch von Kardinal Stanislaw Dziwisz:
Mein Leben mit dem Papst – Johannes Paul II. wie er wirklich war:

Der Fall der Mauer

Jetzt kommen wir in „das unglaubliche Jahr 1989″.

Johannes Paul II. hatte sich das nicht erwartet. Ja, ge­wiss, er war der Auffassung, dass jenes „System” früher oder später zum Scheitern verurteilt sein würde, da es sozial ungerecht und ökonomisch nicht effizient war. Doch die Sowjetunion war immer noch eine geopoliti­sche, mit Atomwaffen ausgerüstete Weltmacht. Da der Heilige Vater sich nicht als Prophet sah, wie er im Scherz zu sagen pflegte, erwartete er nicht, dass es zu einem so schnellen Zusammenbruch des Kommunismus kommen würde. Vor allem hatte er nicht damit gerech­net, dass die Befreiung in so kurzer Zeit ohne Blutver­gießen erfolgen könnte.

Was am meisten überraschte, war die Art und Weise, wie sich alles vollzog. Abgesehen von den Vorgängen in Rumänien – dort allerdings wegen einer internen Begleichung von Rechnungen an der Macht befindlicher kommunisti­scher Gruppen – handelte es sich um eine friedliche Revo­lution. Sie brach fast gleichzeitig in allen Hauptstädten des Ostblocks aus: in Ost-Berlin, Budapest, Warschau, Prag, Sofia, Bukarest und in gewissem Maße auch in Mos­kau.

Es schien also sehr unwahrscheinlich – im Gegensatz zur oberflächlichen Deutung, die damals jemand glaubhaft zu machen versuchte -, dass der „neue” Kreml des Michail Gorbatschow jenseits seiner unbestrittenen Verdienste diese Wende gelenkt und auf die Gleise der Gewaltlosig­keit, eines Übergangs ohne Blutvergießen geführt hat. Ur­sächlich war hingegen der Druck seitens der Volksmassen, die vom nicht unterdrückbaren Freiheitsdurst motiviert waren. Sie hatten mittlerweile jede Hoffnung auf diejeni­gen aufgegeben, die das Paradies auf Erden versprochen hatten.

Der Heilige Vater betrachtete sie als eine der größten Revolutionen der Geschichte. Da er sie in der Dimension des Glaubens interpretierte, sah er sie als ein Eingreifen Gottes, als eine Gnade. Für ihn stand der Zusammen­bruch des Kommunismus und die Befreiung der Natio­nen vom Joch des marxistischen Totalitarismus zwei­felsfrei im Zusammenhang mit den Offenbarungen von Fatima. Die Welt und in besonderer Weise Russland soll­ten der Gottesmutter anvertraut werden, worum sie selbst den Papst und die Kirche gebeten hatte: „Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Russland sich bekehren, und es wird Friede sein; wenn nicht, dann wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten …”, so hieß es in den ersten beiden Teilen der Offenbarungen. Deshalb hatte Johannes Paul II. am 25. März 1984 auf dem Petersplatz vor der Statue der Gottesmutter, die eigens von Fatima gebracht worden war, geistlich ver­eint mit allen Bischöfen der Welt, den Akt der Weihe an Maria vollzogen, ohne Russland ausdrücklich zu nen­nen, aber deutlich auf jene Nationen anspielend, die „dessen in besonderer Weise bedürfen”.

Auf diesem Wege war der Wunsch der Gottesmutter erfüllt worden. Von dem Zeitpunkt an waren die ersten Auflösungserscheinungen in der kommunistischen Welt festzustellen.

Das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die vie­ler Bischöfe aus den Ländern des Ostens.

Man muss die Zeichen der Zeit zu deuten verstehen.

Tatsächlich ist der Untergang des Kommunismus auf das Scheitern seiner politischen und ideologischen Konzeption, seines Sozialsystems und vor allem seiner Planwirtschaft zurückzuführen. Aber es ist gleichwohl wahr, dass es sich noch vorher – wie Karol Wojtyta das in seiner Enzyklika Centesimus annus schrieb – um ein Scheitern geistlichen Ranges handelte. Es war auf die dem Himmel trotzende Annahme zurückzuführen, eine neue Welt und einen neuen Menschen schaffen zu können, indem man Gott in dieser Welt und im Gewissen des Menschen auslöschte.

Eine erste aufsehenerregende Bestätigung erfolgte nicht ein­mal einen Monat nach dem Fall der Mauer. 70 Jahre nach der Oktoberrevolution kam zum ersten Mal ein Präsident und zugleich Parteisekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion in den Vatikan. Begleitet war er – eine leichte Ironie der Geschichte – nicht von Kosaken, die ihre Pferde an den Brunnen des Petersplatzes hätten tränken müssen, son­dern von der Bürde einer ideologischen Niederlage.

Es war das Ende eines langen dramatischen Konflikts zwi­schen der größten religiösen Institution der Welt und der größten Versuchung, die es in der gesamten Geschichte ge­geben hat, den Menschen das atheistische „Credo” aufzu­zwingen.

Mehr oder weniger vollzog sich die allererste Begegnung zwischen dem Papst und Gorbatschow, während sie einen langen Händedruck austauschten, in folgender Weise:

Johannes Paul: „Willkommen. Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen.” (in russischer Sprache)

Gorbatschow: „Aber wir hatten bereits mehrfach Kontakt …” (er bezog sich auf seinen Briefwechsel mit dem Papst) Johannes Paul II.: „Ja, ja, auf dem Papier. Aber wir müssen noch miteinander sprechen.” (Da er nicht die Worte fand, sprach er auf Italienisch, und der Dolmetscher übersetzte.) An dem Punkt traten sie in die Privatbibliothek und setz­ten sich an den Schreibtisch einander gegenüber.

Johannes Paul: „Herr Präsident, ich habe diese Begegnung durch Gebet vorbereitet …”

Die Antwort von Gorbatschow darauf teilte der Papst weni­ge Wochen später in einem Flugzeug im Gespräch Journa­listen mit: „Mein Gesprächspartner war sehr angetan hin­sichtlich des Gebetes des Papstes. Er sagte mir, das Gebet sei sicherlich ein Zeichen der Ordnung, der geistlichen Werte und dass wir solche Werte sehr brauchen …”

Dadurch wird verständlich, weshalb das eine historische Begegnung war, eines der großen Zeichen des Wandels der Geschichte. Gorbatschow unterstützte nicht nur die Bedeutung der geistlichen Dimension in der menschli­chen Person und ihres positiven Einflusses auf das zivi­le Leben, sondern zeigte sich in besonderer Weise an den päpstlichen Dokumenten bezüglich der Soziallehre der Kirche interessiert.

Der Präsident der Sowjetunion bekräftigte im Bezug auf die Situation in seinem Land mit voller Überzeugung, dass man nicht so weitermachen könne wie bisher. Nach meinem Eindruck dachte Gorbatschow jedoch in diesem Augenblick nicht an tiefgreifende Veränderungen, wie sie sich dann in der ehemaligen UdSSR vollzogen. Er meinte eher äußerliche Änderungen im Bezug auf Transparenz und Freiheit, die der Perestrojka eigen waren, mit anderen Worten: ein Kommunismus mit menschlichem Antlitz. Aber er dachte nicht daran, den Marxismus von innen her zu verändern …

Wenn der Besuch des Führers der Sowjetunion im Vatikan schon seine Bedeutung an sich hatte, so waren gleichzei­tig seine Worte von Bedeutung: „All das, was in Osteuropa in diesen letzten Jahren geschehen ist, wäre nicht möglich gewesen ohne die Präsenz dieses Papstes, ohne die große Rolle, die er auch in politischer Hinsicht auf der Weltbüh­ne zu spielen wusste.”

Das war eine ausdrückliche Anerkennung für Johannes Paul II. Doch ohne daran zu denken oder vielleicht ohne es eingestehen zu wollen, war das auch eine Anerken­nung für die Kirchen (nicht nur die katholische), die mit ihrem Schmerz, mit ihrem Martyrium und dann mit ihrem Widerstand gegen den Staatsatheismus die Hoff­nung von Millionen von Männern und Frauen genährt hatten, wieder die Freiheit zurückzuerlangen.

Indem der Papst dem Weg folgte, der von ganzen Völkern beschritten worden war, machte er sich ideell auf den glei­chen „Pilgerweg zur Freiheit”. Zunächst reiste er in die Tschechoslowakei, das kommunistische Land, das wahr­scheinlich hinsichtlich der christlichen Botschaft am ver­schlossensten war und Johannes Paul II. gegenüber am feindlichsten gesinnt war.

Präsident Vaclav Havel konnte bei der Begrüßung des Hei­ligen Vaters die außerordentliche historische Bedeutung dieses Besuches nicht besser zum Ausdruck bringen, als er von einem „Wunder” sprach. Sechs Monate vorher befand sich Havel, der als Staatsfeind verhaftet worden war, noch im Gefängnis. Jetzt hingegen richtete er seinen Willkom­mensgruß an den ersten slawischen Papst, an den ersten Papst, der seinen Fuß auf den Boden dieses Landes setzte. Diese „Wunder”, so könnte man sagen, hatte ebenfalls im Petersdom begonnen, als Agnes von Böhmen am 12. November des Vorjahres heiliggesprochen wurde. Zu dem Anlass waren aus der Heimat und dem Ausland mindestens 10.000 Tschechoslowaken angereist. Sie ent­deckten, dass sie vereint stark waren und keine Angst mehr hatten. Der Papst sagte ihnen: „Eure Pilgerreise darf heute nicht enden. Sie muss weitergehen …” Und diese Pilgerreise ging weiter, bis sie in die „Samtene Re­volution” einmündete in den zehn Tagen, die die tsche­choslowakische Geschichte veränderten. Das war fast wie ein zweiter „Prager Frühling”.

Das Diktat von Jalta war aufgehoben, Europa nicht mehr zweigeteilt. Den Eisernen Vorhang gab es nicht mehr. Auch der Kalte Krieg war beendet. Indes aber kamen die immensen Schäden ans Licht, die durch so viele Jahre Marxismus verursacht worden waren.

Es war wirklich eine „menschliche Katastrophe”, wie ge­sagt wurde. Die Menschen, die einen so langen Winter des Totalitarismus überstanden hatten, schienen fast unfähig, sich bewusst zu werden, dass sie endlich frei waren. Wäh­rend im Osten das schwer lastende „Erbe” des Kommunis­mus fortdauerte, kam vom Westen her das „Modell” einer säkularisierten’ Gesellschaft, die vom Konsumismus, vor allem aber von einem praktischen Materialismus verseucht war, der eine Tabula rasa für die Werte des Men­schen und des Lebens geschaffen hatte.

Als Johannes Paul II. im Juni 1991 nach Polen zurück­kehrte, konnte er endlich den Übergang vom Totalitaris­mus zur Demokratie begrüßen. Zur gleichen Zeit musste er erfahren, wie schwer es für diejenigen war, die lange Zeit der Freiheit beraubt gewesen waren, jetzt vernünftigen Gebrauch davon zu machen. Im Übrigen hatte, wie sein Nachfolger in Krakau, Kardinal Franciszek Macharski, bemerkte, auch die Kirche zu „lernen”, ihre eigene Sen­dung zu erfüllen und sich dabei nicht mehr täglich mit einem diktatorischen Regime auseinandersetzen zu müs­sen, sondern in einer Situation der Freiheit und des kultu­rellen und politischen Pluralismus zu leben.

Als Thema für seine Predigten wählte der Heilige Vater den Dekalog und das Gebot der Liebe, das heißt, geistli­che Erneuerung als unabdingbare Voraussetzung für jede Veränderung, für jedes soziale Engagement. Die moralische Dimension als Fundament jeder Demokratie. Am Schluss sagte er vertraulich im Gespräch: „Nicht von allen sind diese Ansprachen gut aufgenommen worden.” Was aber den Papst am meisten schmerzte, geschah zwei Jahre später, als die ehemaligen Kommunisten in Polen die Wahlen gewannen. Nachdem die Menschen die Freiheit wiedererlangt hatten, hatten sie – demokra­tisch – die marxistische Linke gewählt. Diese Wahl war keine Option für den Marxismus, sondern eine kritische Haltung gegenüber dem kapitalistischen Regime und der freien Markwirtschaft. Viele Menschen, die auf die­ses neue Lebenssystem nicht vorbereitet waren, hatten darunter gelitten und große Opfer auf sich nehmen müs­sen. So hatten vor allem sehr unbedarfte Leute begon­nen zu sagen, es sei ihnen vorher besser gegangen.

Ja, fast alle ehemaligen kommunistischen Länder durch­lebten eine schwierige Zeit. Sie war unvermeidlich schwer, da es eine Phase des Übergangs und der Neuordnung war. Doch das war eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen durfte. Es war eine einzigartige Chance, den Lauf der Geschichte und die Beziehungen zwischen den Natio­nen zu verändern und endlich die schlimmen Kapitel zu beenden, die von zwei totalitären Systemen geschrieben worden waren, die nacheinander versucht hatten, die Frei­heit und den christlichen Geist Europas abzuwürgen.

Es konnte deshalb kein symbolkräftigeres Bild geben als die Anwesenheit von Johannes Paul II. und Bundeskanzler Kohl am 23. Juni 1996 am Brandenburger Tor in Berlin. Ein Tor – daran erinnerte der Papst -, das von zwei deut­schen Diktaturen „besetzt” worden war, zuerst von den Nazis und dann von den Kommunisten, die es sogar in eine Mauer „umgewandelt” hatten. Aber jetzt war es „Zeugnis der Tatsache, dass die Menschen sich vom Joch der Unterdrückung befreit haben, indem sie es zerbrochen haben …”

Der Heilige Vater erlebte diesen Moment mit tiefer inne­rer Bewegung, mit starker Leidenschaft. Doch er be­merkte auch – ich muss sagen mit ein wenig Bitterkeit -, dass viele Menschen in Europa nicht verstanden, was es bedeutete, dass ein Papst durch dieses Denkmal schritt, das an den Triumph Hitlers erinnerte – und dies nicht, weil er Wojtyla war, sondern weil er ein Papst war! Dann die Bedeutung der Seligsprechungen der Opfer der Vernichtungslager gerade in dem Stadion, wo in Anwesenheit Hitlers die Olympischen Spiele abgehalten worden waren.

Dieses Durchschreiten des Brandenburger Tores bedeu­tete für Johannes Paul II. das Ende, das definitive Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Feierlichkeiten in jenem Stadion waren die sichtbare Besiegelung des Sieges Got­tes in der fürchterlichen Schlacht gegen das Böse.

Doch der Kapitalismus hat nicht gesiegt!

Seit dem Fall der Mauer war kaum ein halbes Jahr vergan­gen, als der Papst in Mexiko in einer Ansprache vor Unter­nehmern den Wandel in Mittel- und Osteuropa kommen­tierte. Er sagte, auch wenn der „reale Sozialismus” am Ende sei, das sei nicht der Sieg des kapitalistischen Systems. In der Welt sei die Armut geblieben, wie sie vorher war, und es gebe weiter die gleichen schlimmen Missstände in der Ver­teilung der Ressourcen. Das sei vor allem in der Dritten Welt auch eine Folge der Auswirkungen, die durch eine bestimm­te Art des ungezügelten Liberalismus hervorgerufen wür­den, der sich um das Gemeinwohl nicht kümmere.
Das war eine mutige, aber zu der Zeit, als noch manches unklar war, eine einwandfreie Analyse. Im Westen gab es jedoch Kommentatoren, die diese Rede als „skandalös” bezeichneten. Jemand ging so weit und schrieb Johannes Paul IL eine gewisse „Nostalgie” nach dem Kommunismus zu.

Sie verstanden nicht, oder sehr viel wahrscheinlicher: Sie wollten nicht verstehen. Der Heilige Vater hatte die Geschichte in theologischen und moralischen Begriffen interpretiert, nicht in politischen und wirtschaftlichen. Deshalb war er von seiner Warte aus in der Lage gewe­sen, intuitiv zu verstehen, dass man nach dem Scheitern des Marxismus auf keinen Fall eine neue Sozialordnung ausschließlich auf einem System aufbauen könne, das den Menschen als Instrument betrachtet, als einfaches Rädchen im Getriebe der Produktionsmaschine.

Es war also vor allem notwendig, das Personsein des arbeitenden Menschen neu ins Blickfeld zu rücken. Erst dann kann man an ein auf Solidarität und Mitbestim­mung basierendes Modell wirtschaftlicher Entwicklung denken. Solange nämlich die Arbeiter nicht an den Ent­scheidungen und an der Verteilung der Gewinne des Unternehmens teilhaben, wird es nie sozialen Frieden geben und auch keinen echten nationalen Fortschritt.

Tatsache ist jedoch, dass Johannes Paul H. in den ersten zehn Jahren seines Pontifikats als eingefleischter Anti­kommunist eingeschätzt wurde, während man ihn jetzt als Antikapitalisten, ja als kommunistenfreundlich hinstellte. Das könnte ein Grund dafür sein, weshalb eine demagogi­sche oder zumindest irrige Interpretation seiner Sozialleh­re und, allgemeiner gesehen, seines Humanismus lange Bestand hatte.

Nicht zuletzt dank seiner Erfahrungen in Polen und sei­ner philosophischen Überlegungen hatte Karol Wojtyla in das päpstliche Lehramt ein Verständnis vom Men­schen und der Geschichte hineingetragen, das sich nicht irgendeinem kulturellen oder politischen System ver­dankte. Tatsächlich hatte er positive Aspekte sowohl im Marxismus wie auch im Kapitalismus anerkannt, aber er hatte auch deren gravierende Mängel aufgezeigt. In beiden Systemen war, unabhängig von der Tatsache, ob die Produktionsmittel kollektiviert sind oder sich in pri­vater Hand befinden, nie vorgesehen, dass in den wirt­schaftlichen und Politischen Prozessen der Mensch im Mittelpunkt stehen sollte.

Unterm Strich war Wojtyla kein parteiischer Mensch. Um es ganz frank und frei zusagen, er war weder ein Mann Moskaus noch Washingtons. Er war ein Mann Gottes, immer offen für alle. Er war ein freier Mann und hat sich durch politische Entscheidungen nie vereinnah­men lassen.

Genau das wäre der Ausgangspunkt, um den tiefen Sinn dessen zu verstehen, was das „politische” Profil dieses Pontifikats ausmachte. „Politisch” in dem Sinne verstanden, wie Johannes Paul II. die Soziallehre der Kirche inter­pretierte und aktualisierte, indem er zur Beschreibung sozioökonomischer Phänomene moralische Kategorien heranzog.

Auf diese Weise, wie es der Heilige Vater vor allem in seiner Enzyklika Centesimus Annus tat, gelang es ihm, ein Gesellschaftsmodell aufzuzeigen, in dem es möglich ist, Gerechtigkeit und Solidarität, Rechte und Pflichten der Personen, Ethik sowie soziales und politisches Enga­gement miteinander zu verbinden.

All das jedoch, ohne sich je in die technischen Entschei­dungen einzumischen, in die Art und Weise, wie das dann realisiert wird, in welcher Weise es gemacht wird. Sonst würde nämlich die Kirche ihr eigenes Terrain überschreiten, das in ihrer pastoralen Sendung und einer kritischen Reflexion der „Konformität” sozialer Prozesse mit den vom Schöpfer vorgezeichneten Spuren besteht.

Nicht umsonst sagte Papst Wojtyla einmal, die Kirche dürfe sich von keiner Ideologie oder politischen Strömung das „Banner der Gerechtigkeit” abnehmen lassen. Sie ist eine der ersten Forderungen, die vom Evangelium erhoben werden, und bildet den Kern der kirchlichen Soziallehre. Der Diskurs über die Gerechtigkeit öffnet konsequenter­weise das Gespräch über die Rechte, die Rechte jedes Men­schen, der in seiner Würde und Freiheit geschützt und ver­teidigt werden muss. Aber es geht auch um die Rechte jedes Volkes, das als Nation in seiner Souveränität und Unabhängigkeit zu respektieren ist, wenngleich es sich in den Kreislauf der Solidarität mit allen anderen Völkern, die die Weltgemeinschaft bilden, eingliedern muss.

Hier machte sich Johannes Paul II. – als „natürlich christliches” Ideal – jene menschlichen Grundwerte wie­der zu eigen, die lange Zeit ausschließlich von der Auf­klärung und der Französischen Revolution beansprucht worden waren. Auf diese Weise wurden die Menschen­rechte wieder zum festen Bestandteil der christlichen Lehre und fanden ihr einheitliches ethisches Funda­ment wieder, das ihre Unteilbarkeit und Universalität untermauert und verbürgt.

Das war nicht mit der Absicht verbunden, die Distanzie­rung von der Welt wiederherzustellen, sondern im Gegenteil, um dem Menschen zu dienen und ihn in sei­nen Grundrechten zu unterstützen, beim Recht auf Leben angefangen.

Bei dem Thema muss man unbedingt auf einen Aspekt hinweisen, der vielleicht weniger verstanden worden ist, aber hinsichtlich des Pontifikats von Johannes Paul II. sicher am meisten diskutiert und kritisiert wurde. Damit meine ich das Verständnis von Kirche als „soziale Kraft” beziehungsweise, dass die Kirche, die in der Gesellschaft im Dienste des Gemeinwohls wirkt, ein Element sozialer Erneuerung von großer Tragweite darstellen kann. Dies ist ihr möglich allein aufgrund ihrer Sendung, der Inkarnation des Evangeliums, als Zeugnis der Botschaft Christi. Dabei geht es nicht darum, die Gesellschaft zu­rückzuerobern, sie zu unterwerfen und so die Unterschie­de zu verwischen, die sich mittlerweile für immer in der Rollenverteilung zwischen Kirche und Staat herausgebil­det haben.

Ich möchte daran erinnern, dass mehr oder weniger alle Systeme, nicht nur die totalitären, immer wieder den Versuch unternommen haben, die Religion auszugren­zen, zumindest sie in die Kirchenräume zu verbannen oder für politische Ziele zu instrumentalisieren. Ich möchte ferner daran erinnern, dass über lange Zeit nicht nur im sogenannten Sowjetreich die öffentlichen Plätze ausschließlich der Linken, ja dem Kommunismus gehör­ten. Und Worte, die man aus dem Munde Jesu gehört hatte, christliche Worte wie „Frieden” waren absolutes Privileg bestimmter Bewegungen und Parteien gewor­den.

Nun, Johannes Paul II. hat sich all dem widersetzt. Er hat Nein gesagt! Und er ist auf die Straßen und Plätze gegangen, um diese „Räume” nicht den anderen zu überlassen.

Die Kirche ist da, wo der Mensch ist. Sie versucht Beglei­ter zu sein auf dem Weg des Menschen und der Gesell­schaft, aber immer mit der moralischen Ebene als Aus­gangspunkt. Sie darf nie direkt Politik betreiben! Das moralische Urteil hingegen ist eine vollständig legitime Pflicht der Kirche, auch im sozialen und politischen Bereich. Es sind dann die gläubigen Laien, die sich im öffentlichen Leben, in besonderer Weise in der Politik engagieren sollen.

Es kommt an diesem Punkt eine große Rede von Johannes Paul II. in Erinnerung die – leider – nie ausreichend gewürdigt worden ist. Es handelt sich um die Ansprache, die er im Oktober 1988 vor dem Europaparlament in Straßburg hielt, als er jede Versuchung einer Rückkehr zum früheren religiösen Integralismus auslöschte. Er ge­stand ein, dass die Grenze zwischen dem, was Gott gehört, und dem, was des Kaisers ist, zu oft überschritten worden ist, auch von christlicher Seite.

Aber da gibt es vor allem einen Passus, den neu zu lesen sich lohnt. Er hilft nämlich, das Konzept vom Laien, das Wojtyla hatte, besser zu verstehen und damit die Unter­scheidung die für ihn zwischen dem zeitlichen und dem geistlichen Bereich existieren muss. So wie man besser die Art und Weise verstehen wird, wie dieser Papst, der das alte Modell der Kirche, das von rigiden Abschottungen geprägt war, überwunden hat und dafür ein anderes hat sichtbar werden lassen, das in der Lage ist, den Heraus­forderungen der Moderne und einer pluralistischen Gesell­schaft zu begegnen und sie deshalb anzunehmen.

„Die lateinische Christenheit des Mittelalters – um nur sie zu erwähnen – ist der integralistischen Versuchung nicht immer entgangen, aus der irdischen Gesellschaft diejeni­gen auszuschließen, die nicht den wahren Glauben be­kannten – und dies, obwohl die lateinische Christenheit der damaligen Zeit unter Wiederaufnahme der großen aristotelischen Tradition die Idee vom Staat als natürliche Größe entwickelt hatte. Der religiöse Integralismus ohne Unterscheidung zwischen dem Bereich des Glaubens und dem des bürgerlichen Lebens, der heute noch in anderen Gegenden praktiziert wird, erscheint mit dem eigentlichen Genius Europas, so, wie ihn die christliche Botschaft ge­formt hat, unvereinbar.”

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Quelle: Buch: Stanislaw Dziwisz: Mein Leben mit dem Papst – Johannes Paul II. wie er wirklich war – ISBN 978-3-7462-2346-9 – St. Benno-Verlag GmbH: www.st-benno.de



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