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KARDINAL SARAH: »GOTT ODER NICHTS« (5)

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(Fortsetzung zum 4. Beitrag)

V.

DIE ECKPFEILER UND
DIE FALSCHEN WERTE

»Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, sodass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können.«

Das Hohelied Salomos

NICOLAS DIAT: Wie lässt sich das authentische Verhältnis zwischen Christentum und Moral erkennen? Benedikt XVI. war der Auffassung, dass man die beiden nicht verwechseln dürfe, um nicht ihr jeweiliges Wesen zu entstellen. Würden Sie dieser Analyse beipflichten?

KARDINAL ROBERT SARAH: Ja, in Deus caritas est schreibt Benedikt XVI., dass am Anfang des Christseins keine ethische Entscheidung stehe und auch keine philosophische oder mo­ralische Vorstellung, sondern die Begegnung mit einem Er­eignis, mit einer Person. Dieser Mensch, der zu uns kommt, Christus, schenkt dem Leben einen neuen Horizont und da­durch seine entscheidende Richtung.

Benedikt XVI. griff damit eine Idee des Theologen Romano Guardini auf, für den das Christentum nicht das Ergebnis ei­ner intellektuellen Erfahrung ist, sondern ein Ereignis, das auf mich zukommt. Das Christentum – das ist das plötzliche Auf­tauchen von Jemandem in meinem Leben. Dieses Kommen impliziert zudem die Geschichtlichkeit des Christentums, die auf Fakten beruht und nicht auf einer Wahrnehmung aus der Tiefe meiner eigenen inneren Welt heraus.

Wenn ich da als Beispiel die Mysterien der Inkarnation und der Trinität nehme, so schreibt Romano Guardini zu Recht, dass wir nicht unsere Intelligenz bemühen, um die drei göttli­chen Personen zu entdecken.

»Wir sehen, sagt der heilige Johannes Chrysostomos in sei­nen Homilien über das Evangelium des heiligen Matthäus, dass Jesus aus uns und unserer menschlichen Substanz her­vorgegangen ist und dass er von einer Jungfrau geboren wurde. Doch wir verstehen nicht, wie sich dieses Wunder ver­wirklichen konnte. Werden wir nicht müde, es herauszufin­den zu versuchen, doch nehmen wir lieber demütig das an, was Gott uns geoffenbart hat, ohne neugierig eingehend das zu untersuchen, was Gott vor uns verborgen hält.«

Für viele Kulturen ist das Christentum Ärgernis und Tor­heit: »Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weis­heit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit« (1 Kor 1,22-23). Dieser Satz des Apostels Paulus zeigt, wie sehr sich unsere Religion im Wesentlichen an einer Person festmacht, die zu uns kommt, um an unser Herz zu appellie­ren und diesem eine neue Ausrichtung zu geben, die unsere ganze Wahrnehmung der Welt durcheinanderbringt.

Auch wenn sich das Christentum nicht auf eine Moral re­duzieren lässt, hat es dennoch moralische Konsequenzen; die Liebe und der Glaube geben dem Leben des Menschen neue Orientierung, Tiefe und Weite. Der Mensch verlässt die Fins­ternis seines vergangenen Lebens. Sein Leben wird durch das Licht erleuchtet, das Christus ist. Er lebt vom Leben Christi. Er kann nur noch in Begleitung Jesu, in Begleitung des Lich­tes, der Wahrheit und des Lebens, wandeln. Nach seiner Be­gegnung mit Jesus verändert ein wahrer Christ sein Verhalten.

Genauso kommt eine vom christlichen Geist erfüllte Ge­sellschaft mit neuem Ehrgeiz voran, was keineswegs mit den Grundsätzen einer heidnischen Gesellschaft zu vergleichen ist. Unter diesem Gesichtspunkt mag ich besonders den Brief an Diognet: »Die Christen […] sind im Fleische, aber sie le­ben nicht nach dem Fleisch. Auf Erden halten sie sich auf, aber im Himmel sind sie Bürger. Sie gehorchen den bestehen­den Gesetzen und überbieten durch ihre eigene Lebensweise die Gesetze, weil sie Jesus Christus treu folgen, der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist.«

Ja, das Christentum lässt sich auf eine Person zusammen­fassen, die ihre Liebe offenbart und schenkt: »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zu Grunde geht, sondern das ewige Leben hat« (Joh 3,16). Es handelt sich dabei sicher nicht um »Moralismus«, sondern um »Moral«. Ist das erste moralische Gebot nicht die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten? Die Erfüllung des Gesetzes, sagt der heilige Paulus, ist die Liebe (Röm 13,10).

Die Liebe bedeutet das Wesen Gottes selbst: »Wenn du die Liebe siehst, siehst du die Heiligste Dreifaltigkeit«, schrieb der heilige Augustinus. Wenn wir die Liebe entdecken, wird un­ser Verhalten in Bezug auf das Gute und das Böse anders sein. In manchen Epochen der Kirchengeschichte hat es eine Form einer sterilen Fixierung auf die moralischen Fragen gegeben. Dieser Abweg konnte keine guten Früchte hervorbringen, da er den wirklichen Charakter der Offenbarung in den Schatten stellte – den radikalen Einbruch Gottes.

Die Kirche wurde wegen eines engen Moralismus, der von einigen Geistlichen gefördert wurde, zuweilen an den Rand gedrängt. Wie viele Gläubige hatten das Gefühl, dass man sie nicht verstand, dass sie manchmal sogar zurückgewiesen wur­den? Wenn Christus in ein Leben tritt, bringt er es aus dem Gleichgewicht und wandelt es von Grund auf um. Er gibt ihm eine neue Orientierung und neue ethische Bezugspunkte; die Taufe ist eine Zäsur in Form eines Bundes und kein moralischer Pakt! Das authentische moralische Verhalten ist der Wi­derschein Desjenigen, den ich in meinem Herzen empfangen habe und der sich durch seine Liebe, seine Vollkommenheit, seine Heiligkeit und seine Güte definiert.

Papst Franziskus lehnt es zu Recht ab, den moralischen Fra­gen einen übertriebenen Stellenwert einzuräumen, ohne sie gleichzeitig herunterzuspielen. Er ist der Auffassung, dass die wichtigste Begegnung die Begegnung mit Christus und dem Evangelium ist; der Heilige Vater handelt wie Benedikt XVI., der die Moral und das Wesen des Christentums auseinander­halten wollte. Bei seinem Besuch im Katharinenkloster am Berg Sinai erklärte Johannes Paul II. im Februar 2000 selbst, dass der durch das göttliche Gesetz aufgezeigte Weg keine moralische Polizeiverordnung ist, sondern der Gedanke Got­tes. Das von Mose verkündete Gesetz Gottes enthält die wich­tigsten Grundsätze, die dringend notwendigen Bedingungen für das spirituelle Überleben der Menschen. Alle Verbote, das es enthält, sind ein Schutz, der die Menschen daran hindert, in den Schlund des Bösen und den Abgrund der Sünde und des Todes zu fallen.

Ein durch die Liebe Gottes beleuchtetes Leben hat es nicht nötig, sich durch moralisierende Schranken zu verschließen, die oftmals Ausdruck uneingestandener Ängste sind. Die Mo­ral ist grundsätzlich eine Konsequenz des christlichen Glau­bens.

Wie kann die Kirche die Berge der Verständnislosigkeit über­winden, die sich seit der von Paul VI. 1968 veröffentlichten En­zyklika Humanae Vitae aufgebaut haben? Ist der Widerstand gegen die christliche Moral und gegen die vorherrschenden Werte der westlichen Gesellschaften noch überwindbar?

Es ist wichtig, diesen Antagonismus in den Kontext der Säku­larisierung und der Entchristlichung zu stellen; der Rückzug großer Teile der modernen Gesellschaft von der Morallehre der Kirche ist mit der Unkenntnis und der Zurückweisung ih­rer Glaubenslehre und ihrem kulturellen Erbe einhergegan­gen. Es gibt da ein komplexes Gefüge, das wir berücksichtigen müssen, eine Gleichgültigkeit Gott gegenüber, die das einfa­che Problem moralischer Regeln überschreitet. Ich glaube, dass die Priester und Bischöfe eine vollgültige Pädagogik ein­setzen müssen, um sich davor zu hüten, sich in allzu gelehrte dogmatische Darstellungen zu flüchten, um verständlich zu machen, dass die Fragen der Sexualmoral nicht die Botschaft der Kirche zusammenfassen; das Vorbild von Franziskus sollte sie heute dabei besonders unterstützen.

Dennoch muss die Kirche wachsam bleiben angesichts des Wertechaos, das zu einer Verwechslung zwischen dem Guten und dem Bösen führt; in unseren relativistischen Gesellschaf­ten wird das Gute zu dem, was dem Individuum gefällt und ihm zusagt. Infolgedessen wird die unverstandene oder ver­achtete Morallehre der Kirche als Emanation eines falschen Guten zurückgewiesen. Die Medien tragen häufig dazu bei, die Position der Kirche absichtlich in Misskredit zu bringen, sie verzerrt darzustellen oder sie stillschweigend zu überge­hen. Die öffentliche Meinung versucht unaufhörlich, die Kir­che als rückständig und mittelalterlich hinzustellen – was für eine Unkenntnis über das Mittelalter! -, die sich weigere, sich der Entwicklung der Welt anzupassen, entschieden ge­gen wissenschaftliche Entdeckungen sei und krampfhaft an alten Idealen festhalte. Angesichts dieser ganzen Schlammla­winen muss man entschlossen und bei klarem Verstand blei­ben, nicht naiv handeln, untadelig sein, beten und mit Gott in Verbindung bleiben. Die Angriffe werden, wenn sie ungerecht sind, vorübergehen.

Wir müssen Paul VI. dankbar sein für den Mut, den er mit der Enzyklika Humanae Vitae bewies. Dieser Text war pro­phetisch, als er eine Moral entfaltete, die das Leben verteidigen kann. Trotz des vielfachen Drucks, der sogar innerkirchlich ausgeübt wurde, sah der Papst den verhängnisvollen Hori­zont dessen sich abzeichnen, was Johannes Paul II. als »Kultur des Todes« bezeichnete. Ich vergesse nicht die heftigen Kriti­ken, denen er ausgesetzt war, als er es ablehnte, die elementa­ren Grundsätze des Lebens aufzugeben. In seiner Nachfolge hat Johannes Paul II. eine sehr gehaltvolle Lehre über den menschlichen Leib und die Sexualität erteilt. Doch wie sehr wurde an seiner Sicht der Moral scharfe Kritik geübt — trotz des Respekts, den man ihm insbesondere nach seinem ent­scheidenden Eingreifen zur Befreiung der Völker Osteuropas vom Joch der kommunistischen Diktatur entgegenbrachte? Er war sich dennoch bewusst darüber, dass die Kirche nicht resi­gnieren durfte. Mit seiner Standhaftigkeit gehorchte er Jesus, der zu Petrus gesagt hatte: »Und wenn du dich wieder bekehrt hast, dann stärke deine Brüder« (Lk 22,32).

Ich glaube, dass die Geschichte der Kirche Recht geben wird, denn die Verteidigung des Lebens ist auch die Verteidi­gung der Menschheit. Heute bekennen sich so viele Organisa­tionen und Gruppen zur Befreiung der Frau, damit sie Her­rin ihres Leibes und ihres Schicksals sei … In Wirklichkeit wird der Körper der Frau jedoch ausgebeutet, in vielen Fällen zu kommerziellen und zu Werbezwecken benutzt, um nicht mehr als eine einfache Ware und ein Objekt des Genusses zu sein. In einer übersexualisierten Gesellschaft, die uns glauben machen will, dass der Mensch sich nur durch eine »erfüllte Se­xualität« vollkommen selbst verwirklicht, scheint mir, dass die Würde der Frau große Rückschritte erlebt. Der Westen ist der Kontinent, der die Frau aufs Schändlichste demütigt und ver­achtet, indem er sie in der Öffentlichkeit entkleidet und sie für hedonistische kommerzielle Zwecke benutzt.

Doch man muss sich darüber freuen, dass viele Frauen zur Hochschulbildung gelangen können. Ebenso ist ihnen das Wahlrecht in Europa erst zu spät eingeräumt worden. Da­rüber hinaus ist es wichtig, dass die Frau eine Arbeit ausüben kann, die mit ihrer Mutterschaft vereinbar ist.

Dennoch täuscht sich der Westen bei seinen Illusionen, wenn er glaubt, dass der moralische Liberalismus einen Fort­schritt der Zivilisation ermöglicht; wie kann man behaupten, dass die durch die neuen Kommunikationsmittel frei zugäng­liche Pornografie, deren abstoßende Sichtweise der Sexuali­tät — die doch an sich heilig ist — sich auf die ganze Gesell­schaft einschließlich der Jüngsten überträgt, das Vorbild für ein Voranschreiten der Welt sei? Wie soll man da begreifen, dass die sich großen Einrichtungen der Vereinten Nationen, die doch angeblich für die Menschenrechte kämpfen, nicht kraftvoll gegen die mächtige europäische und amerikanische Sexindustrie einsetzen? All diese Finsternis ist der Ausdruck einer Welt, die weit entfernt von Christus lebt. Ohne den Sohn Gottes ist der Mensch verloren und die Menschheit besitzt keine Zukunft mehr.

Heute muss die Kirche mit Mut und Zuversicht gegen den Strom ankämpfen, ohne zu fürchten, die Stimme zu erheben, um die Heuchler, die Manipulatoren und die falschen Prophe­ten anzuprangern. 2000 Jahre lang hat die Kirche vielen Ge­genwinden getrotzt, doch am Ende der trockensten Wegstre­cken war der Sieg stets gewiss.

Sie meinen also, dass die Welt sich von dem Vorbild des Westens hypnotisieren lässt?

Auf die Gefahr hin zu schockieren, denke ich, dass der westli­che Kolonialismus sich in Afrika und Asien auch heute noch fortsetzt — noch heftiger und perverser durch die gewaltsame Durchsetzung einer falschen Moral und verlogener Werte. Ich leugne nicht, dass die europäische Zivilisation große Wohl­taten beisteuern konnte, insbesondere durch ihre Missionare, die oftmals große Heilige waren. Sie hat überall die Worte der Evangelien verbreitet wie, auch schöne, durch das Christen­tum gestaltete kulturelle Ausdrucksformen.

Mit Recht betonte Benedikt XVI. in der »Lectio Magistra­lis«, die er als Kardinal Ratzinger 2004 hielt, dass »ein zweiter Punkt, in dem die europäische Identität aufscheint, die Ehe und Familie ist. Die monogame Ehe als grundlegende Struktur der Beziehung zwischen Mann und Frau und zugleich als Keimzelle der staatlichen Gesellschaft hat sich auf der Grund­lage des biblischen Glaubens herausgebildet.« Umgekehrt gibt es wiederholte Versuche, eine neue Kultur einzubürgern, die das christliche Erbe in Abrede stellt.

In Bezug auf meinen Herkunftskontinent möchte ich mit allem Nachdruck den Willen anprangern, falsche Werte auf­zuzwingen, indem man sich politischer und finanzieller Ar­gumente bedient. In manchen afrikanischen Ländern wur­den Genderministerien im Austausch gegen wirtschaftliche Förderung eingerichtet! Einige afrikanische Regierungen, die zum Glück in der Minderheit sind, haben dem Druck zuguns­ten eines allgemeinen Zugangs zu sexuellen und reprodukti­ven Rechten bereits nachgegeben. Mit großem Schmerz stellen wir fest, dass die reproduktive Gesundheit zu einer weltweiten politischen »Norm« geworden ist, die das Perverseste enthält, was der Westen der übrigen Welt auf ihrer Suche nach einer ganzheitlichen Entwicklung anzubieten hat. Wie können die westlichen Staatsoberhäupter nur einen derartigen Druck auf ihre Amtskollegen aus oftmals schwachen Ländern ausüben? Die Genderideologie ist zur perversen Bedingung für die Ko­operation und Entwicklung geworden.

Im Westen fordern Homosexuelle, dass ihr Zusammenle­ben juristisch anerkannt werde, um es der Ehe gleichzustel­len; in Anknüpfung an deren Forderungen üben Organisa­tionen starke Pressionen aus, damit dieses Modell auch von den afrikanischen Regierungen im Sinne der Einhaltung der Menschenrechte anerkannt werde. In diesem konkreten Fall überschreiten wir meines Erachtens die Grenzen der Moral­geschichte der Menschheit. In anderen Fällen kann ich das Vorhandensein internationaler Programme feststellen, die die Abtreibung und die Sterilisation von Frauen aufzwingen.

Diese Politiken sind umso abscheulicher, als der größte Teil der afrikanischen Bevölkerungen fanatischen westlichen Ideologen schutzlos ausgeliefert ist. Die Armen bitten um ein wenig Unterstützung und die Menschen sind grausam genug, um ihren Geist zu verderben. Afrika und Asien müssen ihre Kulturen und ihre eigenen Werte unbedingt schützen. Die in­ternationalen Organisationen haben in der Tat keinerlei Recht, diesen neuen malthusianischen und brutalen Kolonialismus zu praktizieren. Aus Unwissenheit oder Komplizenschaft wä­ren die afrikanischen und asiatischen Regierungen schuld da­ran, wenn ihre Völker euthanasiert würden. Die Menschheit verlöre so viel, wenn diese Kontinente in dem dichten Morast versinken würden, der sich nicht von dem einem unmensch­lichen Ideal zugewandten Globalismus unterscheidet, der in Wirklichkeit eine abscheuliche oligarchische Barbarei ist.

Der Heilige Stuhl muss seine Rolle spielen. Wir können nicht die Propaganda und die Interessengruppen der LGBT­Lobbys (der Lobbys der Lesben, Schwulen, Bi- und Trans­sexuellen) akzeptieren. Der Vorgang ist umso beunruhigen­der, als er sich rasant und erst jüngst abspielt. Woher kommt dieser erzwungene Wille, die Gendertheorie durchzusetzen? Eine anthropologische Sicht, die noch vor einigen Jahren un­bekannt war – das Ergebnis des sonderbaren Denkens eini­ger Soziologen und Schriftsteller wie Michel Foucault -, sollte damit zum neuen Eldorado der Welt werden? Vor einem sol­chen unmoralischen und dämonischen Betrug ist es unmög­lich, untätig zu bleiben.

Papst Franziskus kritisiert zu Recht das Vorgehen des Dä­mons, der daran arbeitet, die Fundamente der christlichen Zi­vilisation zu untergraben. Hinter der neuen prometheischen Sicht Afrikas oder Asiens steht das Brandzeichen des Teufels.

Die eifrigsten Feinde der Homosexuellen sind die LGBT­Lobbys selbst. Es ist ein großer Irrtum, ein Individuum auf seine Verhaltensweisen, insbesondere auf seine sexuellen, zu reduzieren. Letztlich rächt sich die Natur immer.

Ist der Kampf Johannes Pauls II. gegen diese »Kultur des Todes« Ihrer Meinung nach immer noch aktuell?

Zu Beginn der 1990er-Jahre hat der Papst einen großen Kampf gestartet, als er sah, wie die Völker Osteuropas nach und nach in der Unterdrückung durch den Materialismus und den mo­ralischen Relativismus versanken, der noch heimtückischer als die sowjetische Ideologie ist. Johannes Paul II. war sich da­rüber im Klaren, dass die neuen Gefährdungen des Lebens zu einem regelrechten Sozialsystem, zu einer hündischen Skla­verei wurden. Ich glaube, dass die Ideologie des Malthusia­nismus noch immer ebenso mächtig ist; ihre Idee bleibt auch weiterhin bestehen und ihr Aktionsprogramm sieht eine För­derung einer geburtenbeschränkenden Politik in zahlreichen armen Ländern vor. Auch die internationalen Statistiken über die Abtreibungen sind erschreckend. 2014 wurde weltweit von vier Schwangerschaften etwa eine absichtlich abgebro­chen. Das bedeutet etwas mehr als 40 Millionen Abtreibun­gen in einem einzigen Jahr. Diese Anzahl ist umso beachtli­cher, als dass das Recht auf Abtreibung – das heißt die legale Erlaubnis, ein unschuldiges Baby zu töten – in drei Viertel der Länder glücklicherweise sehr beschränkt bleibt.

Bei der außerordentlichen Synode über die Familie im Ok­tober 2014 erklärte uns der Erzbischof von Ho-Chi-Minh­-Stadt, Msgr. Paul Bui Van Doc, dass der dramatischste Fall Vietnam sei. Tatsächlich werden in dem Land 1.600.000 Ab­treibungen pro Jahr praktiziert, davon 300.000 bei Jugendli­chen von 15 bis 19 Jahren. Für das Land handelt es sich um eine wahre Katastrophe.

In Frankreich werden jährlich 220.000 freiwillige Schwan­gerschaftsabbrüche praktiziert, das heißt, auf drei Geburten kommt eine Abtreibung.

Es gibt eine mit gigantischen Mitteln finanzierte Kriegser­klärung gegen das Leben. Wie kann man es begreifen, dass so viele wehrlose Kinder im Schoß ihrer Mutter unter dem Vor­wand eines Rechtes der Frau auf die Freiheit ihres Körpers be­seitigt werden? Der Kampf um die Würde der Frau ist ein ed­ler und harter Kampf, doch er verläuft nicht über den Mord an ungeborenen Kindern. Johannes Paul II. war sich darüber bewusst, dass sich hinter den noblen Absichten ein regelrech­tes Kampfprogramm gegen das Leben verbarg. Wenn ich in Afrika die wahnsinnig hohen Summen sehe, die von der Bill Melinda Gates Foundation mit dem Ziel versprochen wer­den, den Zugang zur Verhütung für Frauen und unverheira­tete Mädchen exponentiell zu steigern und damit den Weg zur Abtreibung frei zu machen, kann ich angesichts eines solchen Todeswillens nur aufbegehren.

Welche Motivationen verbergen sich hinter diesen groß an­gelegten Kampagnen, die zu Zehntausenden von Toten füh­ren werden? Gibt es einen gut einstudierten Plan, um die Ar­men in Afrika und anderswo aus dem Weg zu räumen? Gott und die Geschichte werden es uns eines Tages sagen.

Heute ist die Euthanasie zum neuen ideologischen Kampf der westlichen Postmoderne geworden. Wenn ein Mensch seinen Lebenslauf auf dieser Erde beendet zu haben scheint, meinen manche Organisationen unter dem Deckmantel, sein Leiden zu erleichtern, dass es besser sei, ihn umzubringen. In Belgien ist dieses Recht, das gar kein Recht ist, soeben auf Minderjährige ausgeweitet worden! Unter dem Vorwand, ei­nem leidenden Kind zu helfen, ist es möglich, es kaltblütig zu töten. Die Anhänger der Euthanasie wollen ausblenden, dass die Palliativversorgung heutzutage bestens an diejenigen an­gepasst wird, die keine Hoffnung mehr auf Heilung haben; der eiskalte und brutale Tod ist zur einzigen Antwort geworden. Die Euthanasie ist das schrillste Anzeichen einer Gesellschaft ohne Gott, einer untermenschlichen Gesellschaft, die die Hoff­nung verloren hat. Ich bin noch immer darüber verblüfft, wie sehr diejenigen, die diese Kultur propagieren, sich mit einem guten Gewissen umhüllen und sich ein leichtfüßiges Helden­gebaren einer neuen Humanität geben. Durch eine Art selt­samen Rollentausch werden die Menschen, die für das Leben kämpfen, zu Scheusalen, die man zur Strecke bringen muss, zu Barbaren aus einer anderen Zeit, die den Fortschritt ablehnen. Mithilfe der Medien suggerieren die Wölfe, dass sie großher­zige Schafe an der Seite der Schwächsten sind! Doch der Plan der Förderer von Abtreibung, Euthanasie und all den Verstö­ßen gegen die Würde des Menschen ist noch gefährlicher.

Wenn wir aus der Kultur des Todes nicht aussteigen, läuft die Menschheit in ihr Verderben. Zu Beginn dieses dritten Jahrtausends gilt die Vernichtung von Leben nicht mehr als Barbarei, sondern als ein Fortschritt der Zivilisation; das Ge­setz gibt unter einem Recht zur individuellen Freiheit vor, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, seinen Nächsten zu töten. Die Welt könnte zu einer regelrechten Hölle werden. Es handelt sich nicht mehr um einen Verfall, sondern um eine Schreckensdiktatur, um einen programmierten Genozid, für den die westlichen Mächte verantwortlich sind. Dieser erbit­terte Kampf gegen das Leben stellt eine neue entscheidende Etappe in dem erbitterten Kampf gegen den Plan Gottes dar. Dennoch stelle ich bei all meinen Reisen ein Erwachen der Gewissen fest. Die jungen Christen Nordamerikas treten zu­nehmend in den Vordergrund, um die Kultur des Todes zu­rückzudrängen. Gott schläft nicht. Er ist wirklich bei denen, die das Leben verteidigen!

Glauben Sie, dass Johannes Paul II. ein Prophet war?

Die Heiligen sind immer Propheten. Sie übermitteln uns treu die Vision, den Willen, die Liebe und die Zuversicht Gottes. Dieser außergewöhnliche Papst ist heute im Verzeichnis der Heiligen der Kirche eingeschrieben. Doch ich glaube, dass wir uns noch nicht ganz bewusst über seine Bedeutung als Visio­när sind. Die Art und Weise, mit der Johannes Paul II. die Hei­ligkeit und die Unverletzlichkeit des Lebens zu einem priori­tären Anliegen machte, bahnt uns jenseits seiner Anwesenheit unter uns einen unendlichen Weg. Er hat lediglich an das hei­lige Gesetz Gottes erinnert: »Du sollst nicht töten«; zugleich wirkte die einfache Größe seiner Worte und seine Überzeu­gungskraft befreiend auf diejenigen, die die Finsternisse schon auf dem Vormarsch sahen.

Der Ausruf »Habt keine Angst!« ist die schönste Nachwir­kung, die sich Paul VI. hätte erträumen können – er, der so sehr unter den Kritiken litt, die sich nach seiner Enzyklika Humanae Vitae wie ein Strom des Hasses über ihn ergossen. Johannes Paul II. konnte mit den schmalzigen Einwänden der Anhänger eines antichristlichen Humanismus nichts anfan­gen. Er verstand es, Samenkörner zu säen, durch die es mög­lich wurde, eine neue Kultur ins Leben zu rufen. Dieser Papst nahm die Probleme umso ausgeprägter wahr, als er selbst an seinem eigenen Leib die Missachtung der elementarsten Grundrechte erlebt hatte. Durch die Diktatur der Nationalso­zialisten und der Kommunisten besaß er eine persönliche Er­fahrung des wirklichen Kampfes für die menschliche Freiheit. Daher konnte er es nicht hinnehmen, dass sich die Verfechter der Kultur des Todes hinter dem Paravent einer angeblichen Förderung der Menschenrechte verstecken, um ihre zerstöre­rischen Pläne voranzutreiben. 1995 schrieb er in Evangelium Vitae: »Auf diese Weise gelangt ein langer historischer Prozess an einen Wendepunkt mit tragischen Folgen, ein Prozess, der nach Entdeckung der Idee der ›Menschenrechte‹ – als Rechte, die zu jeder Person gehören und jeder Verfassung und Ge­setzgebung der Staaten vorausgehen – heute in einen überra­schenden Widerspruch gerät: Gerade in einer Zeit, in der man feierlich die unverletzlichen Rechte der Person verkündet und öffentlich den Wert des Lebens geltend macht, wird dasselbe Recht auf Leben, besonders in den sinnbildhaftesten Augen­blicken des Daseins, wie es Geburt und Tod sind, praktisch verweigert und unterdrückt.«

Johannes Paul II. wollte die Schizophrenie unserer Welt an­prangern, die abscheuliche Situationen durch edle Gefühle kaschiert. Er wusste, dass in dieser Epoche mit dem vermehr­ten Auftreten falscher Propheten, mit den Strategen des Bö­sen und den Weissagern einer Zukunft ohne Hoffnung, zu rechnen sein werde; doch Karol Wojtyla strebte nicht danach, ein Held zu sein, denn er war einfach nur ein Bote Gottes. In Frankreich sind die Großdemonstrationen, die sich aus Protest gegen die Umsetzung einer verlogenen Ehe zwischen Per­sonen gleichen Geschlechts vervielfacht haben, ebenfalls eine Reaktion auf den Aufruf von Johannes Paul II. in Bourget am 1. Juli 1980 bei seiner ersten Pastoralreise nach Frankreich: »Heute möchte ich in der Hauptstadt der Geschichte eurer Nation die Worte wiederholen, auf die ihr zu Recht stolz seid: Älteste Tochter der Kirche. […] Es gibt nur ein Problem, und das ist das Problem der Treue zum Bund mit der ewigen Weis­heit, die der Ursprung einer wahren Kultur ist, das heißt des menschlichen Wachstums, sowie das Problem der Treue ge­genüber dem Versprechen unserer Taufe im Namen des Va­ters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Lasst mich euch da­her fragen: Frankreich, älteste Tochter der Kirche, bist du den Versprechen deiner Taufe treu? Gestattet mir, euch zu fragen: Frankreich, älteste Tochter der Kirche und Lehrerin der Völ­ker, bist du zum Wohl des Menschen dem Bund der ewigen Weisheit treu? Verzeiht mir diese Frage! Ich habe sie so ge­stellt, wie es der Priester im Augenblick der Taufe tut. Ich habe sie aus Fürsorge für die Kirche gestellt, deren erster Priester und erster Diener ich bin, sowie aus Liebe zu dem Menschen, dessen endgültige Größe in Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist ist.« Der Papst aus Polen hat den revolu­tionären Geist der Heiligen wieder belebt, die die ganze Ge­schichte Frankreichs prägten.

In zahlreichen Vorträgen und auch in diesem Buch prangern Sie ausdrücklich die Gendertheorie an. Warum insistieren Sie im­mer wieder darauf?

Die afrikanische Philosophie betont: »Der Mann ist nichts ohne die Frau, die Frau nichts ohne den Mann und die beiden sind nichts ohne ein drittes Element – das Kind.« Die afrikanische Sicht vom Menschen ist von Grund auf trinitarisch. In jedem Einzelnen von uns gibt es etwas Göttliches; der eine und drei­faltige Gott wohnt in uns und durchdringt unser ganzes Sein.

Der Genderideologie zufolge gibt es zwischen dem Mann und der Frau jedoch keinen ontologischen Unterschied. Es heißt, dass die männlichen und weiblichen Identitäten nicht in die Natur eingeprägt seien; es handele sich um das Ergeb­nis einer sozialen Konstruktion, um eine Rolle, die die Indi­viduen anhand von sozialen Aufgaben und Funktionen spiel­ten. Für diese Theoretiker ist das Geschlecht »performativ« (das heißt, Geschlechteridentität vollzieht sich erst durch die sprachliche Aussage über das Geschlecht, A. d. Ü.) und die Unterschiede zwischen Mann und Frau seien lediglich nor­mative Unterdrückungen, kulturelle Stereotype und soziale Konstruktionen, von denen man sich befreien müsse, um die Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen. Die Idee ei­ner konstruierten Identität leugnet im Grunde genommen auf unrealistische Weise die Bedeutung des geschlechtlichen Lei­bes. Ein Mann wird niemals eine Frau und diese wird niemals ein Mann, ganz gleich, welche Verstümmelungen der eine oder andere auch über sich ergehen lassen mag. Die Aussage, dass die menschliche Sexualität nicht mehr von der männli­chen oder weiblichen Identität abhänge, sondern von sexuel­len Orientierungen wie der Homosexualität, ist ein wahnhaf­ter Totalitarismus.

Für eine derartige Täuschung sehe ich keine Zukunft. Meine Sorge gilt eher der Art und Weise, wie Staaten und in­ternationale Organisationen versuchen, mit allen Mitteln den Dekonstruktivismus, die so genannte Gender-Philosophie, im Gewaltmarsch durchzusetzen. Wenn die Sexualität einzig und allein eine soziale und sexuelle Konstruktion ist, gehen wir nun dazu über, die Art und Weise infrage zu stellen, durch die sich die Menschheit seit ihren Ursprüngen fortpflanzt. Ei­gentlich ist eine solche extreme Sicht kaum ernst zu nehmen. Wenn sich Forscher für derart aus der Luft gegriffene und ge­fährliche Äußerungen hergeben, steht ihnen das natürlich frei; doch ich werde es niemals hinnehmen, dass diese Theo­rien direkt oder schleichend wehrlosen Bevölkerungen aufge­zwungen werden. Wie stellen Sie sich das vor, dass ein kleines Kind oder ein Heranwachsender in den entlegenen Gebieten Afrikas sich angesichts derartiger lügnerischer Spekulationen sich wehren könne?

Es ist eine Sache, homosexuelle Personen tatsächlich zu re­spektieren, aber es ist etwas anderes, die Homosexualität als ein Gesellschaftsmodell zu fördern.

Dieses Verständnis menschlicher Beziehungen schadet im Grunde den Homosexuellen, die zu Opfern von Ideologen geworden sind, denen ihr Schicksal gleichgültig ist. Natür­lich muss man darauf achten, dass die Homosexuellen nicht zum Ziel empörender und hinterhältiger Angriffe werden. Dennoch halte ich es für abwegig, diese Form der Sexualität in den Rang einer progressiven Weltanschauung erheben zu wollen. Ich stelle fest, dass bestimmte einflussreiche Struktu­ren aus der Homosexualität den Pfeiler einer neuen Weltethik machen wollen. Doch jedes extremistische ideologische Pro­jekt trägt in sich seine eigene Niederlage; ich fürchte, dass die Homosexuellen früher oder später die ersten Opfer derartiger politischer Übergriffe sein werden.

Die afrikanische Kultur räumt der Familie eine große Bedeu­tung ein. Wie könnte dieses Modell für die Kirche und die übrige Welt interessant werden?

Die afrikanische Familie ist zunächst um ein Gemeinschaftsle­ben herum aufgebaut. Geld spielt für viele Menschen nur eine nebensächliche Rolle. Meine Familie war arm, doch wir waren glücklich und hielten fest zusammen. In Guinea bleibt die Fa­milie die wichtigste Zelle der Gesellschaft — der Ort, an dem wir lernen, aufmerksam mit den anderen umzugehen und ih­nen, ohne uns hervorzutun, zu dienen. Ich glaube, dass Europa und das Abendland die Bedeutung der Familie wiederfinden müssen, indem sie auf die Traditionen schauen, die Afrika nie­mals aufgegeben hat. Auf meinem Kontinent stellt die Familie als Wiege der selbstlosen Liebe den Schmelztiegel an Werten dar, die die ganze Kultur — den Ort der Weitergabe der Gebräu­che — mit der Weisheit und den moralischen Grundsätzen ver­sorgt. Ohne die Familie wird es weder Gesellschaft noch Kir­che geben. In der Familie vermitteln die Eltern den Glauben. Es ist die Familie, die die Fundamente legt, auf denen wir das Gebäude unserer Existenz errichten. Die Familie ist die kleine Kirche, in der wir anfangen, Gott zu begegnen, Ihn zu lieben und eine persönliche Beziehung zu Ihm zu knüpfen.

Mein Vater hat mir beigebracht, die Jungfrau Maria sehr zu lieben. Ich habe ihn noch vor Augen, wie er sich im Sand von Ourous auf die Knie warf, um jeden Tag mittags und abends den Angelus zu beten. Ich werde nie die Augenblicke verges­sen, als er die Augen schloss, um Maria zu danken. Ich eiferte ihm nach und sagte an seiner Seite meine Gebete für die Mut­ter Jesu auf.

Die Eltern sind die ersten Erzieher des Menschen. In der Familie kann der Mensch lernen, zu leben und die Gegen­wart Gottes zum Ausdruck zu bringen. Wenn Christus eine familiäre Bindung schafft, dann wird diese von einer unzer­störbaren Festigkeit sein. In Afrika ist den alten Menschen ein bedeutender Platz vorbehalten; der ihnen erwiesene Res­pekt ist einer der Eckpfeiler der afrikanischen Gesellschaft. Ich glaube, dass sich der Europäer nicht bewusst darüber ist, wie sehr die Völker Afrikas über die geringe Beachtung er­schüttert sind, die den alten Menschen in den westlichen Län­dern entgegengebracht wird. Wie man hier das Alter versteckt und es von der Gesellschaft fernhält, ist das Anzeichen eines bedenklichen Egoismus, mangelnder Herzensbildung oder besser gesagt einer Verhärtung. Natürlich verfügen die alten Menschen über jeglichen Komfort und die nötige körperliche Betreuung. Doch es fehlt ihnen die Herzlichkeit, die mensch­liche Nähe und Zuneigung ihrer Angehörigen, die durch ihre beruflichen Verpflichtungen, ihre Freizeitvergnügungen und ihre Urlaubsreisen zu beschäftigt sind.

Doch eigentlich ist die Familie ein Raum, in dem der Mensch lernt, im Dienst der Gesellschaft zu stehen. In Afrika ist die Familie nie in sich selbst verschlossen; sie nehmen ih­ren Platz in einem großen sozialen Gefüge ein. Die Ethnie und das Dorf sind im Allgemeinen die natürliche Erweiterung der Familie; die Ethnie trägt die Kultur und bewahrt und vermit­telt die ganz alten Traditionen. »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen«, heißt es in einem afrikanischen Sprichwort. Jeder empfängt etwas von der Gruppe, indem er sich gleichzeitig an ihrem Überleben beteiligt; ich spreche vom Überleben, denn nichts ist einfach. Ich weiß natürlich, dass dieses Zusammengehörigkeitsgefühl auch sehr störanfäl­lig sein kann, insbesondere dann, wenn Ethnien in Haltun­gen des Stolzes, des Hasses und der Verachtung anderer zu­rückfallen.

Dennoch ersetzt nichts die Familie, in der wir verstehen, was Geben und Lieben in ihrem tiefsten Sinn bedeuten. Von meinen Eltern habe ich zu geben gelernt. Wir waren es ge­wohnt, zu empfangen, was in mir die Bedeutung der Auf­nahme und der Dankbarkeit einprägte. Die anderen Men­schen aufzunehmen, bedeutete für meine Eltern und alle Bewohner meines Dorfes, dass wir versuchten, sie glücklich zu machen. Die Harmonie der Familie kann das Abbild der Harmonie des Himmels sein. Das ist der wahre Schatz Afri­kas!

Andere Regionen der Welt wären ernsthaft in Gefahr, wenn sie diese »Quelle der Gabe« verlieren würden. Bereits im No­vember 1981 verspürte Johannes Paul II. in seinem Aposto­lischen Schreiben Familiaris Consortio die dringende Not­wendigkeit zu schreiben, dass die »Situation, in der sich die Familie befindet, (…) positive und negative Aspekte« auf­weise: »Die einen sind Zeichen für das in der Welt wirksame Heil in Christus, die anderen für die Ablehnung, mit der der Mensch der Liebe Gottes begegnet. Einerseits ist man sich der persönlichen Freiheit mehr bewusst, schenkt der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Ehe, der Förde­rung der Würde der Frau, der verantworteten Elternschaft, der Erziehung der Kinder größere Aufmerksamkeit; man weiß darüber hinaus um die Notwendigkeit der Entwicklung von Beziehungen zwischen den einzelnen Familien zu gegen­seitiger spiritueller und materieller Hilfe; man entdeckt wie­der neu die der Familie eigene ekklesiale Sendung und ihre Verantwortung für den Aufbau einer gerechteren Gesell­schaft. Andererseits aber gibt es Anzeichen einer besorgnis­erregenden Verkümmerung fundamentaler Werte: eine irrige theoretische und praktische Auffassung von der gegenseitigen Unabhängigkeit der Eheleute; die schwerwiegenden Missver­ständnisse hinsichtlich der Autoritätsbeziehung zwischen El­tern und Kindern; die häufigen konkreten Schwierigkeiten der Familie in der Vermittlung der Werte; die steigende Zahl der Ehescheidungen; das weit verbreitete Übel der Abtrei­bung; die immer häufigere Stilisierung; das Aufkommen einer regelrechten empfängnisfeindlichen Mentalität«.

Ich weiß, dass die afrikanische Familie noch wunderbare Perspektiven hat, die sich ihr eröffnen. Ich möchte nicht da­ran zweifeln, dass solche Zusicherungen auch für die europäi­schen, amerikanischen, asiatischen und ozeanischen Familien bestehen. Der Kampf um den Fortbestand der Wurzeln der Menschheit ist vielleicht die größte Herausforderung, der un­sere Welt seit ihren Ursprüngen begegnet.

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Quelle: Robert Kardinal Sarah und Nicolas Diat: GOTT oder Nichts – Ein Gespräch über den Glauben – mit einem Vorwort von Georg Gänswein. fe-medienverlag GmbH, D-88353 Kißlegg. ISBN 978-3-86357-133-7. 1. Auflage 2015



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