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KARDINAL SARAH: »GOTT ODER NICHTS« (4)

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(Fortsetzung zum 3. Beitrag)

IV

AUF DER SUCHE NACH
DER KIRCHE

»Denn wenn ich dich, meinen Gott, suche, suche ich
das glückselige Leben. Ich will dich suchen, auf dass
meine Seele lebe. Denn mein Leib lebt durch meine
Seele und meine Seele lebt durch dich.«

Heiliger Augustinus, Bekenntnisse

NICOLAS DIAT: Am Ende seines Pontifikats wollte Benedikt XVI. im Jahr 2012 unbedingt den 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils feiern. Warum gibt es noch heute so viel Zwietracht rund um das letzte Konzil?

KARDINAL ROBERT SARAH: Im Hinblick auf das Zweite Vatikanische Konzil werden wir Benedikt XVI. für seine Aus­legungsarbeit und für seine authentische Wiedergabe des Wil­lens der Konzilsväter niemals genug danken können. Wenn ich mich auf seine Analyse berufe, erkennen wir, wie wenig das Anliegen des Konzils vollständig umgesetzt wurde.

Joseph Ratzinger hat genau verstanden, dass Johannes XXIII. zunächst auf eine Herausforderung reagieren wollte, die für die moderne Welt von größter Bedeutung ist: auf die Annahme Gottes, wie er in Jesus Christus in Erscheinung ge­treten ist. Dies sind die Worte von Papst Johannes bei der Er­öffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils: »Die schwersten Sorgen und Fragen, die der Menschheit zur Lösung aufgege­ben sind, haben sich nach fast zweitausend Jahren nicht ver­ändert. Denn Christus Jesus ist immer noch die Mitte der Ge­schichte und des Lebens. Und die Menschen hängen entweder Ihm und seiner Kirche an, dann haben sie Licht, Güte und die Früchte rechter Ordnung und des Friedens oder sie leben ohne Ihn, ja handeln Ihm entgegen und verweilen bewusst außerhalb der Kirche, dann herrscht bei ihnen Verwirrung, sie verbittern die Beziehungen untereinander und beschwö­ren mörderische Kriege herauf.«

Seit der Eröffnung des Zweiten Vatikanums hatte der Papst – obwohl er das aggiornamento, die Erneuerung der Kirche und die Einheit der Christen anstrebte – nachdrücklich her­vorgehoben, dass die wesentlichste Aufgabe des Konzils darin bestand, Gott der Welt zu offenbaren und die Lehre der Kir­che zu verteidigen und zu fördern. Bei aller Freude über die bewundernswerten Erfindungen des menschlichen Genies und der Fortschritte der Wissenschaft und der Technik sollte die Kirche daher die Menschen daran erinnern, dass es über den sichtbaren Teil der Dinge hinaus entscheidend bleibe, sich Gott zuzuwenden. Für Johannes XXIII. war das Konzil zunächst eine Begegnung mit Gott im Gebet sowie mit Maria, wie bei den Aposteln beim letzten Abendmahl am Vorabend des Pfingstfestes.

Wie der Heilige Vater es in dieser Eröffnungsrede ankün­digte, wollte er zudem untersuchen, welcher Platz in den Herzen der Menschen noch Gott vorbehalten war und es sollte »genau und ausgiebig erforscht« werden, »in welchem Anse­hen heute der Glaube, das religiöse Leben und die Kraft des christlichen, vor allem des katholischen Volkes stehen«.

Am Ende des Konzils erklärte auch Paul VI. am 7. Dezem­ber 1965: »Das ganze Konzil kann letztlich in seiner religiö­sen Bedeutung zusammengefasst werden, die keine andere als eine dringende und freundliche Aufforderung an die Mensch­heit ist, durch den Weg der brüderlichen Liebe den Gott wie­derzufinden, von dem man sagen konnte: Sich von Gott zu entfernen, heißt sterben. Sich ihm zuzuwenden, heißt aufer­stehen. In ihm zu bleiben, heißt unerschütterlich zu sein. Zu ihm zurückzukehren, heißt wiedergeboren zu werden. In ihm zu wohnen, heißt leben.«

Gott stand also bei jeder Überlegung des Konzils an ers­ter Stelle. Diese Sicht des Konzils stand weiterhin im Zent­rum des Wirkens von Benedikt XVI. bis in die letzten Tage seines Pontifikats. Am 14. Februar 2013 hielt er vor dem rö­mischen Klerus eine »lectio divina«, die zu den grundlegen­den Texten seines theologischen und pastoralen Erbes gehört. Er unterscheidet darin das wahre Konzil der Väter von dem der Journalisten und der Medien. Doch was bedeutet es, das Konzil in die Tat umzusetzen, wenn nicht zu zeigen, dass die Hauptsorge der Kirche es war, Gott in den Herzen der Men­schen und der Gesellschaft erneut den Vorrang zu geben? Die erste Enzyklika von Benedikt, Deus caritas est, drückt sich nicht anders aus.

Angesichts der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise schrieb Benedikt XVI. übrigens in Caritas in veritate, seiner zweiten Enzyklika: »Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wo­hin er gehen soll, und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist.« Es ist der Mensch, und nicht nur die Wirtschaft, die in der Krise ist. Die soziale Frage ist zu einer grundlegend anth­ropologischen Frage geworden; sie berührt zudem die ernste Frage nach der »Gottesfinsternis«.

Um uns bei der Erkenntnis zu helfen, dass im Mittelpunkt der Konzilstexte alles auf Gott hin zentriert und ausgerichtet war, regte uns Benedikt XVI. dazu an, unsere Aufmerksam­keit auf ihren Entstehungsprozess zu richten. Seiner Auffas­sung nach besitzt die Architektur dieser Texte eine im We­sentlichen theozentrische Orientierung. Beginnen wir mit der Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Con­cilium. Die Tatsache, dass sie der erste Text war, der veröf­fentlicht wurde, weist darauf hin, dass es dogmatische und pastorale Motive von erstrangiger Bedeutung gab. Vor allen anderen Dingen gibt es in der Kirche die Anbetung; und folglich Gott. Dieser Anfang antwortet, so sagt Benedikt XVI., auf das erste und wichtigste Anliegen der Regel des heiligen Be­nedikt: »Nihil operi Dei praeponatur«, »Nichts darf dem Got­tesdienst vorgezogen werden«. Doch wenn es eine Realität gibt, die allzu oft unbeachtet gelassen wird, dann ist es wohl der konsubstanzielle Bezug zwischen der Liturgie und Gott. Das Fundament der Liturgie muss die Suche nach Gott blei­ben. Wir können nur bestürzt sein angesichts der Tatsache, dass dieser Wille der Päpste Johannes XXIII. und Paul VI., wie auch der Wille der Konzilsväter, zu oft unter den Teppich ge­kehrt und, schlimmer noch, verraten wurde …

Gilt das Gleiche auch für die folgenden Texte?

Ja, denn die Dogmatische Konstitution über die Kirche, der zweite Konzilstext, beginnt mit diesen Worten: »Lumen gen­tium cum sit Christus«, »Weil Christus das Licht der Völker ist«. Der erste Satz der Konstitution hebt deutlich eine theo­logische Sicht der Kirche hervor. Benedikt XVI. wollte immer vor Augen führen, dass das Herzstück der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils eine grundlegend theologi­sche Ekklesiologie ist.

In einem Redebeitrag über die Ekklesiologie der Konstitu­tion Lumen Gentium bei dem Internationalen Kongress über die Umsetzung des ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils, der von der Kommission für das Jubiläumsjahr 2000 organisiert worden war, sagte Ratzinger, indem er eine 1993 von Pater Johann Baptist Metz gehaltene Rede zitierte: »Die Krise, die das europäische Christentum befallen hat, ist nicht mehr primär oder gar ausschließlich eine Kirchenkrise … Die Krise sitzt tiefer: Sie ist keineswegs nur im Zustand der Kir­chen selbst begründet: Die Krise ist zur Gotteskrise gewor­den.« Joseph Ratzinger erinnerte daran, dass das Zweite Va­tikanische Konzil nicht nur ein ekklesiologisches Konzil war, sondern vielmehr ein Diskurs über Gott, und das nicht nur im Inneren der christlichen Welt, sondern im Angesicht der ganzen Welt. Das Konzil hat zu den Menschen von diesem Gott gesprochen, der der Gott von allen ist, der sie alle ret­tet und der allen zugänglich ist. Das Zweite Vatikanum wollte den Diskurs über die Kirche dem Diskurs über Gott unter­ordnen und eine Ekklesiologie im theologischen Sinne anbie­ten. Das Konzil betrachtet die Kirche nicht als eine in sich ge­schlossene Realität, sondern es sieht sie von Christus her.

Die Kirche ist wie der Mond. Sie leuchtet nicht durch ein ei­genes Licht, sondern sie reflektiert das Licht Christi. Ebenso wie der Mond ohne die Sonne ja finster, undurchsichtig und unsichtbar ist, so ist es auch mit der Kirche, wenn sie sich von Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen, löst. Die Ekklesiologie zeigt, dass sie von der Christologie abhängt, und dass sie mit dieser eng verbunden ist.

Es ist zudem leicht, die innige Verbindung zwischen den beiden aufeinanderfolgenden Konstitutionen zu erkennen, die sich gegenseitig tragen. Die Kirche lässt sich von einem intensiven Leben des Gebetes, des Lobes, der Anbetung und von ihrer Mission leiten, Gott inmitten der Völker zu verherr­lichen. Die Ekklesiologie ist daher nicht von der Liturgie zu trennen. Die Kirche ist dafür geschaffen, Gott zu loben und anzubeten; sie ist nichts ohne Gott.

Man versteht, dass gleich darauf die dritte Dogmatische Konstitution, Dei Verbum, über »das Wort Gottes«, folgt, das die Kirche zusammenruft, um sie zu nähren, zu erneuern und ihren Weg zu erleuchten. Denn das Wort Gottes ist das Herz­stück der Botschaft, das die Kirche der Welt offenbaren und vermitteln muss.

Der vierte Text, die Pastoralkonstitution Gaudium et spes, »über die Kirche in der. Welt von heute«, zeigt, wie sich die Verherrlichung Gottes im aktiven Leben der Kirche präsen­tiert. Das Wort Gottes ist wie ein empfangenes Licht, dass die Kirche der Welt bringt, damit sie aus der Finsternis heraus­trete und zur Verherrlichung Gottes werde.

Leider wurde unmittelbar nach dem Konzil die Konstitution über die Liturgie nicht vom grundlegenden Primat der Anbetung her aufgefasst, vom demütigen Niederknien der Kirche vor der Größe Gottes her, sondern eher wie ein Re­zeptbuch … Wir haben alle möglichen kreativen Gestalter und Animateure erlebt, die eher nach Finessen suchten, um die Liturgie auf eine anziehende und kommunikativere Weise zu präsentieren, indem sie immer mehr Leute darin einbezo­gen, dabei jedoch vergaßen, dass die Liturgie für Gott geschaf­fen ist. Wenn Gott zum großen Abwesenden wird, dann sind alle Abwege möglich – angefangen von den banalsten bis hin zu den abstoßendsten.

Benedikt XVI. hat häufig daran erinnert, dass die Liturgie kein Werk einer persönlichen Kreativität sein könne. Wenn wir die Liturgie für uns selbst machten, entfernt sie sich vom Göttlichen; sie wird zu einem lächerlichen, gewöhnlichen und langweiligen Theaterspiel. Wir enden schließlich bei Li­turgien, die Operetten oder einem sonntäglichen Fest ähneln, bei dem man sich nach einer arbeits- und sorgenreichen Wo­che vergnügt und gemeinsam heiterer Stimmung ist. Folglich kehren die Gläubigen nach der Eucharistiefeier wieder nach Hause zurück, ohne Gott persönlich begegnet zu sein und ihn auch nicht im Innersten ihres Herzens gehört zu haben. Es fehlt dieses kontemplative und stille Zwiegespräch mit Gott, das uns verwandelt und das uns die Energien wiedergibt, die dafür sorgen, ihn einer gegenüber spirituellen Fragen zuneh­mend gleichgültiger gewordenen Welt zu offenbaren. Das Herzstück des eucharistischen Mysteriums ist die Feier vom Leiden, vom tragischen Tod Christi und seiner Auferstehung; wenn dieses Mysterium in langen rauschenden und überla­denen Zeremonien ertränkt wird, ist das Schlimmste zu be­fürchten. Manche Messen sind dermaßen unruhig, dass sie sich nicht von einer Kirmes unterscheiden. Wir müssen wie­derentdecken, dass das Wesen der Liturgie für immer durch das Bemühen der kindlichen Suche nach Gott geprägt sein wird.

Sind Sie letztlich wie Benedikt XVI. der Ansicht, dass es die Ab­wesenheit Gottes in der Gesellschaft ist, die im Mittelpunkt der von den Konzilsvätern angestrebten Reform stand?

Absolut! Auch wenn bei der Eröffnung des Konzils die reli­giöse Krise des Abendlandes weniger sichtbar als heutzu­tage war, spürten viele Konzilsväter die dringende Notwen­digkeit, ihre Gläubigen Gott wieder näherzubringen, der für diese zu einer zunehmend entfernten Realität geworden war. Bei seinen verschiedenen Aufgaben als Apostolischer Nuntius hatte Johannes XXIII. den Abstand der Gesellschaften von Gott besonders gut erfasst. In Frankreich, wo er den Heili­gen Stuhl vertreten hatte, konnte er feststellen, wie sehr sich die »älteste Tochter« der Kirche und so viele weitere Länder des Westens allmählich von den christlichen Idealen abwand­ten. Papst Roncalli wollte zum Wesentlichen zurückkehren, um dieser Krise entgegenzuwirken, indem er die Beziehung zwischen Gott und den Menschen in das Zentrum der Ar­beiten des Konzils stellte. Insbesondere hegte er eine große Verbundenheit für die Schönheit der Liturgie. Wenn sich der Mensch im Angesicht Gottes befindet – das wusste der Nach­folger Pius’ XII. –, dann tritt er in das Mysterium des Sakra­len ein; damit wird eine Beziehung geknüpft, die ihm eine zu­tiefst göttliche Struktur wiedergibt. Letztlich wollte Johannes XXIII. dem Menschen seine Würde wiedergeben, um die un­ergründliche Größe Gottes zu erreichen. Er wollte der moder­nen Welt die Möglichkeit bieten, ihre Fähigkeit zum Lob, zur Anbetung und zum Staunen über Gott wiederzuerlangen. Die große Botschaft des Konzils besteht weiterhin darin, auf neue Art zu bestätigen, dass Gott in uns wohnt.

Mit tiefstem Bedauern beklagte Papst Johannes die Entfer­nung eines großen Teiles der Weltbevölkerung von der Kir­che und ihre Gleichgültigkeit ihr gegenüber. In seiner Eröff­nungsrede zum Konzil sagte er: »Dabei bereitet es Uns großen Schmerz, dass bisher der größte Teil der Menschheit noch nicht von den Quellen der göttlichen Gnade lebt, die in der katholischen Kirche fließen, obwohl alle Menschen von Ge­burt an durch das Blut Christi erlöst worden sind.« 50 Jahre später haben Benedikt XVI. und Franziskus allen Grund dazu, das Drama der Gesellschaften zu betonen, die sich von Gott befreien wollen, um ohne Ihn zu leben! Die Tilgung Gottes im Horizont der abendländischen Kulturen ist ein Drama mit ungeahnten Folgen. Johannes Paul II. war der erste Papst, der die Katastrophe willkürlich von Gott beraubter Gesellschaften erlebt hatte — anhand des atheistischen Kommunismus in Ost­europa, dann anhand dessen brutaler Ersetzung durch einen entfesselten Materialismus. Die fehlende Beziehung zu Gott ist das große Anliegen aller Päpste seit Johannes XXIII. geblie­ben — es ist ein Abgrund, der immer tiefer geworden ist.

Kann die »Krise Gottes« denn eine Krise allein schon des Be­griffs der Kirche verursachen? In seinem Buch Zur Lage des Glaubens: Ein Gespräch mit Vittorio Messori2 erkannte Joseph Ratzinger übrigens als Wurzel der Glaubenskrise eine unterent­wickelte Auffassung des Kirchenbildes.

Wenn das Band zwischen Gott und den Christen schwach wird, dann wird die Kirche zu einer schlichten menschlichen Struktur, zu einem Verein unter vielen anderen. Folglich bana­lisiert sich die Kirche, sie wird alltäglich; sie verweltlicht und korrumpiert, bis sie ihr ursprüngliches Wesen verliert. Ohne Gott schaffen wir uns tatsächlich eine Kirche nach unserem Bild, für unsere kleinen Bedürfnisse, unsere Lüste oder unsere Abneigungen. Die Mode ermächtigt sich der Kirche und die Illusion des Sakralen wird zu etwas Vergänglichem, zu einer Art Behandlung mit abgelaufenen Medikamenten. Um auf unsere frühere Diskussion zurückzukommen, gilt das Gleiche für die Liturgie. Wenn der Mensch beabsichtigt, die Liturgie seiner Zeit anzupassen, sie nach den veränderten Umständen umzugestalten, dann stirbt der göttliche Kult. Die Verände­rung mancher liturgischer Symbole ist bisweilen notwendig;

doch wenn der Mensch anfängt, das Zeitliche mit dem Ewi­gen zu verwechseln, kehrt er sich von dem wesentlichsten Be­weggrund der Liturgie ab. Die Kirche ist das Volk Gottes, das zum Leib Christi geworden ist. Sie ist zu unserem Heil aus der geöffneten Seite Christi entstanden. Christus ist ihr alpha und ihr omega. Ohne Gott ist die Kirche nur ein trunkenes Schiff, das von Orkan zu Orkan dahintreibt. Die Geschichte zeigt, dass die Kirchenkrise niemals von einer Gotteskrise getrennt werden kann. Ohne Gott verschwindet sie von der Bildflä­che, so wie ein Gegenstand, den man vom Licht entfernt, das ihn erleuchtet. Es gibt heute ein ernstes Problem, denn uns ist nicht mehr das übernatürliche Band bewusst, das zwischen Christus und seiner Kirche besteht. Beispielsweise verges­sen diejenigen, die sich erlauben, die Bischöfe zu kritisieren oder sie gegeneinander auszuspielen — da sie ihren kleinen, mehr oder weniger opportunistischen Eingebungen nicht zu­sagen —, dass diese Bischöfe die Nachfolger der von Christus erwählten Apostel sind. Wir müssen auch weiterhin die vom Sohn Gottes vorgegebene Kirche errichten und nicht eine von unseren Augenblickswünschen gestaltete Kirche …

Ist das demnach eine Kirchenkrise oder eine »Gotteskrise«?

Im Gegensatz zu dem, was wir normalerweise denken, be­steht die größte Schwierigkeit der Menschen nicht darin, an das zu glauben, was die Kirche in moralischer Hinsicht lehrt; das Schlimmste für die postmoderne Welt ist es, an Gott und seinen einzigen Sohn zu glauben.

Daher vertritt Benedikt XVI. die These von der »Gottes­krise«. Die Abwesenheit Gottes in unserem Leben wirkt sich zusehends tragisch aus. Der Wille des Konzils, und nicht der Geist seiner schlechten Interpreten, war es, Gott seine ganze Vorrangstellung zurückzugeben. Deshalb erhofften sich die Konzilsväter eine Vertiefung des Glaubens, der in der sich in der Nachkriegszeit so gewandelten Gesellschaft sein Salz verloren hatte. In diesem Sinne besteht das Problem des Konzils weiterhin in bestimmten Regionen der Welt, in denen die Ab­wesenheit Gottes immer spürbarer wird.

Sogar bei uns Geistlichen — so frage ich mich manchmal, ob wir wirklich in der Gegenwart Gottes leben … Können wir von einem »Verrat der Geistlichen« sprechen? Meine Überle­gung könnte unerbittlich erscheinen, doch ich kenne so viele Beispiele von Priestern, die offenbar vergessen, dass das Zent­rum ihres Lebens sich einzig in Gott befindet. In ihrem Tages­ablauf widmen sie ihm nur wenig Zeit, da sie sich in dem ver­lieren, was ich als die »Häresie des Aktivismus« bezeichnen würde. Wie soll man da von der letzten Botschaft Benedikts XVI. nicht zutiefst berührt sein? Das ist ein Papst, der wie Je­sus im Ölgarten, wo er lange darum gebeten hatte, um den Willen Gottes zu erkennen, entscheidet, auf seine »Last des Amtes Petri« zu verzichten; er hat sich in die Einsamkeit, in die stille Anbetung, zurückgezogen, um den Rest seines irdi­schen Lebens als Mönch in einem permanenten Zwiegespräch und in inniger Vereinigung mit Gott zu verbringen. Er bleibt beim Kreuz, wie er es bei einer seine letzten Katechesen er­klärte.

Seine Entscheidung erinnert mich an die eines damals achtzigjährigen afrikanischen Bischofs, an Bischof Silas Sil­vius Njiru. Der emeritierte Bischof von Meru in Kenia wollte gerne in das Trappistenkloster »Tre Fontane« in Rom eintre­ten. Wegen seines Bischofsstandes konnte er nur als Dauer­gast aufgenommen werden, jedoch mit dem Privileg, das Le­ben der Trappistenbrüder und die Härten ihrer Regel teilen zu können. Er sagte mir: »Mein ganzes Dasein habe ich damit zugebracht, von Gott zu reden. Ich werde jetzt den Rest mei­nes Lebens damit verbringen, mit Gott zu reden und Buße zu tun zur Ehre Gottes und für das Heil der Seelen.« Der Dienst des Gebetes, den Benedikt XVI. nunmehr ausübt, ist ein au­ßergewöhnliches Vorbild für die Welt. Er hat sein ganzes Le­ben lang von Gott gesprochen; jetzt verwendet er seine Zeit darauf, um mit Gott zu sprechen und sich beständig vor sei­nem Angesicht aufzuhalten. Es ist nicht möglich, der Kirche zu glauben, wenn wir unser Herz nicht in Gott besiegeln.

Wie lässt sich also in einer so komplizierten Zeit für die Kirche der beste Weg finden?

Ich wiederhole mich hier, aber ich denke, dass das Wichtigste Gott bleiben muss. Die Zeitumstände und die Entwicklung der Welt sind uns dabei nicht behilflich, Gott dem ihm ange­messenen Platz einzuräumen. Die westlichen Gesellschaften leben und richten sich so aus, als ob Gott nicht existierte. Die Christen selbst haben sich bei zahlreichen Gelegenheiten in einer stillen Apostasie eingerichtet. Wenn sich das Hauptin­teresse des heutigen Menschen beinahe ausschließlich auf die Wirtschaft, die Technik und das unmittelbare Erreichen eines verlogenen materiellen Glücks richtet, wird Gott zu jeman­dem, der weit entfernt ist; im Westen sind die Letzten Dinge und die Ewigkeit zu einer Form einer psychologischen Belas­tung ohne Notwendigkeit geworden …

Angesichts dieser existenziellen Kluft hat die Kirche nun keine andere Möglichkeit mehr: Sie muss ausschließlich Christus, seine Herrlichkeit und seine Hoffnung ausstrahlen. Sie muss beständig die Gnade der Sakramente vertiefen, die die Offenbarung und die Fortsetzung der heilbringenden Ge­genwart Gottes in unserer Mitte sind. Nur unter dieser Vo­raussetzung wird Gott seinen Platz wiederfinden können. Die Kirche verkündet das Wort Gottes und feiert die Sakramente in der Welt. Sie muss es mit einer sehr großen Aufrichtigkeit, mit einer wirklichen Strenge und einem barmherzigen Res­pekt vor den menschlichen Nöten tun, die sie zum »Glanz der Wahrheit« führen muss, um hier das Incipit einer Enzyklika von Johannes Paul II. aufzugreifen.

Häufig werden Stimmen laut, die zu einer neuen und wirkli­chen Kollegialität in der Kirche aufrufen. Wie sehen Sie dieses Problem?

Die sozialen Veränderungen, die weltweit durch die techni­schen Fortschritte ausgelöst wurden, sowie durch die vielen die Kirche interessierenden Fragen – wie der nach der Har­monisierung der Disziplin innerhalb der Kirche, der Weiter­gabe der christlichen Lehre, der Verwirklichung katecheti­scher Mittel, der Evangelisierung einer zunehmend komplexer werdenden Welt, der Krise der Ehe und der Familie, der Aus­bildung der Laien und der künftigen Priester sowie der Er­ziehung der Jugend – überschreiten heute die Grenzen einer Diözese. Eine Lösung nur auf Bistumsebene reicht da nicht aus. Um auf die Entwicklung einer globalisierten Gesellschaft zu reagieren, muss man gemeinsam die Phänomene analy­sieren und Lösungen bieten, die den Episkopat eines Landes oder auch mehrerer Länder oder sogar eines Kontinentes auf­klären und in den Dienst nehmen.

Das ist nichts Neues. In der Kirche hat es schon immer den Wunsch gegeben, sich auf hierarchischer Ebene abzuspre­chen, um die wichtigen Fragen zwecks einer gemeinsamen Position der Bischöfe zu untersuchen. Derartige Maßnahmen betreffen heutzutage alltägliche Situationen und Fragen.

Die Kompetenzen und die Gültigkeit der Entscheidungen von Bischofskonferenzen werden allerdings durch das allge­meine Recht oder ein besonderes Mandat des Heiligen Stuhls festgelegt. Dennoch obliegt die Verantwortung für die Lehre in der Diözese dem jeweiligen Bischof und für die gesamte Kirche dem Stuhl Petri – wie auch jeder Nachfolger der Apos­tel zugleich eine Verantwortung in Bezug auf die gesamte Kir­che trägt.

Die notwendige kollegiale Abstimmung hebt daher nicht die Autonomie und die Verantwortung des Bischofs in seiner Diözese auf. Niemand soll sich von der gemeinsamen Ent­scheidüng des Episkopats verpflichtet oder gezwungen fühlen – vor allem dann nicht, wenn Druck ausgeübt wird und Kam­pagnen gestartet werden, um auf bestimmte Personen Ein­fluss auszuüben, um ihnen einen nicht geistlichen, sondern ideologischen Standpunkt aufzudrängen. Die Zusammenar­beit der Bischöfe leidet sehr, wenn sie durch politische Ziele verzerrt wird. Jeder Bischof ist vor Gott je nachdem verant­wortlich, wie er sein bischöfliches Amt bei der Herde ausübt, für die ihn der Heilige Geist zum Wächter festgelegt hat.

Die Kollegialität sollte zugleich affektiv wie effektiv sein. Das Schlimmste wäre sicherlich eine Gleichgültigkeit zur Meinung der anderen gegenüber, wenn ein Bischof sich in seiner Diö­zese einsperrte, ohne Wert auf den Sachverstand seiner Mit­brüder zu legen. Die Synoden, die eine sehr gelungene Form der Aktualisierung der Kollegialität darstellten, sind große Au­genblicke im Leben der Kirche. Doch die verschiedenen Ins­tanzen dürfen die Bischöfe nicht demotivieren und ihnen auch nicht das Gefühl geben, dass ihr Ermessensspielraum ge­schmälert sei. Auf den großen Versammlungen sollten nicht mehr nur die Schönredner sprechen, die »Intelligentesten«, die Experten, die beeindrucken, vertuschen und vorschreiben. Die Furcht vor der Möglichkeit, ideologische Ideen und Positionen aufgezwungen zu bekommen, hat die Gegner der Kollegialität nicht ohne Ironie sagen lassen, dass die Apostel niemals kolle­gial gehandelt hätten. Das einzige Mal, bei dem sie sich kolle­gial verhalten hätten, sei im Garten Getsemani gewesen … Die Evangelien berichten, dass »ihn alle Jünger [verließen] und flo­hen« (Mt 26,56). Doch die Apostelgeschichte schildert uns das miteinander im Einklang stehende, das harmonische Handeln der Jünger, insbesondere nach Pfingsten. Sie gehen gemein­sam ins Gefängnis und sie bleiben in Jerusalem während der Verfolgung. Ebenso berufen sie das erste Konzil von Jerusalem ein, um die Frage der Beschneidung der zu Christen geworde­nen Heiden zu prüfen (Apg 15,6).

Papst Franziskus würde die Kollegialität gerne wieder auf­leben lassen und ich glaube, dass er damit richtig liegt. Der römische Zentralismus hat bedeutende Erfolge ermöglicht, doch er kann auch zu einer Form der Verknöcherung führen. Denn wenn die Verantwortung des Bischofs geschwächt ist, gibt es ein Problem mit dem Vertrauen. Dieses muss wie ein wichtiger, aber anfälliger Schatz gepflegt werden.

Wenn es nötig ist, die Verantwortlichkeit der Bischöfe und der Bischofskonferenzen zu unterstützen, muss Rom dennoch unbedingt die Leitung jeglichen Apostolats beibehalten. Selbst­verständlich kann das Apostolat, wie das Konzil erinnert, von jeder getauften Person ausgeübt werden, ohne dass sie dafür ei­ner hierarchischen Beauftragung bedürfe. Doch aufgrund der Meinungsverschiedenheit bei schwierigen Fragen und wegen des durch den Relativismus bewirkten Werteverlusts und der Orientierungslosigkeit der Menschen würden wir eine schwere Sünde gegen die Einheit des Leibes Christi und der Lehre der Kirche begehen, wenn wir den Bischofskonferenzen eine Au­torität oder eine Entscheidungsfähigkeit in Lehr-, moralischen und disziplinären Fragen zukommen ließen. »Bei der Art der Führung«, sagte Pius XII. bei einer Ansprache an die Bischöfe im November 1954, »ist eine größere Einheitlichkeit anzustre­ben; man vermeidet damit die Verwunderung der Gläubigen, die häufig nicht verstehen, warum die Dinge in einer Diözese auf die eine Art vor sich gehen und in einer anderen, vielleicht in der Nachbardiözese, ganz anders und manchmal sogar ent­gegengesetzt vorgenommen werden. Heutzutage müssen diese lebendigen und häufigen Beziehungen mit dem Apostolischen Stuhl verstärkt werden, die nicht nur die Einheit des Glaubens bewahren, sondern auch den Bereich der Führung und der Disziplin aufeinander abstimmen. Diese Einheit«, folgerte Pius XII. »und die den Umständen entsprechenden Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl stammen nicht aus einem bestimmten Willen, alles auf die Einheit zu reduzieren, sondern aus dem göttlichen Recht und einem Aspekt der Verfassung der Kirche Christi. Für die Bischöfe, denen die Führung der verschiede­nen Hirten anvertraut ist, ergibt sich daraus kein Schaden, son­dern durchaus ein Vorteil.« Über diese Punkte hat sich Johan­nes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Apostolos suos in Form eines Motu proprio vom 21. Mai 1998 deutlich geäu­ßert, als er bestimmte Normen in Bezug auf die Bischofskonfe­renzen genauer formulierte.

Würde Franziskus Ihrer Meinung nach die Leitung der Kirche gerne lockern?

Ich glaube, dass Franziskus den praktischen pastoralen Erfah­rungen einen angemessenen Platz bei den Überlegungen der zentralen Leitung der Kirche einräumen möchte. So will der Papst, indem er sich zu seiner Beratung für die Reformierung der Funktionsfähigkeit der Kurie aus jedem Kontinent einen Kardinal wählte, die Fülle und die Vielfalt der katholischen Welt versammeln. Ebenso ist der Wille des Papstes, den Sy­nodalgedanken wieder anzukurbeln, eine erfreuliche Initia­tive. Die Synode muss tatsächlich zu einer neuen Erfahrung von Emmaus werden, bei der das Herz der Kirche vom Feuer der Heiligen Schrift brennt. Denn bei jeder einzelnen unse­rer synodalen Versammlungen schließt Jesus sich uns an und wandelt mit uns in die Herberge des Brotbrechens. Dort of­fenbart er sein Antlitz des Auferstandenen und sendet uns zu­rück, damit wir den anderen Aposteln begegnen und die Kir­che »in terris« neu aufbauen können, die verwahrlost oder durch unsere enttäuschten Ambitionen und Hoffnungen ent­stellt ist. Sobald wir uns erneut in den Zönakel, an den Ort der ersten Eucharistie, begeben, schenkt uns Jesus seinen Atem, um der Welt zu verkünden, dass Er lebt. Die kleine Hoffnung, wie Charles Péguy sagte, lebt damit in uns wieder auf.

Welche Anzeichen sind Ihrer Meinung nach die besorgniserre­gendsten für die Kirche?

Ich meine, dass das derzeitige Problem ein dreifaches und gleichzeitig ein zusammenhängendes Problem ist: der Priestermangel, die unzulängliche Ausbildung des Klerus und eine oftmals irrige Vorstellung über den Sinn der Mission.

Es gibt da eine Tendenz bei der Missionierung, die den Akzent auf das politische Engagement oder den politischen Kampf bzw. auf die sozioökonomische Entwicklung legt; die­ser Ansatz verdünnt die Aussagen des Evangeliums und die Verkündigung Jesu. Die zahlenmäßige Abnahme der Priester, die Defizite ihrer missionarischen Tätigkeiten und ein besorg­niserregender Mangel an innerem Leben – wenn es ihnen an einem Gebetsleben fehlt und sie die Sakramente nicht häu­fig genug empfangen –, können dazu führen, dass die treuen Christen von den Quellen abgeschnitten werden, aus denen sie trinken sollten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Seminaristen und die Priester sich nicht genügend bemü­hen, auf ihr inneres Leben zu achten, es auf das Wort Gottes zu gründen, auf das Vorbild der Heiligen, auf ein Leben des Gebets und der Betrachtung – tief verwurzelt allein in Gott. Es besteht eine Art Verkümmerung oder Abstumpfung, die selbst bei den Dienern des Herrn aus dem Inneren kommt. Benedikt XVI. und Franziskus haben sehr oft den Karrieris­mus beim Klerus angeprangert. Vor Kurzem äußerte Papst Franziskus, als er sich an verschiedene Hochschulgemein­den richtete, deutliche Worte: »Euer intellektueller Einsatz in Lehre und Forschung, in Studium und umfassenderer Bildung und Formung würde umso fruchtbarer und effektiver sein, je mehr er von der Liebe zu Christus und zur Kirche beseelt ist, je solider und harmonischer die Beziehung zwischen Studium und Gebet ist. Das ist nicht etwas Altes, das ist zentral! Eine der Herausforderungen unserer Zeit ist: Wissen weiterzuge­ben und einen vitalen Verständnisschlüssel dazu anzubieten, nicht eine Anhäufung von unverbundenen Kenntnissen.«

Die angemessene, auf die Reifung des Glaubens ausgerich­tete Formung der Seminaristen, die zu einer persönlichen Bindung an Christus führt, bleibt weiterhin ein vordringliches Anliegen. Die Welt von heute wie auch unsere egozentrischen und unbeständigen Gesellschaften treiben uns durch ihre Rastlosigkeit auseinander. Wir sind durch zu viele Besitztü­mer blockiert; wenn wir für die Seminaristen eine für die Be­gegnung mit Christus günstige Atmosphäre schaffen wollen, dann sind die Ruhe und der Aufbau des inneren Menschen unumgänglich. Die Frage ist umso ernster, als sie nahezu nicht wahrnehmbar ist. Es steht einem frei, sich mit den Semina­ren zu befassen, die in einer Reihe von Ländern, besonders im Westen, nicht mehr genügend besetzt sind. Doch auch wenn dieses Problem unstrittig ist, liegt der wunde Punkt woanders.

Tatsächlich soll ein echtes Seminar eine Schule sein, die zum »Bach Kerit« (1 Kön 17, 1-6) führt, an die Quelle des Wortes Gottes, an einen Ort, an dem man lernt, wie ein wah­res inneres Leben aufzubauen ist. Der Mann, der sich durch diese Schule umgestaltet, um Priester zu werden, bereitet sich darauf vor, gut zu beten, um besser mit Gott zu sprechen, der Mann kann erst die Worte über Gott finden, nachdem man Ihm begegnet ist und eine persönliche Beziehung zu Ihm ge­knüpft hat … Das Gebet steht stets an erster Stelle. Ohne die Vitalität des Gebets laufen der Motor des Priesters und der der Kirche folglich im Leergang.

Mit dem Gebet müssen wir eine anhaltende Arbeit an uns selbst verbinden. Die Kirche ist ausschließlich zur Verehrung und zum Beten da. Diejenigen, die das Blut und das Herz der Kirche sind, müssen beten oder sie trocknen den gesam­ten Leib der von Gott gewollten Institution aus. Daher kön­nen die Seminaristen, die Priester und die Bischöfe nicht nur eine persönliche Beziehung mit Gott unterhalten. Wenn von Anfang an und während all der Jahre der Seminarausbildung kein Verhältnis der Vertrautheit zu Jesus fest aufgebaut wird, laufen die Seminaristen Gefahr, bloße Amtsträger zu wer­den; und am Tag ihrer Weihe werden sie nicht bis in ihr In­nerstes getroffen werden und sie werden nicht das Ausmaß und die Konsequenzen der Worte erkennen, die Jesus an sie richtet: »Non jam dicam servos, sed amicos« (»Ich nenne euch nicht mehr Knechte. […] Vielmehr habe ich euch Freunde ge­nannt«) (Joh 15,15). Der Einsatz ist einfach: Er besteht in dem Sich-Einfühlen und der Gleichgestaltung in Christus. So soll unser priesterliches Wollen und der Wille Gottes immer voll­kommener zusammenfallen. Dann werden wir wie Christus sagen können: »Aber nicht mein, sondern dein Wille soll ge­schehen« (Lk 42,42; Mk 14,36).

Natürlich ist die intellektuelle, die theologische, philoso­phische und die exegetische Ausbildung und sind die Ab­schlüsse wichtig, doch der Schatz besteht nicht in der Wis­senschaft … Der wahre Schatz, das ist unsere Freundschaft mit Gott. Ohne ein Priestertum nach dem Herzen Gottes, das die menschlichen Gewohnheiten abgelegt hat, hat die Kirche keine Zukunft. Ich möchte nicht die Rolle des Volkes der Ge­tauften, des Volkes Gottes herabmindern. Doch diese Seelen sind durch den Willen Gottes den Priestern anvertraut. Wenn die Letzteren, ohne die Barmherzigkeit des Himmels, rein menschlichen Regeln gehorchen, wird die Kirche den Sinn für ihre Mission verlieren. Die Krisen in der Kirche haben, so schlimm sie auch immer sein mochten, stets ihren Ursprung in einer Krise des Priestertums.

Es gibt also auf der einen Seite die Bücher und auf der ein an­deren das Gebet?

Sicher nicht. Doch das innere Leben ist zweifellos das Licht und das Salz des Lebens der Priester. Es geht nicht darum, die intellektuelle Vorbereitung der Seminaristen zu vernachlässi­gen. Dennoch darf dieser Aspekt nicht das einzige Anliegen sein.

Ein Priester, der sein priesterliches Leben verinnerlicht hat, ist bestrebt, seine Begegnung mit Gott in verständlicher Form mitzuteilen. Er wird fähig sein, sich einfach auszudrü­cken. Manche Priester haben die christliche Botschaft der­maßen intellektualisiert und kompliziert, dass sich ein großer Teil des Volkes von der Lehre der Kirche nicht mehr ange­sprochen fühlt und auch nicht mehr an ihr interessiert ist.

Doch Gott ist keine Argumentation, denn der Vater ist im Herzen eines jeden Menschen. Dort erwartet Er uns, um sich uns zu offenbaren. »Und siehe, du warst im Inneren und ich war draußen und suchte dich dort; und ich, missgestaltet, verlor mich leidenschaftlich in die schönen Gestalten, wel­che du geschaffen. Mit mir warst du und ich war nicht mit dir«, schrieb der heilige Augustinus in seinen Bekenntnissen. Die Kirchenväter wussten sich auf ergreifende Weise auszu­drücken und brachten es fertig, die Völker zu Christus zu be­kehren. Durch einfühlsame Sätze und schöne Bilder taten sie nichts weiter, als ihre eigenen spirituellen Erfahrungen wei­terzugeben.

Auch heute noch müssen die Hirten von ihren Schafen ver­standen werden können. Wir werden nachdrücklich aufgefor­dert, dem großen Vorbild zu folgen, das uns Papst Franziskus mit seiner einfachen, prägnanten und direkten Sprache gibt. Ein hermetisch abgeschlossenes Christentum, das behauptet, »wissenschaftlich« zu sein, wäre ein fehlgeleitetes Christen­tum. Dennoch – wie viele forsche, hohle und arrogante For­mulierungen hören wir so oft in unseren Kirchen …

Doch künftig ist die Einheit der Kirche auf der Ebene der geoffenbarten Lehre bedroht, denn es gibt viele, die ihre ei­gene Meinung für die wahre Lehre halten!

Eine der großen derzeitigen Schwierigkeiten sind Mehr­deutigkeiten oder persönliche Erklärungen über wichtige Lehrfragen, die zu irrigen und gefährlichen Meinungen füh­ren können. Diese Irrtümer verunsichern viele Gläubige. So existieren über äußerst ernste Fragen zuweilen widersprüch­liche Antworten, die vom Klerus und von Theologen gege­ben werden. Wie sollte das Volk Gottes durch ein solches Ver­halten nicht durcheinandergebracht werden? Wie können die Getauften sicher sein, was gut oder schlecht ist? Die Verwir­rung darüber, welche Richtung die richtige ist, die sie ein­schlagen sollen, ist das größte Leiden unserer Zeit.

Die Kirche ist in ihrem Mysterium heilig. Doch wenn sie ei­nem Turm von Babel gleicht, gibt es keine Chance mehr, dass sie es schafft, die große Herausforderung des heutigen Rela­tivismus anzunehmen. Wir können Benedikt XVI. dankbar sein, dass er das, was er als »die Diktatur des Relativismus« be­zeichnete, scharfsinnig erkannte. Im Widerspruch zum herr­schenden Subjektivismus muss die Kirche die Wahrheit sa­gen können – mit Demut, Respekt und Klarheit. Ich denke, dass die Menschen wie die Bäume Wurzeln brauchen, die sich von der besten Erde ernähren lassen können, die ganz ein­fach das Erbe und die jahrtausendealte Tradition des Chris­tentums ist. Die Meinungsvielfalt in einer von Informationen überschwemmten Gesellschaft darf nicht die jahrhundertealte Tradition der Kirche ausklammern. Der beste Weg, um das zu verstehen und zu vermitteln, verläuft über das innere Le­ben in Gott!

Die Männer, die durch ihre Berufung von Gott selbst eine Verantwortung übertragen bekommen haben, dürfen sich nicht verlieren, denn das wäre ein Verrat ohnegleichen. Gott hat von uns nicht verlangt, ein persönliches Meisterwerk zu schaffen, sondern den Glauben weiterzugeben. Die Männer Gottes sind Fährmänner und keine Interpreten; es sind treue Boten und Verwalter der christlichen Mysterien. Von dem, der viel bekommen hat, wird auch viel verlangt.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass die Gläubigen verunsi­chert sind?

Wenn ich das Beispiel der von Johannes Paul II. gewollten Neuevangelisierung nehme, dann stelle ich fest, dass wir uns alle völlig einig über die Notwendigkeit sind, unserer mis­sionarischen Vitalität ihren Elan zurückzugeben. Wenn es dagegen darum geht, das Evangelium auf die konkrete Le­benssituation anzuwenden, tauchen am Horizont Meinungs­verschiedenheiten auf. Über das, was moralisch gut ist oder was es nicht ist, sind wir unter Kathöliken äußerst geteilter Meinung.

Gott allein sollte unsere Richtschnur sein. Dennoch besteht ein großes Unbehagen. Über interne Fragen der Kirche – so haben wir unterschiedliche Vorstellungen über die Liturgie, die so weit gehen, dass sie eine gegenseitige Ablehnung, eine Feindseligkeit, ja sogar einen kalten Krieg auslösen. Nun geht es aber darum, Gott einen heiligen Dienst zu erweisen. Wir sollten daher besonders einig sein.

Wir sind allzu oft einander feindlich gesinnt, ein jeder hat sich in seiner eigenen kleinen Kapelle eingesperrt. Wenn die Ideologie die Verehrung ersetzt, dann fällt es nicht schwer, das besorgniserregende Symptom einer Krise ungeahnter Tiefe zu erkennen. Wenn wir schon hin- und hergerissen sind, wo­mit ist dann die Neuevangelisierung in Einklang zu bringen, der wir alle doch anscheinend so verbunden sind? Wenn die Neuevangelisierung eine authentische Rückkehr zu Christus bedeutet, warum gibt es dann so viel Zersplitterung, so viele voneinander abweichende Meinungen und so viele politisierte Sichtweisen?

Denken Sie da an die Spiritaner, die Sie in ihrer Jugend kennen­gelernt haben?

Die ersten Missionare trennten niemals die Verkündigung des Wortes Gottes von der Feier der Sakramente und vom Dienst der Nächstenliebe. Diese drei Aufgaben bedingen sich gegen­seitig und sind eng miteinander verbunden. Doch heute nei­gen wir dazu, den Akzent auf das gesellschaftspolitische En­gagement und die ökonomische Entwicklung zu legen, die Evangelisierung jedoch auszuschließen.

Die Soziallehre der Kirche wird von uns falsch angewandt, und sogar ohne dass wir sie richtig verstehen. Sie wird zum Werkzeug einer politischen Aktion. Benedikt XVI. hat blen­dend dargestellt, welchen Platz und welche Rolle die Soziallehre einnimmt; in Deus caritas est schrieb er: Die Sozial­lehre »will nicht der Kirche Macht über den Staat verschaffen; sie will auch nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft bei­tragen und dazu helfen, dass das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann auch durchgeführt werden kann. Die So­ziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist. Und sie weiß, dass es nicht Auftrag der Kir­che ist, selbst diese Lehre politisch durchzusetzen: Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen, dass die Hellsichtigkeit für die wahren Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen wider­spricht.« Anders ausgedrückt: Niemals aufgeben darf die Kir­che ihren Auftrag zu lehren, zu heiligen und zu führen, der da­rin besteht, durch das Licht des Evangeliums den Verstand zu erleuchten, das Gewissen und das Herz zu läutern. Die Kirche würde Jesus verraten, wenn sie sich aktiv im politischen Le­ben engagierte. Es genügt, das Leben Jesu zu betrachten, um die Richtigkeit der Sichtweise Benedikts XVI. zu überprüfen.

Die Spiritaner meiner Pfarrei besaßen diese einzigartige Gewissheit; sie gaben ihr Leben und ihre Gesundheit für die Sache Jesu, indem sie sich ebenso für die Evangelisierung als auch für die Erziehung, den Dienst der Nächstenliebe und die Gesundheitspflege einsetzten. Meine Eltern glaubten an Gott, weil sie hingerissen von der Kraft des Zeugnisses der französi­schen Missionare waren. Was für ein wunderbares konkretes Bild der Treue an Christus allein gibt doch heute ein Jesuit ab, wenn er in Syrien ausharrt? Letztlich zählt die eine Frage: Was wollen wir über Gott aussagen? Was wollen wir als Liebe Got­tes weitergeben? Wir müssen Gott – sei es gelegen oder un­gelegen – verkünden, indem wir die menschenfreundlichsten Methoden und die respektvollste Sprache dafür finden, doch nicht die Wahrheit dabei auslassen.

Die Stellung der Frauen in der Kirche ist ein sehr wichtiges Thema. Wie lässt sich ihre Rolle begreifen?

Die Frau ist zu achten, was in einer Reihe von Ländern nicht der Fall ist. Die Würde und die Rechte der Frau können durch gefährliche Praktiken ernsthaft gefährdet sein. In Afrika soll­ten die jungen Mädchen ihr Studium genauso weiter vertie­fen können wie die Jungen. Ebenso muss man energisch ge­gen die Zwangsverheiratungen kämpfen. Bei meinen Reisen in die ganze Welt erlebe ich, dass das wirkliche Problem nicht eine illusorische Gleichheit ist, sondern die Ehrfurcht vor der Würde und der Freiheit der Frauen. Die Bilder, die die west­lichen Medien von der Frau verbreiten, sind allzu oft entwür­digend und demütigend. Der Körper der Frau wird wie eine Ware für das pervertierte Vergnügen mancher Männer be­handelt. Durch die organisierte Prostitution ist die Frau zu ei­nem Handelsobjekt geworden. Dennoch erhebt der Westen irrigerweise den Anspruch, der Meister in der Verteidigung der Frauenrechte zu sein …

Es gibt kleine Gruppen von Frauen, die die Priester- oder Bischofsweihe für Frauen fordern. In dieser Hinsicht kam es in manchen protestantischen Gemeinschaften zu Verirrun­gen. Man beschuldigt die katholische Kirche, die Stellung der Frau nicht ausreichend zu würdigen. Wenn ich mir da eine Bemerkung erlauben darf – es scheint mir, dass dieses Thema geografisch unterschiedlich gewertet wird … Leider habe ich das Gefühl, dass der Westen noch immer versucht, die ande­ren Kulturen zu beeinflussen. Ich glaube nicht, dass in vielen Regionen der Welt bei der Beziehung zwischen Mann und Frau der ideologische Egalitarismus das angestrebte Leitbild ist.

Man treibt die Verrücktheit der feministischen Ideologie so weit, dass man sogar bestimmte Begriffe aus dem Voka­bular streichen möchte: Vater und Mutter, Mann und Frau. Gott hat uns verschieden und in Ergänzung aufeinander hin geschaffen. Wenn ich in den Evangelien betrachte, wie Jesus die Frauen behandelte, erkenne ich, dass er ihnen gegenüber einen großen Respekt hatte. Das einzige Leitbild der Kirche muss diese sanfte und respektvolle Art Christi sein, Frauen an seiner Mission teilhaben zu lassen. Angesichts dessen ist es schade, dass manche Leute dem Papst, den Kardinälen oder den Bischöfen Vorwürfe machen, indem sie den Eindruck er­wecken, dass deren Einstellung rückständig sei.

Die Idee eines weiblichen Kardinals ist genauso lächer­lich wie die eines Priesters, der Nonne werden möchte! Der Maßstab der Kirche bleibt Christus, der sich Männern und Frauen gegenüber richtig verhielt, indem er einem jeden die Rolle gab, die ihm zustand. Seit der Zeit in Galiläa folgten Je­sus Frauen, die glücklich waren, ihm zu dienen. Unter dem Kreuz standen Maria Magdalena und andere zutiefst betrübte Frauen, die die schreckliche Kreuzigungsszene beobachteten. Nach den Angaben der Evangelien war Maria Magdalena die Erste, die den auferstandenen Jesus am Ostermorgen sehen sollte. Sie verlangte nichts weiter, als dem Herrn in ihrer Ei­genheit als Frau, in ihrer wiedererlangten und unentgeltlichen Reinheit zu dienen.

Es gibt matriarchalische und patriarchalische Gesellschaf­ten auf der Welt. Jeder spielt hier – gemäß seiner Natur – seine Rolle. Dem Plan Gottes folgend, ist die Frau Mutter und der Mann ist Vater. Die Frauen sollten dafür kämpfen, dass man ihren heiligen Leib nicht durch dessen Kommerzialisierung benutzt, da er der Tempel Gottes und das Heiligtum des Le­bens ist. In der Kirche können die Frauen eine sehr wichtige Rolle einnehmen, angefangen von dem glanzvollsten Ideal überhaupt – dem Streben nach Heiligkeit.

Wie könnte da die endlose Schar der Töchter Gottes uner­wähnt bleiben, angefangen von der Allerheiligsten Jungfrau Maria, der Théothokos, der Muttergottes, der heiligen Monika, der Mutter des heiligen Augustinus, Johanna von Chantal, Therese von Ávila, Therese von Lisieux, Maria Goretti, Mut­ter Teresa von Kalkutta, der seligen Clementine Anwarite ­Jungfrau und Märtyrerin – oder Josefine Bakhita. Die Kirche versteht es schon seit Langem, den Wert des der Frau eige­nen Genius zu rühmen und zur Geltung zu bringen. Johan­nes Paul II. sprach von ihnen als den Wachposten des Un­sichtbaren; Recht hatte er! Die Kirche darf sich von diesem ideologischen Feminismus nicht beeindrucken lassen, der mit seinen Absichten scheinbar edel, bei seinem tieferliegenden Streben jedoch trügerisch daherkommt. Vor allem darf man diese Probleme nicht im Hinblick auf die Funktion angehen. Gott verlangt von uns, uns in den Dienst der Kirche zu stel­len. Es geht dabei nicht darum, Karriere zu machen. Der Kar­rierismus hat bereits einen zu großen Teil des Klerus befallen; wir können diesen Virus daher nicht noch unter den Frauen verbreiten!

Die Vorstellung, dieses Amt auch Frauen bereitzustellen, mag politisch motiviert sein, doch es scheint nicht so, dass es sich dabei um ein Kriterium des Heiligen Geistes handelt. Ich sehe die große Gefahr darin, ein Dikasterium der römi­schen Regierung einer Frau aus dem alleinigen Grund anzu­vertrauen, dass sie eine Frau ist. Der wichtigste Maßstab darf nicht das Geschlecht sein, sondern die Treue zum Willen Jesu, wie dieser von der Tradition der Kirche immer verstanden wurde. Wenn also eine Theologin in enger Verbindung mit dem Lehramt steht und sie sich wie die Jungfrau Maria oder Maria Magdalena in den Dienst Christi stellen möchte, ist es überhaupt kein Problem für sie, mit einem bestimmten Di­kasterium umfassend zusammenzuarbeiten, sofern dieses ih­rer Qualifikation entspricht.

In Afrika gibt es viele Katechisten – Männer wie Frauen; die christlichen Gemeinschaften sind von ihnen begeistert und sie sind ihnen für diese großartige Arbeit der Evangelisierung dankbar. Die Frauen üben diese Mission mit der ihnen eige­nen Sensibilität und dem mütterlichen Gefühl aus und strah­len genau die charakteristische Präsenz aus, die sie auch in unseren Familien zeigen. Keinem Mann mit gesundem Men­schenverstand käme es in den Sinn, diese mütterliche Aufgabe und diese außerordentliche Bereitwilligkeit der weiblichen Weitergabe des Lebens übernehmen zu wollen … Wie kön­nen wir zudem annehmen, dass die Kirche von seit Jahrhun­derten fehlgeleiteten anthropologischen Vorstellungen leben könnte? Ich sehe in diesen feministischen Forderungen eine große Arroganz und eine unnachgiebige Form des Machtwil­lens. Im Evangelium besitzt Maria eine der höchsten Positio­nen. Sie ist unser wahres Vorbild.

Unsere Welt erlebt immer wieder neue Bewegungen mit einer simplen, oberflächlichen Spiritualität, die zuweilen zu Modeer­scheinungen werden. Wie lassen sich diese Strömungen charak­terisieren, die in einen unmittelbaren Wettbewerb mit dem ka­tholischen Glauben treten?

Tatsächlich gibt es viele Menschen, die dazu neigen, sich in ei­nem synkretistischen Sinn aus jeder Spiritualität den Teil he­rauszusuchen, der ihnen passt, um sich eine gemütliche sub­jektive Religion zusammenzustellen; wir sind dabei fern von der Wahrheit in ihrer Vollständigkeit, wie sie von der Kirche gefördert wird. In Afrika sehe ich ebenfalls, dass die traditi­onellen Kulte lebendig bleiben. Wie auch in Lateinamerika, wo die evangelikalen Gruppen einen gnadenlosen Wettbe­werbskrieg gegen die katholische Kirche mit dem Anliegen gestartet haben, »Marktanteile« zu erobern.

Die natürliche Neigung des Menschen besteht stets darin, nach Orten und Ideen zu suchen, bei denen er Befriedigung, Reichtum und ein nahezu übernatürliches Wohlergehen fin­den kann. In der Antike mussten die jüdischen Autoritäten oder bei den ersten Christen die Priester gegen die Versuchung ankämpfen, süße Träume bei den Götzen zu genießen. Die großen Häresien im frühen Mittelalter waren oft eine Reaktion auf Strategien, die mit Ängsten, Leidenschaften und Hirnge­spinsten spielten. Und noch heute ist man auf der Suche nach dem Glück des Augenblicks. Doch früher oder später entdeckt der moderne Mensch die Grenzen des Materialismus und das Christentum scheint ihm ausgelaugt, zuweilen erstarrt. Das ist die fehlende Tiefe unseres Glaubens: Oftmals weiß der Christ nicht mehr, an was er glaubt, und er ist nicht mehr genügend an das Kreuz gebunden. Doch wenn wir uns von Gott entfer­nen, ist die Mogelpackung niemals weit entfernt. Die kateche­tische, biblische und spirituelle Ausbildung der Gläubigen, der Priester und der Ordensleute bleibt angesichts der so bedrohli­chen Unentschlossenheit die große Antwort.

Ja, die Kirche hat nur eine einzige Methode: die Suche nach Gott im Gebet und die vertiefte und betrachtete Erkenntnis seines Wortes. Ohne eine persönliche Beziehung zu Gott gibt es weder Beständigkeit noch Perspektive.

Das spirituelle Umherschweifen wird auch durch den herr­schenden Relativismus gefördert. Im Strom der vorüberzie­henden Moden ist jeder Christ ohne geistliche Wurzeln und ohne die Nahrung des Gebets in Gefahr. Wenn ich sehe, wie junge afrikanische Katholiken wieder zu den traditionellen Kulten zurückkehren, bei denen Opferpraktiken üblich sind, dann kann ich ermessen, dass es den katholischen Priestern nicht gelungen ist, ein großes Bedürfnis zu stillen. Die Ober­flächlichkeit des Glaubenslebens kann zu einem Abgleiten führen, das manchmal wieder schwer unter Kontrolle zu brin­gen ist. Was mir das Herz bricht, das ist die tiefe Verwundung durch afrikanische katholische Priester, die auf die Gnade des Priestertums verzichtet haben, um in Sekten einzutreten und dort eine Art sakrilegischen Gottesdienst zu praktizieren. Was für ein Verfall! Was für ein Dolchstoß in das Herz Jesu! Meine einzige Antwort darauf bleibt das Gebet.

Wie lässt sich dieses Gebetsleben, von dem Sie so oft sprechen, genau beschreiben?

Jeder von uns muss seinen Tagesablauf und sein Gebetsleben genau organisieren und planen. Wie? Ich erzähle Ihnen eine kleine Geschichte, die zum Nachdenken anregt.

Eines Tages wurde ein alter Lehrer engagiert, um einer Gruppe von etwa fünfzehn Vertretern großer Unternehmen eine Weiterbildung zum Thema »Effizientes Zeitmanage­ment« zu geben. Dieser Kurs war einer von fünf Workshops, die an ihrem Schulungstag stattfanden. Der alte Lehrer hatte also nur eine Stunde zur Verfügung. Aufrecht vor ihnen ste­hend, schaute er sie langsam nacheinander an und sagte dann zu ihnen: »Wir werden jetzt ein Experiment machen.« Unter dem Tisch holte er einen riesigen Topf mit mehreren Litern Volumen hervor und stellte ihn vorsichtig vor sich hin. An­schließend präsentierte er zwölf etwa tennisballgroße Steine und legte sie ebenfalls vorsichtig einer nach dem anderen in den großen Topf. Als der Topf bis zum Rand gefüllt war und es unmöglich war, noch einen weiteren Stein hineinzutun, schaute er seine Schüler an und fragte sie: »Ist der Topf voll?« Alle antworteten: »Ja.« Er wartete einige Sekunden und fügte hinzu: »Wirklich?« Dann bückte er sich erneut und holte un­ter dem Tisch ein mit Kies gefülltes Gefäß hervor. Mit Sorg­falt schüttelte er diese Kieselsteine über die großen Steine und vermischte dann alles vorsichtig im Topf. Die kleinen Kiesel­steinchen drangen in die Zwischenräume zwischen die gro­ßen Steine bis zum Boden des Topfes. Der alte Lehrer schaute seine Hörer erneut an und fragte noch einmal: »Ist der Topf voll?« Diesmal fingen die Schlauesten seiner Schüler an, ihm auf die Schliche zu kommen. Einer von ihnen antwortete: »Wahrscheinlich nicht!« »Gut!«, entgegnete der alte Lehrer. Erneut bückte er sich und diesmal holte er unter dem Tisch Sand hervor. Er schüttelte ihn in den Topf. Der Sand füllte die Zwischenräume zwischen den großen Steinen und den Kie­selsteinen aus. Und noch einmal fragte er: »Ist der Topf voll?« Diesmal antworteten die Schüler, ohne zu zögern und im Chor: »Nein!« »Gut!«, antwortete der alte Lehrer. Und als ob die Schüler schon darauf gewartet hätten, nahm er den Krug mit dem Wasser, der auf dem Tisch stand und füllte den Topf bis zum Rand voll. Der alte Lehrer fragte dann: »Welche groß­artige Wahrheit beweist uns dieses Experiment?« Gar nicht so dumm, erwiderte da der wagemutigste Schüler, indem er dabei an das Thema des Kurses dachte: »Das beweist: Auch wenn man meint, dass unser Terminkalender vollständig aus­gefüllt ist, kann man – wenn man es wirklich will – noch im­mer mehr Termine und noch mehr Dinge, die zu erledigen sind, hinzufügen.« »Nein«, antwortete der alte Lehrer, »das ist es nicht! Die große Wahrheit, die uns dieses Experiment zeigt, ist die folgende: Wenn man nicht die großen Steine zuerst in den Topf legt, dann wird man sie niemals alle hineinlegen können.« Es herrschte eine tiefe Stille, jedem wurde die Offenkundigkeit dieser Worte bewusst. Dann sagte der alte Leh­rer zu ihnen: »Was sind die großen Steine in Ihrem Leben? Ihre Gesundheit, Ihre Familie, Ihre Freunde, Ihre Träume, Ihre berufliche Karriere? Was man davon behalten muss, ist, dass es wichtig ist, die großen Steine in seinem Leben vorran­gig zu behandeln, wenn man nicht Gefahr laufen will, im Le­ben nichts zustande zu bringen. Wenn man dagegen die Prio­rität dem Schund – den Kieselsteinen, dem Sand – einräumt, füllt man sein Leben mit Belanglosigkeiten, mit Dingen ohne Bedeutung und ohne Wert und wir werden dann keine Zeit mehr haben, um sie den wichtigen Dingen zu widmen. Ver­gessen Sie also nicht, sich die Frage zu stellen: Was sind die großen Steine meines Lebens? Und dann legen Sie sie an ers­ter Stelle in den Topf ihres Daseins.« Mit einer freundschaftli­chen Handbewegung verabschiedete sich der alte Lehrer von seinem Hörerkreis und verließ langsam den Saal.

Ist das Gebet einer dieser großen Steine eines Lebens? Ich antworte mühelos: Das Gebet muss tatsächlich der große Stein sein, der den Topf unseres Lebens erfüllen muss. Das ist die Zeit, in der man nichts anderes tut, als mit Gott zu­sammen zu sein. Das ist die kostbare Zeit, in der sich alles ab­spielt, in der sich alles erneuert, in der Gott handelt, um uns Ihm gleichzugestalten.

Der heilige Paulus ermahnt uns oft, im Gebet und Flehen zu leben: »Betet jederzeit im Geist; seid wachsam, harrt aus und bittet für alle Heiligen« (Eph 6,18). Doch zugleich betont er unsere Unfähigkeit, dass wir nicht wissen, wie wir in rech­ter Weise beten sollen; dennoch kommt uns der Heilige Geist zu Hilfe und er selbst »tritt für uns ein mit Seufzen, dass wir nicht in Worte fassen können« (Röm 8,26).

Das Gebet ist zunächst das Werk des Heiligen Geistes, der in uns betet, uns innerlich umgestaltet und uns in die Ver­trautheit des einen und dreifaltigen Gottes versenkt. Das ist auch der Grund dafür, warum es entscheidend ist, zu schwei­gen und Gott zuzuhören, damit einverstanden zu sein, sich vor Gott zu entblößen und sich ihm, der in uns gegenwär­tig ist, ganz zu überlassen. Das Gebet ist kein Augenblick der Magie, in dem es darauf ankommt, diese oder jene Beschwer­den vorzubringen, um unser Wohlbefinden zu steigern. Die innere Stille ermöglicht uns, dem Gebet des Heiligen Geistes zu lauschen, das zu unserem Gebet wird. Der Geist tritt an un­serer Stelle ein. In unserem Gebet sind es nicht unsere Worte, die wichtig sind, sondern es geht darum, dass es uns gelingt zu schweigen, um den Heiligen Geist sprechen zu lassen, um ihn für uns seufzen und sich für uns einsetzen zu hören. Wenn wir in das mysteriöse Schweigen des Heiligen Geistes eintre­ten, werden wir gewiss erhört, weil wir ein Herz erreichen, das uns zuhört. Gott antwortet uns nicht so, wie wir es uns er­wünscht hätten, umso mehr, als dass wir oft um unmögliche Dinge bitten – wie Kinder, die sich tausende von Geschen­ken wünschen. Das darf uns jedoch nicht von Gott entfernen, wenn die Probleme real sind, uns peinigen und wir die tiefste Nacht des Zweifels durchleben. Das Gebet ist eigentlich keine außergewöhnliche Handlung, sondern es ist das Schweigen eines Kindes, das seinen Blick ganz auf Gott hin richtet. Das Gebet – das bedeutet, Gott in uns ein wenig frei zu lassen. Es gilt, ihn in der Stille, in der Hingabe und im Vertrauen uner­schütterlich und ausdauernd zu erwarten, sogar dann, wenn er in unserer inneren Nacht im Dunkel bleibt.

Das Gebet fordert, wie jede Freundschaft, Zeit, um sich zu verfestigen. Das Gebet ist daher eine bisweilen beschwerli­che Schule. In der Stille auszuhalten, kann eine lange und tro­ckene Durststrecke, ohne Wasser oder Nahrung, sein, bei der es uns passieren kann, dass wir wie die heilige Therese von Li­sieux sagen: »Ich weiß sogar nicht mehr, ob ich an das glaube, was ich singe.« Der Gläubige, der betet, wandelt durch die Nacht und bleibt oft ein Pilger, der das Licht sucht. Beten be­deutet, in den Willen Gottes einzutreten. In bestimmten Au­genblicken, wenn wir uns in der dunklen Nacht des Leidens und des gegen uns gerichteten Hasses befinden, könnte es uns passieren, dass wir wie Jesus rufen: »eli eli lama sabachthani« (»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«) (Mk 15,34). Niemand wird den Sinn dieses Schreis verstehen, denn es ist ein Gebet, ein Ruf des Glaubens zu unserem Gott und unserem Vater: Es ist der Ruf Jesu am Kreuz, ein Ruf der kindlichen Hingabe an den einzigen Willen des Vaters, mit dem Ziel, die bereits im Garten von Getsemani besiegelte to­tale Unterwerfung zu bestätigen. Als er, von Angst ergriffen, betete und sein Schweiß zu Blutstropfen wurden, die zur Erde fielen, verkündete er: »Abba, Vater, alles ist möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst (soll geschehen)« (Mk 14,36).

Gott hat uns zuerst geliebt. Beten bedeutet, sich lieben zu lassen und sich selbst zu lieben. Beten bedeutet, Gott anzu­schauen und sich von ihm anschauen zu lassen, es bedeu­tet, sich wirklich in die Lage versetzen zu können, Gott anzu­schauen, der in uns als dreifaltiger Gott lebt und wohnt. Das ist kein Bild; der Vater, der Sohn und der Heilige Geist leben in Wirklichkeit in uns. Sie haben in der Einheit und in der tri­nitarischen Gemeinschaft in uns Wohnung genommen. Ein einziger Gott in drei unterschiedlichen Personen, das ist das Herzstück unseres Taufversprechens. Wir sind tatsächlich die Bleibe Gottes. Wunderbar erklärt das der heilige Athanasius in seinem Brief an Serapion dem Bischof von Thmuis: »Und wenn der Geist in uns ist, so ist auch der Logos, der ihn gibt, in uns und im Logos ist der Vater. So ist, wie schon ausgeführt wurde, die Stelle gemeint: >Ich und der Vater werden kommen und die Wohnung bei ihm nehmen< (Joh 14,23). Denn wo das Licht ist, da ist auch der Glanz, und wo der Glanz ist, da ist auch seine Wirkung und die strahlende Gnade.«

Der Ort des Gebets ist die Seele. Dennoch müssen in die­sem Gott vorbehaltenen Heiligtum, in diesem Haus Gottes, Einsamkeit und Schweigen herrschen. Denn im Gebet ist es im Wesentlichen Gott, der spricht und der uns aufmerksam zuhört, während wir uns auf die Suche nach seinem Willen begeben. Beten – das bedeutet, Gott zu suchen und ihn sein Antlitz und seinen Willen uns offenbaren zu lassen. Freilich, wir glauben, dass Gott in uns lebt und wohnt, doch oftmals lassen wir ihm nicht die Freiheit, zu leben, zu handeln, sich zu bewegen und sich zu äußern. Wir besetzen den gesamten Bereich unseres inneren Gefildes – den ganzen Tag auf unbe­grenzte Zeit. Wir versteifen uns darauf, immer viel zu tun, viel zu sprechen und viel zu denken. Wir füllen die Bleibe Gottes mit so viel Lärm …

Wir müssen lernen, dass die Ruhe der Weg zu der persönli­chen und vertrauten Begegnung mit der stillen, aber lebendi­gen Anwesenheit Gottes in uns ist.

Gott findet sich nicht im Orkan, im Erdbeben oder im Feuer, sondern im Säuseln einer leichten Brise. Um wirklich zu beten, muss man eine gewisse Reinheit des Herzens kulti­vieren und wahren, oder anders ausgedrückt, man darf nicht in einem inneren oder äußeren Getöse leben oder aufwach­sen, in der Zerstreuung und den weltlichen Ablenkungen; manche Vergnügungen entzweien und zerstreuen das Zent­rum unseres Seins und lassen es hin- und hergerissen sein. Die geistliche Reinheit, die innere Stille und die erforderliche Einsamkeit sind die Felsen, die für das Leben mit Gott in ei­nem vertrauten Gegenüber mit Ihm am ehesten von Vorteil sind.

Auf unserem Gesicht leuchtet der Glanz des Antlitzes Got­tes, wenn wir aus dieser Begegnung wieder hervortreten, wie bei Mose, als er vom Berg herunterstieg, nachdem er mit dem Allmächtigen gesprochen hatte.

Benedikt XVI. hat oft betont, dass die Liturgie ein Moment sei, in dem die göttliche Wirklichkeit in das Leben der Menschen hi­nabsteige. Wie stehen Sie zu dieser Sichtweise?

Die Liturgie ist ein Augenblick, in dem Gott aus Liebe mit den Menschen tief vereint sein möchte. Wenn wir diese hei­ligen Momente wirklich leben, können wir Gott begegnen. Man sollte jedoch nicht in die Falle tappen, die die Liturgie einfach auf einen Ort der brüderlichen Geselligkeit reduzie­ren möchte. Im Leben gibt es wohl noch andere Plätze, an denen man gemeinsam in froher Stimmung sein kann. Die Messe ist kein Ort, an dem die Menschen sich in einer ba­nalen Feierlaune treffen. Die Liturgie ist eine große Pforte, die sich zu Gott hin öffnet und die uns erlaubt, auf symboli­sche Weise die Mauern dieser Welt zu verlassen. Man muss die heilige Messe mit Würde, Schönheit und Ehrfurcht be­trachten. Die Feier der Eucharistie erfordert zunächst eine große Stille, eine von Gott beherrschte Stille. Es ist notwen­dig, die konkreten Umstände zu beachten, damit sich diese Begegnung auf fruchtbare Weise vollzieht. Ich denke da bei­spielsweise an die Würde und die Vorbildlichkeit der liturgi­schen Gewänder und der liturgischen Ausstattung. Der Got­tesdienstort muss von einer Schönheit geprägt sein, die der Andacht der Gläubigen und der Begegnung mit Gott för­derlich sein kann. Benedikt XVI. hat der Kirche viel gege­ben, als er über den Sinn der Liturgie reflektierte. Sein Buch Der Geist der Liturgie ist die Frucht eines gereiften theologi­schen Denkens. Wenn die Liturgie ihres heiligen Charakters beraubt wird, dann wird sie zu einer Art profanem Raum. Nun leben wir aber in einer Zeit, die intensiv nach dem Hei­ligen sucht; doch durch eine Form der Diktatur des Subjek­tivismus möchte der Mensch das Heilige in dem profanen Raum unterbringen. Das beste Beispiel dafür erkennen wir darin, wenn wir uns neue Liturgien als Ergebnis von mehr oder weniger künstlerischen Experimenten schaffen, die zu­dem keine Begegnung mit Gott erlauben. Mit einer gewissen Arroganz erheben wir den Anspruch, im Menschlichen zu verbleiben, um in das Göttliche einzutreten.

Seit vielen Jahren scheint es, dass die Liturgie wie gespalten ist zwischen zwei voneinander abweichenden, ja sogar entgegenge­setzten Schulen – zwischen der klassischen und der modernen Richtung. Was denken Sie darüber?

Die Liturgie ist die Zeit Gottes und nun wird sie tendenziell zum Mittelpunkt eines ideologischen Kampfes zwischen ver­schiedenen Auffassungen. Es ist traurig, das Haus Gottes mit Kriegswaffen beladen und mit einem Herz voller Hass zu be­treten. Wenn diese Spaltung existiert: Wissen diejenigen, die den Kampf führen, denn dann wirklich, was sie in der Liturgie erleben? Der göttliche Kult ist eine Begegnung mit den über­natürlichen Realitäten, durch die der Mensch verwandelt wer­den und sich nicht zu erfolglosem und fruchtlosem Suchen erniedrigen muss. Ermöglicht mir der Gott, dem ich in der Liturgie begegne, mich an einen Ritus zu »klammern«, indem er die anderen ausschließt? Die Liturgie kann nichts anderes als eine Beziehung mit dem Göttlichen sein. Das Unverständ­nis zwischen verschiedenen Arten, die Liturgie zu verstehen, lässt sich durch legitime kulturelle Elemente erklären, doch es kann niemals eine Rechtfertigung dafür geben, dass man sich gegenseitig von beiden Seiten mit dem Kirchenbann belegt. Benedikt XVI. hat sich sehnlichst gewünscht, die unterschied­lichen liturgischen Schulen miteinander zu versöhnen. Er hat in dieses Unternehmen viel Energie und Hoffnung investiert und dennoch hat er sein edles Ziel nicht erreicht.

Im Grunde genommen sucht Gott jenseits des Ritus zu­nächst das Herz der Menschen. In der Liturgie schenkt uns Je­sus seinen Leib und sein Blut, um uns ihm anzugleichen und zu bewirken, dass wir eins werden. Wir werden zu Christus und sein Blut macht aus uns Blutsverwandte, Männer und Frauen, die in seiner Liebe eingetaucht sind und von der Hei­ligen Dreifaltigkeit bewohnt werden. Wir werden eine einzige Familie: die Familie Gottes.

Wenn ein Mensch die alten Riten der Kirche achtet und nicht in der Liebe ist, dann ist dieser Mensch verloren. Ich glaube, dass so die Situation aussieht, in der sich die extre­mistischsten Anhänger der verschiedenen liturgischen Schu­len befinden. Der enge, quasi fundamentalistische Ritualis­mus oder die Dekonstruktion des Ritus nach modernistischer Art können sehr leicht von einer wahren Suche nach der Liebe Gottes abtrennen. Diese Liebe keimt und wächst in der Ehr­furcht der Formen; doch Verkrampfungen führen früher oder später ins Nichts.

Gerade fallen mir die Worte des heiligen Ambrosius ein, der uns in seinem Kommentar über Kain und Abel warnt: »Der Herr Jesus hat dich aufgefordert, aufmerksam und häu­fig zu beten, nicht damit dein Gebet langweilig werde, son­dern damit es sich in der Gewissenhaftigkeit erneuere. Wenn das Gebet zu lang ist, ergeht es sich häufig in die Leere, doch wenn es selten wird, unterliegen wir der Fahrlässigkeit.«

Wenn ich in Afrika an Messen teilnehme, die sechs Stun­den dauern, erlebe ich nur ein Fest, das persönliche Bedürf­nisse befriedigt. Ich zweifle stark daran, dass eine echte Begeg­nung mit Gott in solchen Momenten ständiger Anspannung und bei Tänzen, die eine Begegnung mit dem Mysterium we­nig begünstigt, stattfindet. Gott verabscheut Ritualismen, bei denen der Mensch sich selbst feiert. Auch wenn man Gott danken muss für die echte Vitalität unserer afrikanischen Li­turgien und für die volle Teilhabe des christlichen Volkes, er­weckt die Überladung des Mysteriums vom Tod und der Auf­erstehung Christi mit Elementen und Zusätzen, die mit der Eucharistie nichts zu tun haben, den Eindruck, als feierten wir uns selbst. Wir müssen uns absolut bemühen, wieder das zu tun, was Jesus getan hat. Erinnern wir uns an sein Wort: »Tut das zu meinem Gedächtnis!«

Die katholische Kirche muss sich im Hinblick auf skanda­löse liturgische Ereignisse Gedanken machen und Maßnahmen ergreifen. Die anderen Gläubigen, vor allem Muslime, sind schockiert über den Verfall mancher liturgischer Feiern.

Dies kann bei Prozessionen der Fall sein, die uns zur Zele­bration des großen Mysteriums unseres Glaubens führen, die ohne jede Andacht, ohne jede Begeisterung und ohne jeden religiösen »Schauer« – im Angesicht Gottes zu sein – gefeiert werden. Die Zelebranten plaudern und diskutieren über alle möglichen Belanglosigkeiten miteinander, während sie sich dem Altar des Herrn nähern!

Ein derartiges Verhalten beobachtet man nicht in einer Moschee, denn die Muslime haben mehr Ehrfurcht vor dem Heiligen als viele Christen.

Wie sieht es mit dem Priestertum in der Zukunft aus?

Die Zukunft des Priestertums lässt sich am Vorbild der Hei­ligen ablesen. Sein Weiterbestand und seine Fruchtbarkeit sind durch das Versprechen Jesu garantiert, für immer bis ans Ende der Zeiten bei uns zu sein. Im Leben von Johannes Paul II. stand das Kreuz Christi absolut im Mittelpunkt. Seit dem ersten Jahr seines Pontifikats hielt er es für wesentlich, den Ju­gendlichen symbolisch ein Kreuz aus Holz zu überreichen; er bat sie, es in der ganzen Welt aufzustellen, im Herz der Men­schen und in den Gesellschaften. Ich glaube, dass sein Beispiel umso wichtiger wird, als die Priester für immer mit dem Mys­terium der Kreuzigung verbunden sind. Der Priester ist ein Mann, der mit Christus gekreuzigt wird; er feiert die Messe nicht nur, um die Kreuzigung gegenwärtig zu setzen, sondern auch, um seine eigene Kreuzigung zu erleben; daher ist der Priester Christus selbst.

Der heilige Pfarrer von Ars hat sein Priestertum stets tief versunken im Gebet und in Gott verwirklicht. Er war wie eine Brücke, die die Menschen zum Herrn führt. Nach Ansicht von Jean-Marie Vianney ist der Priester der Zeuge für die vertikale Dimension der Existenz; er bringt den Menschen in Verbin­dung mit Gott und er wiederholt seine Botschaft unablässig, damit sie im großen Lärm der Welt gehört werde. Der Pries­ter besitzt die göttliche Macht, die darin besteht, Gott und sein Wort unter die Menschen herabsteigen zu lassen. »Der Pries­ter«, sagte er, »ist ein Mann, der den Platz Gottes einnimmt, ein Mann, der mit allen Mächten Gottes versehen ist.«

Die zweite zentrale Realität im Leben von Johannes Paul II. war die Eucharistie. Unsere Gleichgestaltung in Jesus ver­wirklicht sich durch ein intensives Leben des Gebets, der An­betung und der stillen Betrachtung. Ohne das Gebet läuft der Priester Gefahr, in den Aktivismus, die Oberflächlichkeit oder das weltliche Leben abzugleiten. Doch aus der Betrachtung des Antlitzes Christi im Gebet schöpft der Priester den Groß­mut, um sich mit Leib und Seele wie Christus seinem priester­lichen Amt hinzugeben.

Vor jedem apostolischen Engagement muss der Priester je­den Morgen in das Mysterium der Eucharistie eintreten. Diese kleine Hostie, die das ganze Universum und die Geschichte der Menschheit trägt, muss das Zentrum unserer Existenz, das Leben unseres Lebens sein. Als Priester müssen wir zu dieser weißen Hostie werden, wir müssen uns »transsubstantiieren« lassen und uns Christus selbst Charakterzug um Charakter­zug verähneln. In Der Geist der Liturgie”‘ schreibt Kardinal Jo­seph Ratzinger, dass die Eucharistie uns bis in die innersten Tiefsten unseres Wesens umgestaltet: »Die Gleichzeitigkeit mit dem Pascha Christi, die sich in der Liturgie der Kirche er­eignet, ist ja auch eine anthropologische Realität. Die Feier ist nicht nur Ritus, nicht nur liturgisches ›Spiel‹, sie will ja logike latreia sein, ›Logisierung‹ meiner Existenz, die innere Gleich­zeitigkeit zwischen mir und der Hingabe Christi. Seine Hin­gabe will meine werden, damit Gleichzeitigkeit sich vollende und Verähnlichung mit Gott geschehe. Darum ist in der al­ten Kirche das Martyrium wie eine wirkliche Eucharistiefeier angesehen worden: äußerste Realisierung der Gleichzeitigkeit mit Christus, des Einsseins mit ihm. Die Liturgie verweist in der Tat auf den Alltag, auf mich in meiner persönlichen Existenz. Sie zielt, wie noch einmal Paulus in dem erwähnten Text sagt, darauf hin, dass ›unsere Leiber‹ (das heißt unsere leib­haftige irdische Existenz) ›lebendiges Opfer‹, geeint dem ›Op­fer‹ Christi (Röm 12,1) werden.«

Das ist der Grund, weshalb das Priestertum eine Zukunft hat: Es handelt sich dabei um das größte Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat. Die Worte Jesu gelten ewig. In ei­ner übernatürlichen Ordnung ist die Zukunft des Christen­tums sicher.

Dennoch treten Zweifel auf über die Einsatzbereitschaft vieler unserer Zeitgenossen und die Öffnung der Herzen, auf den Ruf Gottes zu antworten.

Die Gegebenheiten variieren zwar von einem Kontinent zum anderen; jeder weiß, dass es in Afrika, in Asien und in vielen Ländern Lateinamerikas zahlreiche Berufungen gibt. Doch man kommt nicht umhin, traurig zu werden angesichts all der jungen Männer in Europa, die zögern, auf den dringen­den Ruf des Herrn »komm und folge mir« zu antworten.

Noch heute beruft Gott ebenso sehr wie in der Vergangen­heit, doch es ist der Mensch, dessen Aufnahme nicht mehr dieselbe ist.

Schließlich lässt sich die priesterliche Berufung nicht von der Jungfrau Maria trennen. Das ist eine bedeutende Lehre aus dem Leben von Johannes Paul II. Das Leben eines Pries­ters kann nicht ohne kindliche Beziehung zu Maria gelebt werden. Die Mutter Christi stützt die Priester in der Treue zu ihren Verpflichtungen. Dank der Jungfrau bin ich überzeugt, dass das Priestertum niemals untergehen wird.

Auch wenn Sie das überraschen mag, glaube ich, dass die Anzahl der Priester kein so grundlegendes Problem darstellt. Übrigens hat der heilige Gregor der Große nichts anderes ge­sagt … Paradoxerweise ähnelt der historische Kontext am Ende des sechsten Jahrhunderts ziemlich genau unserer Epo­che. Doch in einer Homilie kommentierte der heilige Gregor vor den am Taufbecken des Lateran versammelten Bischöfen am 31. März 591 den Satz Jesu: »Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenige Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden.« So schrieb er: »Im Verhältnis zur großen Ernte gibt es nur wenige Arbeiter. Wir können dies nicht ohne große Betrübnis sagen, denn obwohl es solche gibt, die das Gute hören wollen, fehlen solche, die es verkündigen. Seht, die Welt ist voll von Bischöfen und doch findet sich bei der Ernte des Herrn nur selten ein Arbeiter, weil wir zwar das bischöfliche Amt übernommen haben, aber die Aufgaben des Amtes nicht erfüllen. […] Wir sind nämlich völlig äußeren Beschäftigungen verfallen; das eine haben wir ehrenhalber auf uns genommen, anderes tun wie aus Pflichtgefühl. Wir geben den Dienst der Verkündigung auf und zu unserer Strafe, wie ich es sehe, lassen wir uns Bischöfe nennen, die wir nur den Ehrentitel, nicht aber die entsprechende Vollkommenheit be­sitzen. Denn die uns Anvertrauten verlassen Gott, wir aber schweigen. In schlimmem Tun liegen sie darnieder, wir aber reichen nicht die Hand zur Besserung. […] Doch wann wer­den wir das Leben anderer bessern, wenn wir unser eigenes vernachlässigen? Auf weltliche Sorgen gerichtet, werden wir nämlich im Innern umso weniger empfindsam, je engagierter wir im äußeren Bereich erscheinen.« Wir brauchen Priester, die Männer der Innerlichkeit sind, »Wächter Gottes« und für die Evangelisierung der Welt leidenschaftlich engagierte Hir­ten und keine Sozialarbeiter oder Politiker.

Was am meisten zählt, das ist die Herzensgüte, die Glau­bensstärke und die Lebendigkeit des inneren Lebens der Pries­ter. Die Intensität und der Fortbestand der Treue erfordern eine tiefe geistliche Innerlichkeit und eine stabile menschliche Reife. Dank eines echten innerlichen Lebens und einer ver­lässlichen Reife kann sich der Priester von dem befreien, was oberflächlich und vorläufig ist, um dem Wesentlichen besser gegenwärtig zu sein. Die Treue verlangt oftmals einen langen Kampf.

Als Christus das Priestertum einführte, hatte er zwölf Apo­stel um sich; diese haben die gesamte Welt völlig verändert. Heute sind wir mehr als 400.000 Priester. Es ist also alles möglich … Wir werden also niemals mehr überfordert sein als die Apostel! Das Wichtigste ist die innere Umwandlung der Män­ner, die sich dazu entschieden haben, Christus zu folgen.

Man muss nicht befürchten, dass es keine Priester mehr ge­ben werde, sondern wünschen, dass gute und heilige Pries­ter auftreten, Männer Gottes und des Gebetes; im Gegenteil, das Schlimmste ist das Verhalten untreuer, ständig unruhi­ger Priester, weil sie sich nie die Zeit nehmen, im Gebet mit Gott zu sein. Der heilige Johannes vom Kreuz ermahnt uns, uns beständig im Gebet und in der Anbetung vor Gott zu hal­ten, um uns gegen den insbesondere ideologischen Aktivis­mus zu wappnen, der nichts Nachhaltiges in Bezug auf unsere Erhebung zu Gott hervorbringt. In seinem Buch Der geistliche Gesang schrieb er: »So meinen jene, die sich einer Beschäfti­gung ohne Maß hingeben, dass sie in ihrem Predigen und ih­ren äußeren Werken die Welt miteinbeziehen. Sie wären der Kirche um vieles nützlicher und gefielen Gott deutlich mehr – ganz zu schweigen von dem guten Beispiel, das sie abgeben würden -, wenn sie sich dafür verwendeten, die Hälfte der Zeit, die sie dieser Beschäftigung widmeten, vor Gott im Ge­bet zu verweilen, und das selbst dann, wenn sie noch nicht ein­mal den erhöhten Grad erreicht hätten, von dem wir hier spre­chen. Sicherlich würden sie mit einem einzigen Werk noch viel mehr tun als mit tausenden so aktiv vorangetriebenen. Ihr Ge­bet verdiente ihnen die Gnade und versorgte sie mit den nö­tigen spirituellen Kräften. Ohne das Gebet beschränkt sich al­les auf Hammerschläge, um nahezu nichts oder sogar absolut nichts oder manchmal mehr Übel als Gutes hervorzubringen.«

Haben die ideologischen Verschleierungstaktiken und neu ent­stehende Spaltungen eine so große Bedeutung in der Kirche?

Benedikt XVI. pflegte immer zu sagen, dass es nicht die Ideo­logien sind, die die Welt retten, sondern die Heiligen und ihr großes, so sanftes Licht. Die Ideologien verdummen, erdrücken und zerstören die Menschen, da sie eigentlich nicht auf deren Nutzen hin ausgerichtet sind. Ich selbst habe in Gui­nea den Kommunismus kennengelernt, der so viele großzü­gige Versprechen gemacht hatte. Hinter den betrügerischen Wandschirmen führte er viele meiner Landsleute in den Tod. Der ideologische Geist ist das Gegenteil vom Geist des Evan­geliums. Daher befinden sich die Priester, die sich dafür ent­scheiden, politischen Ideen zu folgen oder sie zu propagieren, notwendigerweise auf dem falschen Weg, wenn sie einer Sa­che einen hohen Wert beimessen, den diese nicht haben darf. Die Ideologie ist von Natur aus von der Realität abgekoppelt und notwendigerweise der Ursprung von Spaltungen, da sie das Bekenntnis der Menschen nicht dauerhaft an sich reißen kann, die Jahr für Jahr stets in der Wirklichkeit verankert sind.

Infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils wollten manche Leute der Arbeit der Konzilsväter unbedingt eine politische Lesart zukommen lassen. Dabei handelte es sich um einen schwerwiegenden Irrtum. Doch leider ist dieses Phänomen nicht neu. Im Laufe der Jahrhunderte war die Kirche stets mit Ideologien konfrontiert; die Häresien selbst waren ideologi­scher Natur. Es gibt immer einen Kampf zwischen dem Licht und der Dunkelheit, eine Konfrontation zwischen der Kirche, ihrer Sicht vom Menschen und der Welt und den politischen Moden, die nachlassen. Johannes Paul II. hat es gewagt, gegen den Kommunismus anzukämpfen; die Historiker sind sich darin einig, dass er beim Fall des sowjetischen Reiches eine herausragende Rolle spielte.

Ich sage unumwunden, dass sich die Kirche ideologischen Lügen stets widersetzen muss. Heute muss sie der Gender­ideologie die Stirn bieten, die Johannes Paul II. nicht zögerte, als »neue Ideologie des Bösen« zu bezeichnen. Übrigens ist das Gender, die Frucht der Reflexion der amerikanischen Strukturalisten, ein missgestaltetes Kind des marxistischen Denkens. Schon in seinem ersten Buch Erinnerung und Iden­tität5 schrieb Johannes Paul II.: »Ich denke z. B. an den starken Druck des europäischen Parlaments, homosexuelle Verbindungen anzuerkennen als eine alternative Form der Familie, der auch das Recht der Adoption zusteht. Es ist zulässig und sogar geboten, sich zu fragen, ob nicht hier – vielleicht heim­tückischer und verhohlener – wieder eine neue Ideologie des Bösen am Werk ist, die versucht, gegen die Menschen und ge­gen die Familie sogar die Menschenrechte auszunutzen.«

Die Genderideologie transportiert eine primitive Lüge, da sie die Realität des Menschen als Mann und Frau negiert. Durch die feministischen Lobbys und Bewegungen wird sie mit Gewalt befördert. Sie hat sich schnell in einen Kampf ge­gen die soziale Ordnung und ihre Werte gewandelt. Ihr Ziel ist nicht nur die Dekonstruktion des Menschen; sie interessiert sich vor allem für die Dekonstruktion der sozialen Ordnung. Es geht darum, in Bezug auf die Legitimität sozialer Normen Unruhe zu stiften und im Hinblick auf das Modell der Hete­rosexualität Argwohn zu erregen; nach Auffassung der Gen­derideologie muss die christliche Zivilisation abgeschafft und eine neue Welt aufgebaut werden.

Ich denke daher an die amerikanische Soziologin Margaret Sanger, die einen erklärten Kampf für den moralischen Verfall des Abendlandes führte. Die Frau, sagte sie, müsse die Kont­rolle über ihren Körper und ihre Sexualität haben können. In­dem sie deren Eigentümerin sei, soll sie über die Freiheit ihres Körpers und ihre Rechte verfügen und ihr Leben kontrollie­ren dürfen können. Sie soll frei entscheiden dürfen, Mutter zu sein oder nicht. Jedes Kind soll fortan »gewollt« und »geplant« sein. Keine religiöse Moral, kein Dogma und keine kulturelle Tradition können die Frau daran hindern, ihre Ziele zu ver­wirklichen. Niemand darf die Frau behindern oder ihr verbie­ten, Zugang zu Verhütung und Abtreibung zu haben.

Auf dieselbe Art und Weise wollten Simone de Beauvoir wie auch Jean-Paul Sartre und der atheistische Existenzialis­mus das Individuum von den Lebensbedingungen befreien, wie Gott sie festgelegt hat. Um seine Rechte auszuüben, muss sich das Individuum in die Negierung dessen hineinbegeben, was außerhalb seiner existiert, oder dessen, was durch die Na­tur und die göttliche Offenbarung vorgegeben ist. Als radi­kale Feministin behauptete Simone de Beauvoir: »Man wird nicht als Frau geboren, sondern man wird dazu.« Infolgedes­sen wird die Frau, wenn sie passiv bleibt und sich den Tradi­tionen unterwirft, »Ehefrau« und »Mutter«. Dies nennen die Theoretiker der Genderstudies den Stereotyp oder die repres­sive Konstruktion, die man »dekonstruieren« muss. Wenn sich die Frau hingegen auf die eigene Konstruktion auf ra­dikale autonome Weise von anderen und von Gott einlässt, dann »befreit« sie sich; die Frau wird sie selbst und lebt für sich selbst. Sie kann über sich selbst verfügen und ihr Schick­sal kontrollieren.

Im Dezember 2012 reflektierte Benedikt XVI. bei seiner letzten Ansprache anlässlich des Weihnachtsempfangs für das Kardinalskollegium vor den Mitgliedern der römischen Ku­rie und der päpstlichen Familie über die Behauptung Simone de Beauvoirs »Man wird nicht als Frau geboren, sondern man wird dazu«: »In diesen Worten ist die Grundlegung dessen ge­geben, was man heute unter dem Stichwort >gender< als neue Philosophie der Geschlechtlichkeit darstellt. Das Geschlecht ist nach dieser Philosophie nicht mehr eine Vorgabe der Na­tur, die der Mensch annehmen und persönlich mit Sinn erfül­len muss, sondern es ist eine soziale Rolle, über die man selbst entscheidet, während bisher die Gesellschaft darüber ent­schieden habe. Die tiefe Unwahrheit dieser Theorie und der in ihr liegenden anthropologischen Revolution ist offenkun­dig. Der Mensch bestreitet, dass er eine von seiner Leibhaftig­keit vorgegebene Natur hat, die für das Wesen Mensch kenn­zeichnend ist. Er leugnet seine Natur und entscheidet, dass sie ihm nicht vorgegeben ist, sondern dass er selber sie macht. Nach dem biblischen Schöpfungsbericht gehört es zum We­sen des Geschöpfes Mensch, dass er von Gott als Mann und als Frau geschaffen ist. Diese Dualität ist wesentlich für das Menschsein, wie Gott es ihm gegeben hat. Gerade diese Du­alität als Vorgegebenheit wird bestritten. Es gilt nicht mehr, was im Schöpfungsbericht steht: >Als Mann und Frau schuf ER sie< (Gen 1, 27). Nein, nun gilt, nicht ER schuf sie als Mann und Frau; die Gesellschaft hat es bisher getan und nun ent­scheiden wir selbst darüber. Mann und Frau als Schöpfungs­wirklichkeiten, als Natur des Menschen gibt es nicht mehr. Der Mensch bestreitet seine Natur. Er ist nur noch Geist und Wille. Die Manipulation der Natur, die wir heute für unsere Umwelt beklagen, wird hier zum Grundentscheid des Men­schen im Umgang mit sich selber.«

Wie lässt sich in einem ganz anderen Bereich der Dialog zwi­schen der Kirche und den verschiedenen christlichen Konfessi­onen, aber auch zwischen den anderen Religionen verstehen?

Diese Frage ist extrem wichtig und schwierig. Heute ist die Vorstellung weit verbreitet, dass die Religionen gleichwertig seien und dass die Aufgabe, alle Völker zu evangelisieren, ein überholtes Thema sei; man müsse jedem seine Religion belas­sen. Infolgedessen wäre der Mensch gerettet, wenn er seine ei­gene religiöse Tradition befolge.

Johannes Paul II., der die unveränderliche Bedeutung der Mission vertiefen wollte, erklärte in seiner Enzyklika Redemp­toris missio: Wenn die Kirche die Bedeutung der anderen Reli­gionen anerkennt, muss sie die Verkündigung Christi als ein­zigen Erlöser der Welt als vorrangig ansehen. Die feierliche Einleitung dieser Enzyklika zeigt gut, dass einzig ein fehlerhaf­tes Verständnis der Religionsfreiheit und der Achtung vor den Völkern die Kraft des missionarischen Elans bremsen kann.

Das Buch Unterwegs zu einer christlichen Theologie des reli­giösen Pluralismus6 von Pater Jacques Dupuis und die philo­sophische Studie des Presbyterianers John Hick, der sich für eine Relativierung verschiedener religiöser Positionen als Vo­raussetzung für jeden interreligiösen Dialog einsetzte, ver­anlassten die Glaubenskongregation, am 6. August 2000 die Erklärung Dominus Jesus zu veröffentlichen. In diesem Text prangert die Kongregation »ernste Widersprüche und Schwie­rigkeiten in Bezug auf wichtige lehrmäßige Punkte« an, »die zu irrigen oder gefährlichen Auffassungen führen können. Diese Punkte betreffen die Interpretation der einzigartigen und universellen Heilsvermittlung Jesu Christi, die Einzigar­tigkeit und Fülle der Offenbarung in Christus, das heilbrin­gende Handeln des Heiligen Geistes, die Weihe aller Men­schen für die Kirche sowie den Wert und die Bedeutung der rettenden Funktion der Religionen.«

Die christologische Aussage der Apostelgeschichte, der zu­folge »uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben [ist], durch den wir gerettet werden sollen« (Apg 4,12), und das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Erklärung Nostra Aetate über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, sind deutlich. Die katholische Kirche lehnt nichts ab, was in den anderen Religionen wahr ist; mit aufrichtiger Achtung blickt sie auf deren Handlungs- und Lebensweisen, die einen Strahl der Wahrheit erkennen lassen können, die alle Menschen erleuchtet. Dennoch verkündet sie Christus und sie ist dazu verpflichtet, Christus zu verkünden, der »der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6) ist, auf dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden müssen.

Der Geist ist es; der dazu antreibt, die großen Werke Got­tes zu verkünden. Ich empfinde es als meine Pflicht, den Aus­ruf des heiligen Paulus im Namen der ganzen Kirche zu wie­derholen: »Wenn ich nämlich das Evangelium verkünde, kann ich mich deswegen nicht rühmen; denn ein Zwang liegt auf mir. Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16).

Wie sollte man nicht eine gewisse Besorgnis angesichts des negativen Trends empfinden, der sich an dem nachlassenden missionarischen Elan in Bezug auf die Nichtchristen zeigt? Dieses Nachlassen ist das Anzeichen einer Glaubenskrise und die Folge des Relativismus, der die Kirche selbst bereits äu­ßerst tiefgreifend heimgesucht hat.

Könnte unser Wunsch, die Stellung Christi und der Kirche innerhalb der Menschheit auch weiterhin zu behaupten, dazu führen, dass man uns als fundamentalistisch und intolerant bezeichnet? Auf der Suche nach der Wahrheit glaube ich, dass man sich die Fähigkeit erwerben muss, dazu zu stehen, als in­tolerant zu gelten, das heißt, den Mut zu besitzen, dem anderen zu erklären, dass das, was er tut, schlecht oder falsch ist. Somit werden wir die Kritik der anderen einstecken können und un­serem Anspruch gerecht, uns der Wahrheit zu öffnen. Kürz­lich war ich beeindruckt von den Aussagen des Philosophen Thibaud Collin, der bei einer Konferenz entschieden Folgen­des betonte: »Die Garantie für einen weiteren Fortschritt bei der persönlichen Suche nach der Wahrheit ist die Schärfe, mit der man die Sichtweise gewichtet, die jeder von uns der Rea­lität beimisst. All dies setzt voraus, dass der Mensch nicht das Maß der Realität ist und dass er infolgedessen das Wahre und Gute anzunehmen hat.« Und dann fügte er mit Blick auf Jo­hannes Paul II. und Benedikt XVI. hinzu: »Da sich die beiden letzten Päpste über das Ausmaß der Krise der postmodernen Zivilisation bewusst sind, fordern sie die Katholiken zu einem ganz sokratischen Wagemut auf. Sokrates ist tatsächlich der­jenige, der sein ganzes Leben lang nach der Wahrheit suchte. Er ruhte nicht, ehe er nicht die Leute über ihren Brauch be­fragt hatte, nach dem Wahren und Guten zu streben. Doch durchaus nicht unentschlossen, unterwarf er sich stets voll­ständig der Kraft der Vernunft in sich. Um die Gründe seines Todes zu verstehen, ist es wichtig, seinen Dialog mit Criton ei­nige Stunden vor seinem Tod noch einmal zu lesen. Er wollte bis zum Ende all dem treubleiben, was er als Berufung von Gott bekommen hatte und worüber er mit dem Volk Athens und mit seinem Freund aus Kindertagen keinen Kompromiss schließen wollte, der ihn anflehte, doch zu fliehen. Bei Wei­tem nicht bereit, dem sophistischen Gebrauch der Vernunft entgegenzukommen, ist Sokrates der Zeuge ihrer belebenden Frische. Vielleicht wagt Kardinal Ratzinger deshalb auch die­sen Vergleich, als er die Enzyklika Fides et ratio kommentiert: ›Ich würde sagen, dass der Papst [Johannes Paul II.] hier das versucht, was auch das Zweite Vatikanum versuchte: die sokratische Methode der Unruhe, die Herausforderung, sich re­signierend es nicht bei der Schwachheit der Vernunft bewen­den zu lassen, die zweifellos existiert, und zu versuchen, einen Schritt näher in Richtung Wahrheit zu gehen.‹«

Schließlich kommt die große Kraft des gegenwärtigen Ni­hilismus aus einem gewissen politischen Konsens, der ihn un­ablässig in Gang hält. Man darf sich nicht dieser Welt anpas­sen, sondern muss sich umwandeln lassen, indem man seine Denkweise erneuert, um den Willen Gottes erkennen zu kön­nen. Sich gegen das Lehramt der Kirche auszusprechen, wird von den Medien häufig als eine Form von Mut präsentiert. In Wirklichkeit braucht man dafür gar keinen Mut, weil wir uns des Beifalls der Öffentlichkeit dafür immer sicher sein kön­nen. Es braucht eher Mut, um für den Glauben der Kirche ein­zutreten, auch wenn das dem Muster der Welt von heute wi­derspricht. Mit Bezug auf den heiligen Paulus ruft Benedikt XVI. zu einem »erwachsenen« Glauben auf. Es ist der Glaube der Christen, die täglich für Christus in Nigeria, in Pakistan, im Nahen Osten und überall auf der Welt sterben … Es ist der wunderbare Glaube von Asia Bibi, der wegen Blasphemie der Tod droht und die für ihr Überleben kämpft.

Im Namen der Wahrheit müssen wir Jesus Christus, den einzigen Erlöser der Welt, allen Nationen verkünden. Diese Verkündigung ist für den Dialog zwischen den verschiedenen Religionen keineswegs ein Hindernis.

Die Beziehung zwischen den Konfessionen darf bei der Mission kein Stolperstein sein. Im Gegenteil, sie muss sie ver­tiefen. Johannes Paul II., dann Benedikt XVI. und heute Fran­ziskus tun nichts anderes, als den Glauben der Kirche er­neut zu bestätigen. Die Mission ist der Rohdiamant der Braut Christi. Der Sohn Gottes. ist der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kann ohne ihn zu Gott gelangen. Jesus ist die einzige Pforte zum Himmel: In dieser Liebeserklärung gibt es weder Intoleranz noch religiösen Fundamentalismus. In ei­nem Kommentar zum Psalm 85 erklärt der heilige Augusti­nus mit aller Deutlichkeit über die Kirche: »Unser Herr Jesus Christus, Gottes Sohn, soll der eine Heiland seines Leibes sein, der für uns betet und zu dem wir beten.«

Immer wieder kehren Ihre Überlegung und Ihre Sorge auf die Abwesenheit Gottes in unserer Welt zurück.

Ja, immer wieder, denn der Mensch begreift sich nur durch Jesus Christus! Auf einer anderen Ebene ist die Abwesenheit Gottes die Folge einer Abwesenheit der Kirche.

Insofern Gott nicht mehr das Hauptanliegen der Menschen ist und insofern der Mensch sich vor Gott stellt, leben wir in einer Gottesfinsternis. Infolgedessen leben wir in einer wach­senden Verdunkelung und einem wachsenden Unverständ­nis über die wahre Natur des Menschen, denn dieser definiert sich einzig durch sein Verhältnis zu Gott.

Wir wissen nicht mehr, wer der Mensch ist, da er sich von seinem Schöpfer losgelöst hat. Der Mensch will sich selbst neu erschaffen; er weist die Gesetze seiner Natur zurück, die kon­tingent geworden sind. Dieser Bruch des Menschen mit Gott verdunkelt seinen Blick auf die Schöpfung. Geblendet durch seine technischen Erfolge, verzerrt sein Blick die Welt: Die Dinge besitzen keine ontologische Wahrheit und auch keine Gutheit mehr, sondern sie sind neutral und es ist der Mensch, der ihnen einen Sinn geben muss. Daher ist es dringend not­wendig zu betonen, dass der Rückzug Gottes aus den heuti­gen, besonders aus den westlichen Gesellschaften nicht nur die Lehre der Kirche, sondern auch die Fundamente der An­thropologie in Mitleidenschaft zieht.

Ermöglichen Ihnen Ihre Reisen wie auch Ihre afrikanischen Wurzeln, die Ökumene mit anderen Augen zu betrachten?

Man muss anerkennen, dass sich der interreligiöse Dialog und die Ökumene seit sehr Kurzem verstärkt haben. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesen Fragen eine besondere Auf­merksamkeit entgegengebracht. Auch wenn die Ergebnisse zaghaft erscheinen, so gibt es doch eine bessere Verständigung zwischen den verschiedenen Religionen. Mitunter können wir sehr enttäuscht sein vom Einsatz Gottes und der Religion, um die Gewalt auszuleben, die in jedem Menschen schlummert.

Während es mit den Anglikanern zwar echte Fortschritte gab, stellen bestimmte theologische Entwicklungen und die Entscheidung, die Priester- und Bischofsweihe von Frauen vorzunehmen, nunmehr ein unüberwindliches Hindernis dar. Dieser Wandel des Anglikanismus hat eine bedeutende An­zahl von anglikanischen Pfarrern dazu geführt, um ihre Auf­nahme als Priester der katholischen Kirche zu bitten.

Wenden wir uns nun der Orthodoxie zu. Ich weiß, dass Be­nedikt XVI. großartige Arbeit geleistet hat, um die Einheit der Christen zu fördern. Die Beziehungen zwischen den Ortho­doxen und den Katholiken sind vorangekommen; die Frage nach dem Primat und der Jurisdiktion des Papstes könnte auf der Ebene der Lehre ohne große Schwierigkeiten von der Or­thodoxie angenommen werden. Benedikt XVI. erinnerte zu Recht daran, dass die Orthodoxie anerkannte, dass der Bischof von Rom, der Protos, der Erste sei; diese Frage war bereits auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 beurkundet worden. Zu klären bleibt, ob der Bischof von Rom spezielle Funktionen und Aufgaben hat.

Sicherlich ist der Pontifikat von Benedikt XVI. zu kurz ge­wesen, damit große Fortschritte hätten verwirklicht werden können. Am 14. März 2010 hat er eine historische Geste von großer ökumenischer Tragweite vollzogen, als er die lutheri­sche Gemeinde in Rom besuchte, zu der sich Johannes Paul II. im Jahr 1983 ebenfalls begeben hatte.

Wie kann man schließlich vergessen, dass der polnische Papst der erste Nachfolger Petri gewesen war, der eine Sy­nagoge besuchte? Im Heiligen Land hat dieser Mann, der nicht vergessen konnte, dass so viele seiner aschkenasischen Freunde aus Wadovice in den Todeslagern der Nazis ums Leben gekommen waren, nicht gezögert, zu beteuern, dass die Juden unsere älteren Brüder im Glauben waren. Sein Nach­folger Benedikt XVI. hat den Akzent seines petrinischen Am­tes darauf gelegt, das gemeinsame geistliche Erbe der Juden und der Christen zu würdigen. Denn sie haben vieles gemein­sam: Die beiden Religionen beten zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und sie haben dieselben Wurzeln. Um sein Vor­gehen sinnbildlich darzustellen, wollte Benedikt XVI. in der Residenz von Shimon Peres, dem Präsidenten des Staates Is­rael, einen Olivenbaum pflanzen. In seiner Abschiedsanspra­che am Flughafen Ben-Gurion in Tel Aviv erwähnte der Papst diese Geste und erinnerte daran, dass der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer die Kirche der Heiden als »Zweig vom wilden Ölbaum« beschrieb, der »in den edlen Ölbaum eingepfropft« (Röm 11,17-24) wurde, der das Volk des Bun­des sei. Die Wallfahrt von Franziskus in das Heilige Land war schließlich ein wunderbares Zeugnis für den Frieden.

Und was ist mit dem interreligiösen Dialog?

Mit dem Islam kann es hier keinen theologischen Dialog ge­ben, da die wesentlichen Grundlagen des christlichen Glau­bens sich von denen des Islam sehr unterscheiden: die Drei­faltigkeit, die Inkarnation, und zwar, dass »Jesus Christus (zu uns) […] im Fleisch gekommen« (1 Joh 4,1-10) ist, Kreuz, Tod und Auferstehung Jesu und damit auch die Eucharistie werden von den Muslimen abgelehnt. Doch wir können einen Dialog fördern, der zu einer effizienten Zusammenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene führen kann, insbeson­dere im Rahmen der Verteidigung des menschlichen Lebens ­von der Empfängnis an bis zu seinem Ende. Zum Beispiel leh­nen die verschiedenen Autoritäten des Islam wie die Kirche mit Nachdruck die neue Genderideologie ab.

Dennoch sind die christlich-muslimischen Beziehungen in Afrika in letzter Zeit – mit unterschiedlichen Schwerpunkten je nach Land, wie im Sudan, Kenia oder Nigeria und anderen – sehr schwierig, ja fast unmöglich geworden; im Sudan wird ein Christ von den Muslimen als Sklave betrachtet. Meine Äußerungen verlangen dennoch, dass ich sie differenziere: Im Allgemeinen waren die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen, zumindest in Westafrika, stets harmonisch, freundschaftlich und von einer vollkommenen Gastfreund­schaft geprägt.

Doch in den Ländern, die als die Wiege des Christentums betrachtet werden – im Nahen und Mittleren Osten –, stimmt es mich traurig, die Entwicklung der Beziehungen zwischen den verschiedenen religiösen Gemeinschaften zu sehen. Im Irak beispielsweise sind die Folgen der westlichen und ameri­kanischen Politik für die Christen katastrophal, die von mus­limischen Extremisten aus den Ländern vertrieben werden, die ihre Väter schon seit unvordenklichen Zeiten bewohnten. Wie sollte man in den syrischen, im Libanon oder in Jorda­nien eingerichteten Flüchtlingslagern, die ich besuchte, von der tiefen Not der Christen nicht betroffen sein, die zu einer Diaspora verurteilt sind, die nichts als Ausbeutung ist. Ich habe das Leid und die Furcht der syrischen Bischöfe bei un­serem Treffen im Dezember 2013 in Beirut vernommen, dass es eines Tages im Mittleren Osten überhaupt keine Christen mehr geben werde. Die Gemeinschaften leiden unter schreck­lichen Prüfungen und erleben einen so folgenreichen Bevöl­kerungsrückgang, dass die Zukunft des Christentums in sei­nem Ursprungsgebiet bedroht ist. Nach den Aussagen der Kirchenverantwortlichen der verschiedenen Riten hat die Ab­wanderung der Christen alarmierende Ausmaße erreicht. An­gesichts der Ungewissheit, die auf ihrer Existenz als Getaufte lastet, und angesichts der Entführungen und der Ermor­dung von Priestern, Ordensleuten und Bischöfen erliegen die Christen leicht der Versuchung zu emigrieren, wenn sie nicht schon brutal aus ihrer Heimat verjagt wurden, wie es der Fall im Irak seit der gewalttätigen amerikanischen Militärinvasion im Jahr 2003 war.

Ich möchte gerne von dem Appell eines großen Hirten be­richten, von Msgr. Basile Casmoussa, den Erzbischof der sy­risch-katholischen Kirche in Mossul, der während der Sonder­versammlung der Bischöfe für den Nahen Osten im Oktober 2010 »die ungerechte Anschuldigung gegen die Christen« be­klagte, »im Sold des angeblich christlichen Westen zu stehen und daher als Parasit der Nation betrachtet zu werden«. Im weiteren Verlauf seiner Rede fügte er hinzu: »Die Christen, die weit vor dem Islam hier lebten und tätig waren, fühlen sich nun in ihrem eigenen Land unerwünscht, das mehr und mehr zu einem Dar-el-Islam, zu einem Haus des Islam wird. Da­mit ist der orientalische Christ im Land des Islam, entweder zum Untergang oder zum Exil verurteilt. Was sich heute im Irak abspielt, lässt uns an das denken, was im Ersten Weltkrieg in der Türkei geschah. Das ist abartig!« Dieses Leiden unse­rer Brüder im Glauben zerreißt uns das Herz und fordert uns zum Gebet und zur Verbundenheit mit den Kirchen des Mitt­leren Ostens auf, die heute – um die Worte des heiligen Igna­tius von Antiochia aufzunehmen – »den wilden Tieren zum Fraß dienen, […] ein Weizenkorn Gottes […], von den Zäh­nen der wilden Tiere zermahlen, um reines Brot Christi zu werden«. Ja, ich möchte damit mit Nachdruck sagen, dass be­stimmte westliche Mächte, direkt oder symbolisch, eine Rolle bei einem Verbrechen gegen die Menschheit spielten.

In dem Dikasterium Cor Unum, das ich während mehrerer Jahre leitete, haben wir den Dialog so weit wie möglich ge­fördert, insofern unsere Unterstützung sich an alle Menschen ohne Rücksicht auf Rasse oder Religion richtete; die materi­ellen Schwierigkeiten, die Kriege, die Hungersnöte, die Dür­ren und die Erdbeben können jeden Menschen treffen, egal, ob er Christ, Muslim, Buddhist, Animist oder Atheist ist. Ich sah die Projekte für die Unterstützung der Muslime mit den­selben Augen wie die Gesuche, die von den Christen an uns gerichtet wurden. Zum Beispiel unterstützt die Stiftung Jo­hannes Paul II. für die Sahelzone überwiegend Länder, de­ren Bevölkerung in großer Zahl muslimisch ist. Unser Vor­bild bleibt ganz einfach Gott; Er ist Vater und Er kümmert sich um all seine Kinder.

Man muss an den Dialog glauben, indem man stets an das Vorbild denkt, das uns Gott selbst gibt. Unser Vater ist es nie­mals leid, trotz unserer wiederholten Treulosigkeiten mit uns im Dialog zu stehen und auf uns zuzukommen. Er kommt im­mer wieder. Ebenso müssen wir trotz der häufig quälenden Schwierigkeiten den Dialog mit unseren Brüdern, die eine an­dere Glaubensüberzeugung bekennen, hundertmal wieder auf den richtigen Weg bringen. Doch ohne eine persönliche Be­kehrung und ohne eine echte Gemeinschaft mit Gott bleibt die Verständigung mit den anderen Religionen sinnlos.

Bei unserem Projekt des interreligiösen Dialoges können wir uns in mehrere Gefahren begeben. Die postmoderne Ideologie, die heutzutage allgegenwärtig ist, ist von Grund auf lasch, fließend und unbestimmt und dadurch selbst empfäng­lich für all die kein Leben mehr in sich tragenden »Wahrhei­ten« … Wir dürfen daher keinesfalls aus dem Blick verlieren, dass der Dialog nur wegen eines ursprünglicheren Bezuges zur angestrebten Wahrheit und zum objektiven Gut einen Sinn und eine Berechtigung hat, nämlich aufgrund der Würde der Personen, die sich gerade in dieser Suche nach der Wahr­heit zeigt. Über Gott gibt es keine in sich widersprüchlichen Wahrheiten. Es gibt nur eine Wahrheit, nach der gesucht, die gefunden und verkündet werden muss: Das ist Jesus Christus.

Die zweite Gefahr ist die eines scheinbar frohgemuten Syn­kretismus, der gerade aus unserem mangelnden Glauben an Gott folgt. Wenn wir fest in der Hand Gottes sind, können wir im Hinblick auf die Ökumene optimistisch sein; wenn diese nicht genügend vorankommt, dann deshalb, weil unsere Sünde noch groß und unser Glaube zu lau ist. Die Spaltung der Christen bleibt ein großes Ärgernis. Wir müssen ein ein­ziger Leib sein, damit die Welt glauben kann.

Gab es in Guinea schon immer friedliche Beziehungen zwischen den verschiedenen Religionen?

In der Tat, auch im Alltag haben wir eine lange Tradition des interreligiösen Dialogs. Die Religionen leben schon im­mer friedlich miteinander. Die Muslime sind in der Mehrheit, doch sie respektieren die Christen. Wir spornen uns gegensei­tig in der Treue zum Gebet, zur Wahrheit und zu einer inten­siven religiösen Praxis an; es ist wichtig, dass wir uns lieben und gemeinsam im Licht der Wahrheit wandeln, wie der hei­lige Johannes in seinem dritten Brief an Gaius schreibt.

Es handelt sich dabei um eine Chance, die mich stark ge­prägt hat. Ich persönlich war äußerst beeindruckt von den tiefsinnigen muslimischen Praktiken in meinem Land. Wenn die Zeit des Gebets kommt, halten die Muslime an allen Orten inne und beten. Das ist das höchste Anzeichen, dass sie einen Gott lieben, der zu ihrem Leben gehört. Der Islam Guineas ist spirituell und mit recht ergreifenden Praktiken verbun­den. Ich muss sagen, dass der Islam meines Landes eine brü­derliche und friedliche Religion ist. Es gibt Möglichkeiten zu konvertieren und die Neugetauften sind nicht wie in anderen Ländern gezwungen, sich zu verstecken. Im Grunde genom­men findet sich dieser religiöse Ansatz in ganz Westafrika.

Was ist das Charakteristische an Cor Unum – dem Dikaste­rium, dem Sie mehrere Jahre ihres Lebens gewidmet haben – bei seinem Kampf gegen alles Elend dieser Welt? Warum sprechen Sie darüber hinaus so oft von der engen Beziehung zwischen Gott und den Armen?

Das Evangelium ist kein Schlagwort. Dasselbe gilt auch für un­ser Handeln, um das Leiden der Menschen zu lindern; es geht nicht darum, zu reden oder zu schwadronieren, sondern da­rum, in aller Bescheidenheit zu arbeiten und einen tiefen Res­pekt für die Armen zu haben. Ich erinnere mich beispielsweise daran, wie ich mich empörte, als ich die Werbeaussage einer katholischen Wohltätigkeitsorganisation hörte, die nicht weit davon entfernt war, die Armen zu beleidigen: »Kämpfen wir für die Abschaffung der Armut!« … Nicht ein einziger Heiliger – und Gott allein kennt die so große Anzahl der Heiligen der Barmherzigkeit, die die Kirche in 2000 Jahren hervorgebracht hat – wagte es, so von der Armut der Armen zu sprechen.

Jesus selbst hat keinerlei Anspruch dieser Art erhoben. Ein solches Schlagwort respektiert weder das Evangelium noch Christus. Seit dem Alten Testament ist Gott mit den Armen; und die Heiligen Schriften jubeln unaufhörlich »den Armen von Jahwe« zu. Der Arme fühlt sich abhängig von Gott; diese Bindung stellt das Fundament seiner Spiritualität dar. Die Welt hat ihn nicht bevorzugt behandelt, doch all seine Hoffnung, sein einziges Licht liegt in Gott. Der Mahnruf des Psalms 107 ist besonders bedeutsam: »Sie alle sollen dem Herrn danken für seine Huld, für sein wunderbares Tun an den Menschen, weil er die lechzende Seele gesättigt, die hungernde Seele mit seinen Gaben erfüllt hat. Sie, die saßen in Dunkel und Fins­ternis, gefangen in Elend und Eisen. […] Die Armen hob er aus dem Elend empor und vermehrte ihre Sippen, einer Herde gleich.«

Die Armut ist ein biblischer, von Christus bestätigter Wert, der mit Nachdruck aufruft: »Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5,3). Auch der hei­lige Paulus sagt über Jesus Christus: »Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu ma­chen« (2 Kor 8,9).

Ja, die Armut ist ein christlicher Wert. Der Arme ist derje­nige, der weiß, dass er von sich nicht leben kann. Er braucht Gott und die anderen, um zu leben, sich zu entfalten und he­ranzuwachsen. Im Gegenteil dazu erwarten die Reichen nichts von irgendjemandem. Sie können ihre Grundbedürfnisse stil­len, ohne sich um ihre Nächsten und auch nicht um Gott zu bemühen. In diesem Sinne kann der Reichtum zu einer gro­ßen Freudlosigkeit und einer wahren menschlichen Einsamkeit oder zu einer entsetzlichen spirituellen Not führen. Wenn sich ein Mensch an einen anderen wendet, um etwas essen zu können oder sich behandeln zu lassen, ergibt sich daraus zwangsläufig eine große Erweiterung des Herzens. Darum sind die Ärmsten Gott am nächsten und leben unter sich eine große Solidarität; aus dieser göttlichen Quelle schöpfen sie die Fähigkeit, dem anderen gegenüber aufmerksam zu sein.

Die Kirche darf nicht gegen die Armut kämpfen, sondern sie muss sich eine Schlacht gegen die Not liefern, besonders gegen die materielle und spirituelle Not. Es ist entscheidend, sich einzusetzen, damit alle Menschen das Minimum zum Le­ben haben. Seit den Anfängen ihrer Geschichte versucht die Kirche, die Herzen der Menschen zu verwandeln, um die Grenzen der Not zurückzudrängen. Gaudium et spes fordert uns dazu auf, gegen die Nöte, nicht aber gegen die Armut zu kämpfen: »Denn der Geist der Armut und Liebe ist Ruhm und Zeugnis der Kirche Christi.«

Zwischen Not und Armut gibt es einen fundamentalen Un­terschied. In seiner jährlichen Fastenbotschaft unterscheidet Franziskus im Jahr 2014 die moralische Not, die spirituelle Not und die materielle Not. Für den Papst bleibt die spiritu­elle Not die schlimmste, denn der Mensch ist damit von sei­ner natürlichen Quelle, von Gott, abgetrennt. Die spirituelle Not, so schreibt der Papst, »sucht uns heim, wenn wir uns von Gott entfernen und seine Liebe ablehnen. Die Auffassung, dass wir uns selbst genügen und daher Gott, der uns in Chris­tus seine Hand entgegenstreckt, nicht brauchen, führt uns auf einen Weg des Scheiterns. Allein Gott ist es, der wirklich ret­tet und befreit.« Die materielle Not führt ihrerseits tatsächlich zu einer Form unmenschlichen Lebens und ist Ursache gro­ßer Leiden. Alles scheint aussichtslos zu sein.

Doch wir haben nicht das Recht, die Not mit der Armut zu verwechseln, da wir damit schwer in Konflikt mit dem Evan­gelium gerieten. Erinnern wir uns an das, was Christus uns sagte: »Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch« (Joh 12,8). Wer die Armut ausrotten will, straft den Sohn Gottes Lügen. Er unterliegt dem Irr­tum und der Lüge.

Der Papst wollte für das eintreten, was der heilige Franzis­kus die »Frau Armut« nannte. Der Poverello von Assisi emp­fahl seinen Brüdern, ärmliche Gewänder zu tragen, von ihrer Arbeit zu leben, um den Unterhalt der Gemeinschaft zu si­chern und niemals einen Lohn für eine Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Er forderte von ihnen, sich nichts als materi­elle Güter anzueignen, sondern überall »Pilger und Fremde in dieser Welt zu sein, die dem Herrn in Demut dienen«. Der heilige Franziskus von Assisi wollte arm sein, weil Christus die Armut gewählt hatte. Wenn er die Armut eine königliche Tugend nennt, dann deshalb, weil sie im Leben Jesu, des Kö­nigs der Könige und des Herrn der Herren, und im Leben sei­ner Mutter, der Maria von Nazaret, glanzvoll aufgeschienen ist. Vergessen wir nicht den wunderbaren Herzensruf unse­res Papstes, als er am 16. März 2013, zu Anfang seines Pontifi­kats, vor den Journalisten der ganzen Welt erklärte: »Ach, wie möchte ich eine arme Kirche für die Armen!«

Ebenso denke ich häufig an das Armutsgelübde der Or­densleute; weiß unsere Welt denn noch, dass die Männer und die Frauen, die es ablegen, es tun, um so nah wie möglich bei Christus zu sein? Der Sohn wollte arm sein, um uns den besten Weg aufzuzeigen, auf dem wir zu Gott gelangen können. Das Programm »Armut abschaffen« würde die Gelübde der Or­densleute und der Priester auflösen und beseitigen … Ich weiß, dass nicht alle Priester unbedingt ein absolutes Armutsgelübde ablegen. Doch bei der Betrachtung Christi glaube ich fest, dass das Priestertum mit der Armut verknüpft ist. Der Priester ist ein Mann Gottes, ein Mann des Gebetes und der Demut, ein kontemplativer Mensch, der versucht, seinen Brüdern zu hel­fen, in das Mysterium der Liebe Gottes einzudringen. Priester zu sein, bedeutet, sich wie Jesus zu verhalten, nichts zu haben, nichts zu ersehnen und nur Gott allein zu gehören: »Mihi vi­vere Christus est et mori lucrum« (»Denn für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn«) (Phil 1,21).

Als Präsident des päpstlichen Rates Cor Unum verbrachte ich meine Tage mit dem Kampf gegen die Not, besonders an den schmerzlichen Fronten der Menschheit. Dabei ging es um einen anstrengenden Kampf, um denjenigen Menschen erste Hilfe zu leisten, die nichts mehr haben, weder Nahrung noch Kleidung noch Medikamente. In meinem Gebet denke ich oft an die Not der Einsamkeit und an diejenigen, die keinerlei menschliche Achtung erfahren.

Die Menschheit ist noch nie so reich gewesen, doch sie er­reicht wegen der Armut unserer zwischenmenschlichen Be­ziehungen und der Globalisierung der Gleichgültigkeit er­schreckende Gipfel einer moralischen und spirituellen Not. Im Kampf gegen die Not gibt es diese fundamentale Dimen­sion, die darin besteht, dem Menschen seine Berufung als Kind Gottes und die Freude, zur Familie Gottes zu gehören, zurückzugeben. Wenn wir diesen religiösen Aspekt nicht mit einbeziehen, geraten wir in eine Philanthropie oder in eine weltliche humanitäre Aktion, die das Evangelium vernachläs­sigt. Genau das ist der Unterschied zwischen der christlichen Nächstenliebe und der Arbeit von staatlichen Organisationen; der Unterschied ist Christus!

Der Sohn Gottes liebt die Armen; andere erheben den An­spruch, sie auszurotten. Was ist das für eine verlogene, un­realistische, ja fast tyrannische Utopie! Ich bin immer be­eindruckt und erstaunt, wenn ich lese, dass Gaudium et spes erklärt: »Denn der Geist der Armut und Liebe ist Ruhm und Zeugnis der Kirche Christi.«

Bei der Wahl der Worte müssen wir genau sein. Die Spra­che der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen, die die Armut, die sie mit der Not verwechseln, abschaffen wollen, ist nicht die Sprache der Kirche Christi. Der Sohn Gottes ist nicht gekommen, um zu den Armen mit ideologischen Schlagwor­ten zu sprechen! Die Kirche muss die Schlagworte aus ihrer Sprache streichen. Denn sie haben die Völker, deren Gewissen versuchte frei zu bleiben, verdummt und zersetzt.”

Befürchten Sie nicht, dass man Sie nicht versteht, wenn Sie diese Art von Unterscheidung vornehmen?

Es ist mangelnde Nächstenliebe, wenn man davor die Augen verschließt. Es ist mangelnde Nächstenliebe, wenn man an­gesichts der Verwirrung der Begriffe und der Schlagworte schweigt!

Man darf die Aussage nicht scheuen, dass der Kampf der Kirche zur Erleichterung der menschlichen Nöte untrennbar vom Evangelium ist. Unser Kampf wird nur noch schwerer sein. Wenn Sie den lateinischen Text von Gaudium et spes auf­merksam lesen, werden Sie diese Unterscheidung sofort be­merken. Wird man mich nun für naiv halten? Ich kann mich zwar täuschen. Es ist ja nicht immer einfach, einen Armen von einem Hochstapler zu unterscheiden, der seinen Reich­tum unter seinen Lumpen verbirgt … Doch wenn ich die Leh­ren Jesu richtig verstehe, dann möchte ich lieber bestohlen werden, als gegen die Nächstenliebe zu verstoßen.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich zu Beginn meiner Amtszeit als Bischof in Conakry erlebte. Eine Frau von der Elfenbeinküste kam mich an meinem Amtssitz besuchen, um mir zu erklären, dass sie Opfer eines Diebstahls geworden war. Ich war ziemlich durcheinander, weil ich einen Vortrag vorbereiten musste und mich für die Reise nach Abidjan fer­tig machte. Sie weinte, weil ihre Aufgabe darin bestand, Len­denschurze zu kaufen, die sie in ihr Land mitbringen sollte. Ein Großteil des Geldes gehörte Freundinnen, die sie gebeten hatten, die gleichen Einkäufe auch für sie zu tätigen. Wenn sie nun nichts zurückbringen würde, so fürchtete sie, verdächtigt zu werden, das Geld für persönliche Zwecke unterschlagen zu haben. Ich bat die bischöfliche Prokur, ihr eine Summe zu ge­ben, die sie beruhigen würde. Am nächsten Tag begegnete ich dieser Frau am Flughafen wieder, die wie ich mit dem Flug­zeug unterwegs war. Sie hatte mir versichert, dass sie nichts mehr hatte; doch offensichtlich hatte sie mich hinters Licht geführt. Doch wenn ich nicht auf ihre Tränen reagiert hätte, dann hätte ich nicht auf den Ruf Christi reagiert, der uns auf­fordert, denjenigen zu helfen, die sich in Not befinden. Ich hatte die Gewissheit, nach den Worten des heiligen Paulus ge­handelt zu haben: Die Liebe »glaubt alles, hofft alles, hält al­lem stand«. Diese Frau musste sich ihrem Gewissen stellen. Das Urteil über die Absichten der anderen darf uns nicht da­ran hindern, Nächstenliebe zu praktizieren. Im Himmel wer­den wir nach der Nächstenliebe gerichtet, wie der heilige Jo­hannes vom Kreuz sagte. Vergessen wir niemals die Worte aus dem Matthäusevangelium: »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan« (Mt 25,45).

In Lateinamerika wollte die Befreiungstheologie ja gerade den Ärmsten in diesen Gesellschaften helfen, die große soziale Unter­schiede aufweisen. Haben Sie Verständnis für diese Bewegung?

Von der Befreiungstheologie hörte ich, als ich noch in Afrika war. Als ich anfing, darüber zu lesen, fand ich es interessant, wie man die Armen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellte. In meinem Land und in vielen anderen afrikanischen Regionen erleben wir ökonomische Dramen, die den latein­amerikanischen Ländern ähneln. Dennoch befinden wir uns in Afrika eher auf einer kulturellen Suche, da wir den besten Weg herausfinden wollen, wie wir unser traditionelles Erbe mit dem Christentum verknüpfen können. Trotzdem ist es nicht ausgeblieben, dass die Befreiungstheologie einen gewis­sen Reiz ausgeübt hat. Ich persönlich habe mich sofort dis­tanziert, als mir die marxistischen Ursprünge einiger Anhän­ger dieser Theologie klar wurden. Ich habe in meinem Land zu sehr die Auswirkungen der kommunistischen Ideologie ge­sehen. Die Theorie des Klassenkampfs stand im Zentrum der Politik von Sékou Touré.

Diese verhängnisvolle Sicht der sozialen Realitäten war die Ursache vieler Übel Guineas. Wenn man beansprucht, denjenigen zu helfen, die sich in Not befinden, jedoch nicht ihre Freiheit und ihre Verantwortung fördert, dann verstärkt man nur die Hilflosigkeit der Bevölkerung. Ich weiß nicht, wie al­lein schon das Wort des Kampfes zum Zentrum dieser christ­lichen Lehre werden konnte.

Der Kampf der Kirche beruht auf der Bekehrung der Her­zen. Diese ist nur dann möglich, wenn es einen menschlichen Mutterboden gibt, der bereit ist, von der Gnade Gottes be­sät zu werden. Letztlich hat die Befreiungstheologie in Afrika eine begrenzte Resonanz erfahren. Ich würde sogar sagen, dass die Abweichungen dieser Theologie nicht der afrikani­schen Seele entsprachen.

Welche Herausforderungen stellen sich heute der Neuevangeli­sierung?

In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi, das der Evangelisierung in der modernen Welt gewidmet war, wollte Paul VI. dieses große Thema bereits zur Sprache bringen. Dann gab Johannes Paul II. der Kirche den nötigen Schwung in einem ganz besonderen Ausmaß wieder zurück. Während die Völker Osteuropas gerade erst zu ihrer Freiheit zurückge­funden hatten, wollte er der Welt die Enzyklika Redemptoris missio schenken, um einen anspruchsvollen Horizont festzu­legen, insbesondere einen dringenden Aufruf zur Bekehrung.

Wenn wir heute tatsächlich einen Glaubensmangel konsta­tieren sowie ein schwindendes Bewusstsein für Gott und den Menschen, ein fehlendes wirkliches Wissen über die Lehre Jesu Christi, Distanzierungen einiger Länder in Bezug auf ihre christlichen Wurzeln und das, was Johannes Paul II. eine »stille Apostasie« nannte, dann besteht Handlungsbedarf, um über eine Neuevangelisierung nachzudenken. Eine solche Be­wegung setzt voraus, dass wir über die einzige theoretische Kenntnis des Wortes Gottes hinausgehen; wir müssen erneut zu einem persönlichen Kontakt mit Jesus finden.

Es ist wichtig, den Menschen Gelegenheit für Erfahrun­gen inniger Begegnungen mit Christus zu geben. Ohne einen derartigen vertrauten Austausch ist es illusorisch zu glauben, dass die Menschen dem Sohn Gottes dauerhaft folgen wer­den.

Die Bedeutung dieser persönlichen Erfahrung erinnert mich an ein Apophthegma der Wüstenväter, das meine bib­lischen Studien in Jerusalem zutiefst prägte. Aus dem Kopti­schen übersetzt, bringt es zum Ausdruck, wie wichtig das in­nere Leben ist, das für jedes christliche Dasein unentbehrlich ist: »Ein Mönch begegnet einem anderen Mönch und fragt ihn: ›Warum nur gibt es so viele, die das monastische Leben aufgeben? Warum nur?‹ Und der andere Mönch antwortet: ›Das monastische Leben ist wie ein Hund, der einen Hasen verfolgt. Er läuft hinter dem Hasen her und bellt ihn an; viele andere Hunde schließen sich ihm an, als sie sein Bellen hö­ren, und laufen alle gemeinsam hinter dem Hasen her. Doch alle Hunde, die laufen, ohne den Hasen zu sehen, fragen sich nach einer gewissen Zeit: Aber wo laufen wir denn eigentlich hin? Warum laufen wir? Sie werden müde, verirren sich und hören einer nach dem anderen auf zu laufen. Es gibt nur noch die Hunde, die den Hasen sehen, die ihn bis zum Ende wei­terhin verfolgen, bis sie ihn einholen.«‹ Was ist aus der Ge­schichte zu lernen? Einzig diejenigen, die ihre Augen fest auf die Person Christi am Kreuz gerichtet haben, werden bis zum Ende durchhalten …

Viele äußere Umstände und tiefe Beweggründe oder auch unsere Umgebung können uns zur Nachfolge Jesu angetrie­ben haben. Dann kommt der Augenblick der Reife, in dem einzig die persönliche Erfahrung Christi uns leitet. Diese persönliche Begegnung ist für den Rest unseres Lebens ent­scheidend. Der heilige Paulus hat diesen Augenblick auf der Straße nach Damaskus erlebt, wie auch der heilige Augusti­nus unter einem Feigenbaum in Cassiciacum. So konnte Pau­lus schreiben: »Denn für mich ist Christus das Leben« (Phil 1,21). Er fügte hinzu: »nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat« (Gal 2,20).

Das Evangelium ist kein theoretischer Weg; es darf keine Art einer Eliten vorbehaltener Schule werden. Die Kirche ist ein erkennbarer Weg zum Auferstandenen.

Ohne diesen Bund mit Christus wird sich diese Kluft zwi­schen seinem Wort und den Völkern, ganz besonders in den westlichen Ländern, nicht mehr beseitigen lassen können. Die neuen Gesetze gehen von anthropologischen Grundlagen aus, die der Lehre Jesu entgegengesetzt sind; sie sind der treffende Ausdruck für die Spaltungen, die heute die Männer Christi voneinander trennen.

Ich glaube, dass der ungeheure ökonomische, militärische, technische und mediale Einfluss eines Abendlandes ohne Gott für die Welt eine Katastrophe sein könnte. Wenn sich das Abendland nicht zu Christus bekehrt, könnte es schließlich die ganze Welt vom christlichen Glauben abbringen; die Phi­losophie des Unglaubens sucht fieberhaft nach Anhängern in neuen Teilen des Erdballs. In diesem Sinne stehen wir einem Atheismus gegenüber, der zunehmend auf Anhängerfang aus ist. Die entchristlichte Kultur möchte den Bereich ihres Kampfes gegen Gott unbedingt ausweiten. Um ihre Wieder­geburten zu organisieren, müssen die ehemaligen Länder mit einer alten christlichen Tradition neue Energie tanken, indem sie sich auf einen Weg der Neuevangelisierung begeben.

Wenn ich an die Spiritaner-Missionare meiner Kindheit denke, zweifle ich nicht daran, dass es Männer waren, die alles gegeben hatten. Für sie genügte es nicht, Christus nur auf ei­ner intellektuellen Basis zu kennen. Sie hatten sich vollständig in die Hände Gottes begeben und betrachteten sich als einfa­che ungeschickte Werkzeuge, die seinem Sohn nicht genüg­ten. Sie waren sich sicher, dass die Evangelisierung im We­sentlichen das Werk Gottes bleibe.

Der Vater handelt und möchte uns so einsetzen, dass unsere missionarischen Tätigkeiten, Sorgen und Strapazen gleichsam theandrisch seien – von Gott gemacht, mit unserem Einsatz und der totalen Mitwirkung unseres ganzen Seins.

Wenn wir uns für die Neuevangelisierung einsetzen, han­delt es sich in Wirklichkeit immer um eine Kooperation mit Gott. Der heilige Paulus sagt nichts anderes: »Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, noch über euren guten Willen hinaus« (Phil 2,13). Die Evangelisie­rung beruht auf unserem Willen und unserer Fähigkeit, mit Gott zusammen zu sein und ihm großzügig unsere demütige Mitarbeit anzubieten. Diese stützt sich auf das Gebet und auf die Realpräsenz Gottes in uns: »So ist es der Herr selbst, der über die ganze Erdoberfläche sein Evangelium verbreitet, da­mit sich – jeder gemäß seinen Fähigkeiten – alle Gläubigen daran laben können«, bekräftigt der heilige Augustinus in sei­nen Predigten zum Johannesevangelium.

Benedikt XVI. stellte in jeglichem missionarischen Werk ei­nen engen Zusammenhang zwischen der Liebe und dem Glau­ben her. Bei der Eröffnung der Ordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode über die Neuevangelisierung kommen­tierte er den Hymnus zur Terz und stellte die Verbindung zwi­schen »confessio« und »caritas« her. Die »confessio« nimmt un­ser Sein, unser Herz, unseren Mund und unseren Verstand in Dienst. Doch die »confessio« ist keine rein abstrakte und in­tellektuelle Sache. So konnte er sagen: »Der heilige Bernhard von Clairvaux hat uns gesagt, dass Gott in seiner Offenbarung, in der Heilsgeschichte, unseren Sinnen das Vermögen gegeben hat, die Offenbarung zu sehen, zu berühren, zu kosten. Gott ist nicht mehr nur etwas Spirituelles: Er ist in die Welt der Sinne hineingetreten und unsere Sinne müssen von diesem Genuss, von dieser Schönheit des Wortes Gottes, das Wirklichkeit ist, erfüllt sein. ›Vigor‹: das ist die Lebenskraft unseres Seins und auch die Rechtskraft einer Realität. Mit all unserer Lebendig­keit und Kraft müssen wir von der ›confessio‹ durchdrungen sein, die wirklich ›personare‹ muss; unser Sein in seiner Ganz­heit muss die Melodie Gottes anstimmen.« So bilden »confes­sio« und »caritas« die beiden Pfeiler der Neuevangelisierung.

In der aktuellen Situation brennt uns eine Frage auf den Lippen. Wie kann der Glaube wiederentdeckt werden? Mit seiner ganzen Energie verkündet der heilige Johannes feier­lich: »was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir« (1 Joh 1,1). Wir können Christus nicht mit intellektuellen Be­griffen beschreiben; wir brauchen dafür eine spirituelle und »physische« Erfahrung zugleich. Natürlich stellen der Kate­chismus für die Kinder oder die Theologie für die Semina­risten fundamentale Lernphasen dar. So wollte Johannes Paul II. zur Vorbereitung der Neuevangelisierung die Ausarbei­tung eines Katechismus der katholischen Kirche, deren Lei­tung Joseph Ratzinger anvertraut wurde. Die ganze Lehre der Kirche findet sich in diesem Text. Und wir haben die drin­gende Pflicht, so sagt der heilige Athanasius, »die alte Überlie­ferung, die Lehre und den Glauben der katholischen Kirche« zu befragen. Er sagt: »Der Herr hat sie gegeben, die Apos­tel haben sie verkündet und die Väter haben daran festge­halten. Auf ihr gründet die Kirche, und wer sie aufgibt, kann nicht mehr Christ sein noch den christlichen Namen tragen.« Doch die Festigung des Glaubens geschieht zunächst durch das Herz, durch die persönliche Begegnung und Erfahrung mit Jesus. Wir müssen uns jeden Tag erneut für Christus als unseren Führer, unser Licht und unsere Hoffnung entschei­den. Die Taufe verlangt eine Form der täglichen Aktualisie­rung. Ich habe keine Angst, daran zu erinnern, dass der spiri­tuelle Kampf zunächst ein Krieg gegen das Böse ist, das in uns ist. Ich glaube, dass bei diesem Kampf den Bischöfen eine ent­scheidende Rolle zukommt; ich stimme Papst Franziskus voll­kommen zu, wenn er von den Nachfolgern der Apostel for­dert, ständig an der Front der Evangelisierung zu sein. Der Heilige Vater stellt zu Recht fest, dass Rom die Bischöfe bei einer Reihe von Themen nicht ersetzen kann. Sie haben stets eine dreifache Verantwortung bei der Umsetzung der Neue­vangelisierung: Sie müssen heiligen, leiten und lehren. Es gab zum Beispiel eine Zeit, in der die Kommunikationsmittel noch sehr langsam waren; Rom war weit weg und die Bi­schöfe mussten furchtlos nach vorne schauen und das Risiko selbst tragen. Vergessen wir nicht, dass der heilige Paulus in einer Zeit, als das Martyrium den Alltag der Christen streifte, von Timotheus forderte, die Menschen zu ermahnen, ob sie es nun hören wollten oder nicht … Denken wir auch an den hei­ligen Augustinus, der jeden Tag lehrte!

Mein Gott, wie hat Franziskus Recht, die Flughafen-Bi­schöfe anzuprangern! Die missionarischen Kongregationen sollten übrigens über die Risiken nachdenken, denen sie ihre jungen Mitglieder aussetzen, wenn sie sie wie die Schmetter­linge von einem Land in ein anderes Land fliegen lassen. Diese jungen Leute könnten sich in der Oberflächlichkeit und im Tourismus einrichten, weil sie keine Wurzeln haben und un­fähig sind, sich regelrecht an eine christliche Gemeinschaft zu binden. Sie sammeln zwar Erfahrungen, könnten aber nicht die Hirten irgendeiner Herde sein.

Sie scheinen sehr kritisch zu sein, vielleicht sogar ein wenig zu streng, angesichts der Entwicklung des ehemals christlichen Eu­ropas?

Ich bin mir wohl bewusst, dass die westliche Welt von Idea­len durchströmt wurde, die nicht alle schlecht sind. Niemals würde ich wagen, Johannes Paul II. zu widersprechen, als er nach Zeichen der Hoffnung in unserer Welt suchte. Nach Be­nedikt XVI. bin ich überzeugt, dass eine der wichtigsten Auf­gaben der Kirche darin besteht, das Abendland das strah­lende Antlitz Jesu wiederentdecken zu lassen. Europa darf nicht vergessen, dass seine Kultur vollständig vom Christen­tum und vom Duft des Evangeliums geprägt ist. Wenn der alte Kontinent sich endgültig von seinen Wurzeln abtrennt, dann fürchte ich, dass dies zu einer großen Krise der gesam­ten Menschheit führt, von der ich bereits ab und an einige Anfänge erkenne. Wer bedauert nicht die Gesetze über die Abtreibung, die Euthanasie und die neuen Gesetze über die Ehe und die Familie?

Ich vergesse dabei nicht, dass ich mit meiner Familie die Erkenntnis Christi dank der französischen Missionare erlangt habe. Meine Eltern und ich selbst verdanken ihren Glauben Europa. Meine Großmutter wurde von einem französischen Priester getauft, als sie diese Welt verließ. Ich wäre möglicher­weise niemals aus meinem Dorf hinausgekommen, wenn die Spiritaner den armen Dorfbewohnern nicht von Christus er­zählt hätten. Wie ist es für uns Afrikaner zu verstehen, dass die Europäer nicht mehr an das glauben, was sie uns mit so viel Freude unter den härtesten Bedingungen gegeben haben? Gestatten Sie mir, dass ich mich wiederhole: Ohne die Missio­nare aus Frankreich hätte ich vielleicht niemals Gott kennen­gelernt. Wie könnte ich dieses erhabene Erbe vergessen, dass die abendländischen Völker nun unter einer trostlosen Staub­schicht aufzugeben scheinen?

In Bezug auf das Abendland bin ich nicht der einzige Kri­tiker. Alexander Solschenizyn fand strenge Worte für diejeni­gen, die den Sinn der Freiheit entstellt und die Lüge als Lebens­regel etabliert haben. In seinem Buch L’Erreur de l’Occident7 (»Der Irrtum des Abendlandes«) schrieb er 1980: »Die Welt des Abendlandes erreicht einen entscheidenden Augenblick. Sie wird im Laufe der nächsten Jahre die Existenz der Zivi­lisation, die sie erschaffen hat, aufs Spiel setzen. Ich glaube, dass sie sich dessen nicht bewusst ist. Die Zeit hat euer Kon­zept von der Freiheit ausgehöhlt. Ihr habt das Wort bewahrt und ein neues Konzept erfunden. Ihr habt die Bedeutung der Freiheit vergessen. Als Europa sie um das 18. Jahrhundert he­rum errang, war es ein heiliger Begriff. Die Freiheit führte zur Tugend und zum Heldentum. Das habt ihr vergessen. Diese Freiheit, die für uns noch immer eine Flamme ist, die unsere Nacht erleuchtet, ist bei euch eine kümmerliche und zuweilen enttäuschende Realität geworden, weil sie voller Flitterkram, Reichtum und Leere ist. Für dieses Phantom der ehemaligen Freiheit seid ihr nicht mehr in der Lage, Opfer zu bringen, ihr könnt gerade einmal Kompromisse schließen. [… ] Tief im In­neren glaubt ihr, dass die Freiheit ein für alle Mal erworben wurde, und deshalb leistet ihr euch den Luxus, sie zu verach­ten. Ihr begebt euch in eine tolle Schlacht und ihr benehmt euch, als handele es sich dabei um eine Partie Tischtennis.« Dieser Mann, der die Repression der Gulags der ehemaligen Sowjetunion erlebte, kann so sprechen. Er weiß aus Erfah­rung, dass dies die wahre Freiheit ist.

Heute gibt es in Europa finanzielle und mediale Mächte, die die Katholiken daran zu hindern suchen, Gebrauch von ihrer Freiheit zu machen. Die »Manif pour tous« in Frankreich gibt ein Vorbild für notwendige Initiativen. Es war eine Demonst­ration des Genius des Christentums.

Die Kirche reformiert sich immer wieder: Ecclesia semper refor­manda, lautet das geflügelte Wort. Doch was haben wir unter Reform zu verstehen? Ist die Reform notwendigerweise ein Fort­schritt oder eher eine Hoffnung?

Die Reform ist eine ständige Notwendigkeit. Wir sind die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Der heilige Pau­lus nannte alle Getauften »Heilige«. Wenn wir wirklich das Evangelium lesen, stellen wir fest, dass ein Wort immer wie­der auftaucht: »Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium!« Dies ist auch der erste Appell Jesu im Markusevangelium. Die Reform ist daher diese innere Arbeit, die ein jeder auf per­sönlicher wie auf kirchlicher Ebene verwirklichen muss, um immer besser auf das zu reagieren, was Christus von uns er­wartet. Es geht dabei nicht nur darum, die Strukturen um­zugestalten. Denn die Organisationen können ja vollkommen sein, doch wenn die Personen, die sie betreiben, schlecht sind, wird die Arbeit vergeblich und unnütz sein. Wir müssen stets mit Christus im Einklang unterwegs sein. Die Kirche refor­miert sich, wenn die Getauften noch entschiedener auf die Heiligkeit hinschreiten, indem sie sich durch die Macht des Heiligen Geistes zur Ähnlichkeit Gottes neu erschaffen lassen. Die Ansteckung mit der Heiligkeit kann allein die Kirche aus dem Inneren heraus verwandeln. Seit den ersten Zeiten der Christenheit hat es stets einen Ruf nach Reformen gegeben, die als eine größere Nähe zu Gott konzipiert wurden. Die Re­form ist eine Art, dem Absoluten der christlichen Berufung besser zu entsprechen. Christus gibt uns durch sein Wort und durch das Gebet, das den harten Kern jeglicher Regenerie­rung darstellt, genau die Mittel für diese Reform; das Evan­gelium führt uns zum Leben und zur Gnade Gottes. Die Sak­ramente sind Mittel der konstanten Heilung, der Reform und die Erneuerung.

Die Sehnsucht und die Suche nach Gott sind noch nie so drängend gewesen, denn unsere Welt wird von einer noch nie da gewesenen moralischen Krise durchströmt. Zugleich sind die Kräfte, die Gott verstoßen wollen, von solch großem Ein­fluss, dass die Kirche Mühe hat, der Suche der Menschen zu entsprechen. Die große Herausforderung besteht in diesem unstillbaren Durst nach dem Jenseits.

Ich denke oft an die Griechen, die aus Jerusalem kamen und die zu Philippus sagten: »Wir wollen Jesus sehen.« Im Grunde genommen hat sich die Welt nicht verändert; unsere Zeitgenossen erwarten noch immer von den Christen, dass sie ihnen Christus zeigen. Daher müssen auch die Getauften fröhlich ihren Glauben leben. Die besonders unruhigen Zei­ten für die Kirche sind gerade diejenigen Epochen, in denen die Christen sich entgegengesetzt zu den Prinzipien des Evan­geliums verhalten. Ich glaube nicht allzu weit entfernt von der Wahrheit zu sein, wenn ich sage, dass die Geistlichen wie die Laien heutzutage ein inständiges Bedürfnis nach Bekehrung haben. Ich weiß, dass viele nicht mehr die evangelische Bot­schaft leben. Daher ist die anspruchsvollste Reform die, die die Kirche dahin führt, noch mehr zutiefst überzeugter auf ih­rem Weg zur Heiligkeit und zu ihrer Verkündigung der guten Nachricht zu sein. Die inständigen Bitten der Welt, so schwach sie auch sein mögen, um die falschen materialistischen und ideologischen Werte zu überschreiten, sind Chancen, die sich die Kirche nicht entgehen lassen darf. Durch diese Bitten rich­ten die Menschen ihre Blicke zu Gott. In dieser geschäftigen Welt, in der es keine Zeit mehr für die Familie und auch nicht mehr für einen selbst gibt, und noch weniger für Gott, besteht die wahre Reform darin, den Sinn des Gebets, den Sinn des Schweigens und den Sinn der Ewigkeit wiederzufinden.

Das Gebet ist das größte Bedürfnis der gegenwärtigen Welt; es bleibt das Instrument, um die Welt zu reformieren. In einem Jahrhundert, das nicht mehr betet, ist die Zeit wie aufgehoben und das Leben verwandelt sich zu einem Amoklauf. Daher gibt das Gebet dem Menschen das Maß seiner selbst und des Unsichtbaren. Mir wäre es lieb, wenn wir nicht den Weg ver­gessen könnten, den Benedikt XVI. am Tag seines Verzichts auf den Stuhl Petri für die Kirche bestimmt hat. Er hat sich für einen Weg entschieden, der ausschließlich dem Gebet, der Betrachtung und dem Hören auf Gott gewidmet ist. Es ist der wichtigste Weg, weil er die Richtung zur Herrlichkeit Gottes einschlägt. Letztlich besteht das Projekt von Franziskus zur Reformierung der römischen Kurie darin, diese dem Antlitz Gottes wieder anzunähern …

Ja, richtig, wie würden Sie das, was Franziskus für die Leitung der Kirche möchte, beschreiben?

Der institutionelle Rahmen einer jeden internen Reform ist wichtig. Wenn die Strukturen der Evangelisierung und der Mission der Kirche zu Hindernissen werden, darf man nicht so tun, als schaue man weg; ich glaube, dass wir damit das Herzstück der von Franziskus beherzt in Angriff genomme­nen Leitungsreform berühren. Es war offensichtlich gewor­den, dass gewisse Aspekte des Lebens der römischen Kurie zum Gegenstand eines echten Nachdenkens werden mussten.

Wir haben diese Punkte besonders bei den Diskussionen aufgegriffen, die dem Einzug ins Konklave im März 2013 vorangegangen waren. Ich persönlich meine, dass man beto­nen muss, dass die Mitglieder der Kurie keine hohen Beamten sind; es sind Laien, Priester, Bischöfe und Kardinäle, die ihre Berufung nicht vergessen dürfen. Heute besteht die schwie­rige Arbeit des Papstes darin, die Strukturen zu sanieren. Doch der Heilige Vater möchte denjenigen, die an seiner Seite arbeiten, erneut eine größere innere Dynamik geben. Deshalb wünschte er sich, dass die Kurie außerhalb Roms und fernab des Alltagslebens während der Fastenzeit 2014 lange geistliche Exerzitien durchführte.

Auf einer anderen Ebene glaube ich, dass sich die geplante Reform in unserem Verhältnis zur Macht, zum Geld und zum Reichtum vollzieht. In diesem Zusammenhang gibt es viel Ar­beit, die über die römischen Kurie hinausgeht; leider ist die ganze Kirche von diesem Problem des Karrierismus, von die­ser rastlosen Suche nach Einfluss, Privilegien, Ehren, gesell­schaftlicher Anerkennung und politischer und finanzieller Macht betroffen. Einzig eine echte Bekehrung wird es mög­lich machen, diese Mängel, die ja nicht neu sind, zu beheben.

Die wahre Macht in der Kirche ist in erster Linie ein de­mütiger und fröhlicher Dienst in der Nachfolge Christi, der »nicht gekommen (ist), um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mt 20,28). Wenn wir die Armut Christi ignorieren und ver­gessen, dass er daran erinnert hat, dass wir nicht zwei Meis­tern dienen können – Gott und dem Goldenen Kalb – wird es keine mögliche Reform geben. Erneut besteht die einzige Lö­sung im Gebet, damit die Hirten wieder mit Christus und ih­rer Berufung konfrontiert werden; in diesem Sinne dürfen wir es nicht zulassen, dass sich die Lustlosigkeit der Ermattung über die Versprechen unserer Priesterweihe oder unserer Or­densprofess legt.

Seit den Ursprüngen der Kirche ist das Gebet oftmals mit dem Fasten verbunden; unser Leib muss durch die Su­che Gottes vollständig in das Gebet mit einbezogen werden. Es wäre trügerisch, Gott in unserem Leben an die erste Stelle zu setzen, wenn unser Leib nicht auch wirklich mit einbezo­gen wäre. Wenn wir aus Liebe zu Gott nicht fähig sind, die­sem Leib nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch bestimmte Vergnügungen und fundamentale biologische Bedürfnisse zu versagen, wird es uns an einer inneren Bereitschaft mangeln. Deswegen sind seit dem Beginn der christlichen Überliefe­rung die Keuschheit, die Jungfräulichkeit, der geweihte Zö­libat und das Fasten zum unverzichtbaren Ausdruck des Pri­mates Gottes und des Glaubens an Ihn geworden.

Im Hinblick auf diesen Zusammenhang zwischen dem Leib und der Sexualität vergesse ich nicht, dass bestimmte Mitglie­der des Klerus auf weltliche Ebene regelrechter Verbrechen angeklagt wurden. Der Heilige Stuhl war Pressekampagnen beispielloser Heftigkeit ausgesetzt, als ob alte Feinde — stets bereit zu töten — aus einer Situation großer Schwäche ihren Vorteil zu ziehen versuchten. Doch ich bin mir über die ab­scheulichen Taten, die von Priestern begangen wurden, völ­lig bewusst.

Das Aufgeben der Sexualität gehört zu den Versprechen des Priesters, außer in den Kirchen des Ostens, in denen die Weihe von verheirateten Männern möglich ist, obgleich die älteste Tradition die Abstinenz dennoch als eine Regel in Be­tracht zu ziehen schien. So verstehen wir, dass die Reform den ganzen Menschen in den Dienst nimmt, inklusive seiner Leiblichkeit. Die Spiritaner, die ich kannte, beherrschten ih­ren Leib meisterhaft, was das Ergebnis einer soliden Ausbil­dung und eines tatsächlichen Kontaktes mit Gott war, der ihr Herz erfüllte.

Wenn ich an meine Jahre im Seminar zurückdenke, erin­nere ich mich an zahlreiche Regeln, die uns dabei halfen, un­sere Triebe zu beherrschen. Beispielsweise war es ausdrücklich verboten, außerhalb der Mahlzeiten auch nur den geringsten Imbiss einzunehmen. Derjenige, der diese strenge Essregel nicht einhalten konnte, hatte nach Ansicht der Oberen keine Berufung; er war im Grunde genommen nicht fähig, eines sei­ner natürlichen Bedürfnisse zu beherrschen. Diese Disziplin des Leibes war unerlässlich für die Urteilsfähigkeit der künf­tigen Priester. Ich habe auch nicht vergessen, dass es absolut untersagt war, sich außerhalb der von den Vorschriften vor­gesehenen Zeiten in den Schlafsaal zu begeben. Der gesamte Tagesablauf war auf eine Disziplin des Geistes und des Leibes ausgerichtet. Diese Askese wurde als ein Weg zur Heiligung und zur Nachahmung Jesu verstanden.

Alle Seminaristen waren darauf erpicht, in der Heilig­keit Fortschritte zu machen. Sie hatten notwendigerweise ei­nen geistlichen Leiter, der ihnen in jedem Augenblick helfen konnte, um einer Krisensituation die Stirn zu bieten. Im Le­ben sind wir wie die Lianen im Wald. In Afrika ist eine Liane ein biegsamer Stängel, der sich nicht alleine aufrichten kann. Sie kriecht daher so lange auf dem Boden, bis sie auf einen stämmigen Baum trifft. Dann macht sie sich an dieser Stütze fest und klettert bis zur Baumkrone. Denn auch sie möchte gerne die Sonne sehen. Genauso ist es mit uns. Wenn wir kei­nen stabilen Baum finden, dessen Wurzeln von Gott ernährt werden, um uns zum Himmel aufsteigen zu lassen, haben wir keine Chance, das Licht zu sehen. Erinnern wir uns auch an dieses Sprichwort der westafrikanischen Mossi: »Wenn die Li­ane der Wüste keinen Baum findet, um den sie sich schlingen kann, schlingt sie sich um Gott herum.«

In der Wüste und in bestimmten Augenblicken unseres Da­seins können wir nur auf Gott allein zählen.

Ich bin mir natürlich darüber im Klaren, dass sich in einen Schafstall immer auch ein Wolf einschleichen kann. Während meiner Ausbildung hatte ich das Glück, bei Professoren und Priestern zu lernen, die uns durch ihr Vorbild umgestalteten und uns täglich zu Christus hinführten.

Eine der Ursachen der moralischen Krise lässt sich zweifel­los auf die hedonistische sexuelle Revolution der 1970er-Jahre zurückführen. Angesichts dieser »Befreiung« des Leibes, die sich den Trieben zuwandte, wobei jegliche Schranken zurück­gewiesen wurden, und vor dem Hintergrund der Erotisie­rung ganzer Gesellschaftsschichten hat die Kirche sich nicht die Mühe gemacht, ihre Diener noch sorgfältiger auszubilden. Der Anfang der Reform muss sich auf die katholischen Schu­len und die Seminare konzentrieren.

Ich weiß, dass meine Ausführungen hart sind; ich möchte niemanden brüskieren, noch weniger über irgendjemanden ein Urteil fällen, doch wie lässt sich leugnen, dass die von Franziskus gewollte Reform akut ist?

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Quelle: Robert Kardinal Sarah und Nicolas Diat: GOTT oder Nichts – Ein Gespräch über den Glauben – mit einem Vorwort von Georg Gänswein. fe-medienverlag GmbH, D-88353 Kißlegg. ISBN 978-3-86357-133-7. 1. Auflage 2015

 



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