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KARDINAL SARAH: »GOTT ODER NICHTS« (7)

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Cardinal Robert Sarah of Guinea walks near St. Peter's square February 18, 2013. REUTERS/ Alessandro Bianchi ( ITALY - Tags: RELIGION) - RTR3DYLZ

(Fortsetzung zum 6. Beitrag)

VII
UM IN DER WAHRHEIT
ZU STEHEN

»Das Gebet war in gewisser Weise der Leim,
der meiner Freiheit erlaubt hat, Gestalt anzunehmen.«

James Foley, amerikanischer Journalist,
der am 19. August 2014 in Syrien ermordet wurde

 

NICOLAS DIAT: Wie würden Sie den Begriff »Glauben« defi­nieren?

KARDINAL ROBERT SARAH: Der Glaube hat Ähnlich­keit mit der Antwort eines Brautpaars. Durch das Ja, das sie ihr ganzes Leben lang binden wird, besiegeln zwei Menschen ihre Liebe. Dieses Gefühl der Liebe beruht auf beiderseiti­gem Glauben: Man vertraut dem anderen und zählt auf seine Treue für die Zukunft. Auf diese Weise werden die beiden ein Fleisch. In der Liebe entsagt jeder bescheiden sich selbst, er entfaltet sich und wächst im anderen. »Die Liebe ist in mir ge­wachsen!«, hat die heilige Theresia von Lisieux scheu, doch mit Bestimmtheit gesagt. Im Glauben und in der Liebe wächst Gott in mir und erhebt mich zu sich. Doch der Glaube ist auch eine Gabe Gottes, denn der Mensch antwortet immer frei auf den Ruf des Himmels. Es handelt sich nicht um eine theore­tische Antwort, sondern um eine persönliche Erfahrung Got­tes, so wie Er ist.

Wenn wir Gott antworten, gründen wir unser Leben auf Ihn und der Herr setzt seine Hoffnung auf uns. Gott will den Menschen immer nach Seinem Bild und Gleichnis gestalten. Es ist wichtig, zu verstehen, dass der Glaube ein Bund der Liebe ist, der uns mit der geliebten Person eins werden lässt.

In seinem Buch »Das Zeichen des Jonas« hat Thomas Mer­ton sich gefragt: »Ist es möglich, zu behaupten, dass die Seele durch die Liebe die ›Form‹ Gottes erhält? In der Sprache des heiligen Bernhard stellt diese Form, diese Gottähnlichkeit, die Identität dar, für die wir geschaffen wurden. So können wir sagen: ›Caritas haec visio, haec similitudo est – Die Liebe ist diese Anschauung, diese Ähnlichkeit.‹ Durch die Liebe werden wir Gott unmittelbar ähnlich und ›schauen‹ Ihn in mystischer Liebe, das heißt, wir erfahren Ihn, wie Er in Sich ist.«

Der Glaube ist die schönste Gotteserfahrung. Ein einzig­artiges Beispiel dafür bietet Abraham. Nachdem er den Ruf vernommen hatte, machte er sich voller Vertrauen auf den Weg. Wir sind die Kinder Abrahams, unseres Vaters im Glau­ben, und wir zählen zur Reihe der geistlichen Nachfahren des Volkes des Exodus, das durch die Wüste zieht. Auf dieselbe Weise sind die Christen auch die Kinder der Jünger Jesu, de­rer, die Ihm nachfolgten. So kann der Glaube wie eine spiri­tuelle Wanderung beschrieben werden, bei der wir nur durch die Stimme Gottes geleitet und geführt werden. Anders aus­gedrückt würde ich sagen: Der Glaube ist das Festhalten an ei­nem Wort, von dem ich annehme, dass es aus größerer Ferne und Höhe kommt als ich selbst. Die ganze Bibel entwickelt ständig diesen providenziellen Ausgangspunkt.

Der Glaube ist auch ein Akt, der uns schrittweise und defi­nitiv verändert.

Wie Abraham akzeptieren musste, seinen Sohn Isaak zu op­fern, das Kind der Verheißung, ist der Glaube ein Akt, der uns radikal anders macht. Nach der Abraham auferlegten Prüfung, seinen Sohn zu opfern, sind Abraham und Isaak nicht mehr dieselben; Isaak ist nicht mehr derselbe Sohn für Abraham. Er wurde geschenkt und Gott zurückgegeben, er ist das Zeichen einer anderen Kindschaft geworden. Gleichermaßen lebt Ab­raham nicht mehr nur wie der Mann, der ein Geschenk Gottes empfangen hat: das Geschenk seines Sohnes Isaak. Er ist derje­nige, der die Enteignung von diesem Geschenk und seine Wie­dererlangung als geistliches Erbe angenommen hat.

Der Glaube ist eigentlich immer ein österlicher Weg auf der Suche nach dem Willen des Vaters, gemäß dem Vorbild der Treue Abrahams und seines Gehorsams bis zum Opfer seines Sohnes Isaak. Der heilige Paulus beschreibt den Glauben als Gehorsam gegenüber dem Vater (Röm 1,5; 16,26). Doch wir müssen verstehen, dass unser Gehorsam zum Berg des Opfers führen kann. Der Weg des Glaubens besteht darin, dass der Mensch dem Willen Gottes zustimmt. Die Gebote des Vaters sind immer eine Charta für das Leben, die uns liebende Zu­stimmung abverlangt. Der Glaube besteht darin, das zu wol­len, was Gott will, das zu lieben, was Gott liebt, auch wenn uns das bis ans Kreuz führt.

Wir setzen unseren Glauben auf Jesus Christus. Auf ihn stützen wir uns, denn er ist der »Urheber und Vollender des Glaubens« (Hebr 12,2). Durch ihn rufen wir zu Gottes Lob­preis das »Amen« (vgl. 2 Kor 1,20). Das Wort Amen bezieht sich im Hebräischen auf etwas Dauerhaftes und Vertrauens­würdiges. Dieses Wort bringt also die Treue des Menschen als Antwort auf die Treue Gottes in Jesus Christus zum Ausdruck. Wir können uns auf Gott stützen, wie auf einen Felsen, mit der Überzeugung und der Zuversicht, dass er selbst am Rande des Abgrunds nicht einstürzen wird. In einer Beziehung des Glaubens ist Gott meine Burg, meine Festung und mein Fels.

Der Glaube setzt keine Garantien voraus. Der Gläubige wandert in der Nacht, wie ein Pilger, der das Licht sucht. Was er weiß, weiß er nur im Halbschatten des Abends, er wandert mit Hilfe einer »cognitio vespertina« und noch nicht mit ei­ner »cognitio matutina«, einer Erkenntnis in der klaren Sicht, nach der schönen Terminologie des heiligen Augustinus und des heiligen Thomas.

Wenn ich mich auf eine sehr suggestive mittelalterliche Etymologie beziehe, dann kann ich nicht übersehen, dass das Wort »Credo – Ich glaube« auch »cor-dare – sein Herz schen­ken« bedeutet, also es bedingungslos den Händen eines Ande­ren zu überlassen.

Der Mensch, der glaubt, willigt ein – wie Abraham –, ein Gefangener des unsichtbaren Gottes zu werden; er erklärt sich bereit, vom Vater in Besitz genommen zu werden, im gehor­samen Hören, in der Fügsamkeit seines Herzens und im Licht seines Verstands. Der Weg zu Gott ist Einwilligung und Hin­gabe, ohne darauf zu warten, Vorteile aus beruhigend wirken­den Garantien zu ziehen. Der heilige Paulus hat uns dieses wunderbare Programm geschenkt: »Ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin« (Phil 3,12).

Am 8. April 2014 hat Papst Franziskus in einer Predigt in Santa Marta daran erinnert: »Das Christentum ist keine phi­losophische Lehre, es ist kein Lebensprogramm, um zu über­leben, um wohlerzogen zu sein, um Frieden zu schließen. Das sind nur die Folgen. Das Kreuz ist das Geheimnis der Liebe Gottes, der sich selbst erniedrigt. Es gibt kein Christentum ohne das Kreuz. Es gibt keine Möglichkeit, uns ganz allein aus unserer Sünde zu befreien. Christus erniedrigt sich, um uns zu erlösen. Und so, wie in der Wüste die Sünde an einer Stange festgemacht wurde, so wurde hier der für uns Mensch gewordene Gott ans Kreuz gehängt. Und all unsere Sünden waren da. Man kann das Christentum nicht verstehen, wenn man diese tiefe Demütigung des Sohnes Gottes nicht versteht, der sich selbst erniedrigte und ein Knecht wurde bis zum Tod am Kreuz. Um uns zu dienen.« Weiter sagte der Heilige Va­ter: »Der Mittelpunkt der göttlichen Erlösung ist sein Sohn, der all unsere Sünden, unseren Hochmut, unsere Gewisshei­ten, unsere Eitelkeit, unser Verlangen, Gott gleich zu werden, auf sich genommen hat. Ein Christ, der es nicht versteht, sich im gekreuzigten Christus zu rühmen, hat nicht verstanden, was es heißt, Christ zu sein. Unsere Wunden, die die Sünde in uns hinterlassen hat, heilen nur dank der Wunden des Herrn, dank der Wunden Gottes, der Mensch geworden ist, der er­niedrigt, der getötet worden ist.«Mir gefällt diese Betrachtung des Papstes ausgesprochen gut, weil sie zeigt, wie sehr der Glaube unser ganzes Dasein einbezieht. Der bis zu seiner höchsten Stufe geführte Glaube ist absolute Entäußerung in Gott. Ich denke, dass auf dieser Erde die Kartäusermönche, die Söhne des heiligen Bruno, ei­nes der schönsten Beispiele dafür sind, das Leben ganz Gott zu schenken. In ihren Einsiedeleien zählt nichts außer der göttlichen Hoffnung.

Wie kann man diese Hoffnung beschreiben?

Die Hoffnung ist nichts anderes als der christliche Optimis­mus. Sie erlaubt dem Menschen, fest im Glauben zu bleiben, ganz beruhigt durch Gottes Verheißungen. In der Hoffnung ist Gott der Garant meiner Zukunft und meiner gelassenen Standfestigkeit. Christen müssen immer optimistisch und froh sein: Doch es handelt sich um ein Gefühl, das aus dem Glauben an die Macht eines Gottes entsteht, der niemals einen Kampf verliert, damit der Mensch den Frieden und die Herr­lichkeit bei Ihm erfahren kann. Der Glaube ist das Funda­ment der Hoffnung, eine neue Dimension des Menschen, die ihn zur Gottheit führt. In seinem Brief an die Römer schreibt der heilige Paulus: »Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. Durch ihn haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen, und rühmen uns unserer Hoffnung auf die Herr­lichkeit Gottes. Mehr noch, wir rühmen uns ebenso unserer Bedrängnis; denn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoff­nung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist« (Röm 5,1-5).
Da unser Glaube und unsere Hoffnung in Gott ruhen, ha­ben wir nichts zu befürchten. Der Christ kann zuversichtlich sagen: »Und nun, Herr, worauf soll ich hoffen? Auf dich allein will ich harren. Ich bin verstummt, ich tue den Mund nicht mehr auf. Denn so hast du es gefügt« (Ps 39,8.10).

Benedikt XVI. hat 2007 in seiner Enzyklika Spe salvi au­ßergewöhnlich klare Worte über die Hoffnung geschrieben: »Hoffnung ist in der Tat ein Zentralwort des biblischen Glau­bens; so sehr, dass die Wörter Glaube und Hoffnung an ver­schiedenen Stellen als austauschbar erscheinen. So verbin­det der Brief an die Hebräer die ›Fülle des Glaubens‹ (10,22) und ›das unwandelbare Bekenntnis der Hoffnung‹ (10,23) ganz eng miteinander. Auch wenn der erste Petrusbrief die Christen dazu auffordert, jederzeit zur Antwort bereit zu sein über den Logos – den Sinn und Grund – ihrer Hoffnung (vgl. 3,15), ist ›Hoffnung‹ gleichbedeutend mit >Glaube‹. Wie sehr die Beschenkung mit einer verlässlichen Hoffnung das Be­wusstsein der frühen Christen bestimmte, zeigt sich auch, wo die christliche Existenz mit dem Leben vor dem Glau­ben oder der Situation der Anhänger anderer Religionen verglichen wird. Paulus erinnert die Epheser daran; wie sie vor ihrer Begegnung mit Christus, ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt, waren (Eph 2,12). Natürlich weiß er, dass sie Götter hatten, dass sie Religion hatten, aber ihre Götter waren fragwürdig geworden und von ihren widersprüchli­chen Mythen ging keine Hoffnung aus. Trotz der Götter wa­ren sie ›ohne Gott‹ und daher in einer dunklen Welt, vor ei­ner dunklen Zukunft. ›In nihil ab nihilo quam cito recidimus‹ (Wie schnell fallen wir vom Nichts ins Nichts zurück) heißt eine Grabschrift jener Zeit, in der das Bewusstsein unbe­schönigt erscheint, auf das Paulus anspielt. Im gleichen Sinn sagt er zu den Thessalonichern: Ihr sollt nicht traurig sein wie die anderen, die keine Hoffnung haben‹ (1 Thess 4,13). Auch hier erscheint es als das Unterscheidende der Chris­ten, dass sie Zukunft haben: Nicht als ob sie im Einzelnen wüssten, was ihnen bevorsteht; wohl aber wissen sie im Gan­zen, dass ihr Leben nicht ins Leere läuft. Erst wenn Zukunft als positive Realität gewiss ist, wird auch die Gegenwart lebbar. So können wir jetzt sagen: Christentum war nicht nur ›gute Nachricht‹ – eine Mitteilung von bisher unbekannten Inhalten. Man würde in unserer Sprache sagen: Die christ­liche Botschaft war nicht nur ›informativ‹, sondern ›perfor­mativ‹ – das heißt: Das Evangelium ist nicht nur Mitteilung von Wissbarem; es ist Mitteilung, die Tatsachen wirkt und das Leben verändert. Die dunkle Tür der Zeit, der Zukunft, ist aufgesprengt. Wer Hoffnung hat, lebt anders; ihm ist ein neues Leben geschenkt worden.«

Warum wird die christliche Freude nicht mehr verstanden?

Für den heiligen Paulus ist die Freude das Kennzeichen des Christen. Denken Sie daran, wie gerne er die Christen mit den Worten ermahnt hat: »Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Eure Güte werde al­len Menschen bekannt. […] Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott!« (Phil 4,4-6).

Ohne das Gebet gibt es keine wirkliche Freude. Paulus hat ebenfalls ausgerufen: »Christus (wird) verkündigt und da­rüber freue ich mich. Aber ich werde mich auch in Zukunft freuen. Denn ich weiß: Das wird zu meiner Rettung führen durch euer Gebet« (Phil 1,18-19). Das Gebet ist die Quelle unserer Freude und unserer Gelassenheit, weil es uns mit Gott vereint, mit Ihm, der unsere Stärke ist. Ein trauriger Mensch ist kein Jünger Christi. Wer auf seine eigenen Kräfte zählt, ist immer bedrückt, wenn diese nachlassen. Im Gegensatz dazu kann der Mensch, der glaubt, nicht besorgt sein, weil seine Freude nur von Gott kommt. Doch die geistliche Freude steht im Zusammenhang mit dem Kreuz. Wenn wir beginnen, uns selbst für die Liebe Gottes zu vergessen, werden wir Ihn – zu­mindest auf schemenhafte Weise – finden. Und da Gott unsere Freude ist, hängt ihre Größe von unserer Selbstverleug­nung und unserer Vereinigung mit Ihm ab.

Jesus selbst lädt uns zu einem Leben voller Großherzigkeit, voller Hingabe, aber auch voller Freude ein. Papst Franziskus spricht häufig vom einfachen Glück des Evangeliums. In sei­nem apostolischen Schreiben Evangelii gaudium, die Freude des Evangeliums, schreibt er: »Mit Jesus Christus kommt im­mer – und immer wieder – die Freude.« Der Heilige Vater zeigt, dass man jeden Tag beten muss, um diese wunderbare Fülle nicht zu verlieren. Viele weltliche Versuchungen können die christliche Freude quälen. Man kann sogar sagen, dass weltliches Glück die christliche Freude nicht begreifen kann. In der Nachfolge Christi muss man unter allen Umständen froh bleiben. Der Kampf erweist sich immer als hart, da es nicht an Sorgen mangelt. Das Lächeln ist uns nicht angeboren, wenn wir Leid und Enttäuschung begegnen. Wenn Gott uns wirklich in Besitz nimmt, wenn Christus in uns bleibt, dann kommt die Freude immer wieder.

Tatsächlich lässt sich die Freude nicht erzwingen; sie ent­springt spontan einer inneren Quelle: Gott. Seine Liebe bringt ständig wahres Glück. So sind die Menschen der reichen Län­der, die sich von Gott abgekehrt haben, immer traurig, wäh­rend die armen und gläubigen Länder wahre Freude ausstrah­len; sie haben nichts, aber Gott ist ein beständiges Licht, weil er in ihrem Herzen wohnt. Ich habe das während meiner letz­ten Reise auf die Philippinen – im Januar 2015 mit dem Papst – erneut feststellen können.

Viele Beobachter pflegen hervorzuheben, dass Franziskus sein Pontifikat unter das Leitwort der Barmherzigkeit gestellt hat. Was denken Sie darüber?

Etymologisch gesehen heißt »Misericordia«, sein Herz dem Unglück anderer zuzuwenden, den anderen in seinem Un­glück zu lieben. Doch die Barmherzigkeit erfordert, bevor sie uns mit ihrem Wohlwollen erfüllt, Wahrheit, Gerechtigkeit und Bußfertigkeit. In Gott wird die Barmherzigkeit »Verge­bung«. So sind wir im Zentrum der Botschaft des Evangeli­ums.

Die Vergebung ist der markanteste Ausdruck der Liebe Gottes zum Menschen. So hat der heilige Petrus Jesus gefragt: »Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal« (Mt 18,21­22). Mit anderen Worten: unablässig …

Wir müssen so lieben wie Gott. Gott kennt die Zerrüttung und die großen Schwächen des Menschen, doch er wendet Sein Herz unserem Unglück zu. Gott vergibt uns gerne. Die Vergebung besteht darin, erneut mit größerer Selbstlosigkeit und Großherzigkeit lieben zu können, wenn die Liebe zuvor beeinträchtigt war.

Ohne die Gnade Gottes und wenn wir den Blick nicht fest auf das Kreuz heften, von dem die Stimme Jesu zu uns ge­langt, der für seine Henker betet, wenn wir den Spalt in un­serem Herzen nicht öffnen, um es dem durchbohrten und vor Liebe überfließenden Herzen Dessen aufzupfropfen, der kommt, um unsere Sünden auf sich zu nehmen, dann wird es uns schwerfallen, zu vergeben, denn dieser Akt erfordert, in Fülle zu geben. Man muss vor Liebe überfließen, man muss Liebe im Überfluss haben, um zur Wahrheit der Vergebung zu gelangen. Die beste Nachahmung Jesu ist die Vergebung. Im Evangelium sind der verlorene Sohn, die Ehebrecherin, Maria Magdalena wunderbare Beispiele der Vergebung, die Christus uns zur Nachahmung anbietet.

Gott ist Vergebung, Liebe und Barmherzigkeit; die radikale Neuheit des Christentums liegt hier und nirgendwo anders. Die Menschen müssen vergeben, so wie Gott selbst unablässig vergibt. Wir sind von Gott geformt worden und wir brauchen uns nur an unseren göttlichen Ursprung erinnern, um mühe­los Seinem Willen stattzugeben, der uns auffordert, so voll­kommen zu sein, wie unser himmlischer Vater in der Barmherzigkeit vollkommen ist. Die Vergebung ermöglicht immer eine Neuerschaffung des Menschen, denn es handelt sich um eine Gunst, die vom Himmel kommt …

Wer ist dieser Gott der Vergebung?

Im Buch Jona heißt es, dass dieser Gott »ein gnädiger und barmherziger Gott« ist, »langmütig und reich an Huld« und dass seine Drohungen ihn reuen (Jona 4,2).

Und Jeremia offenbart uns einen Gott, der vor Zärtlichkeit gegenüber Ephraim erzittert: »Ist mir denn Efraim ein so teu­rer Sohn oder mein Lieblingskind? Denn sooft ich ihm auch Vorwürfe mache, muss ich doch immer wieder an ihn den­ken. Deshalb schlägt mein Herz für ihn, ich muss mich seiner erbarmen – Spruch des Herrn« (Jer 31,20).

Für den Propheten Jesaja hat Gott uns in seine Hände ein­gezeichnet. Der Vater überbietet und übertrifft die Zärtlich­keit aller Mütter der Welt: »Kann denn eine Frau ihr Kind­lein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: Ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände, deine Mau­ern habe ich immer vor Augen« (Jes 49,15-16).

Jesus offenbart schließlich einen Gott, dessen Liebe un­ergründlich ist. Wenn seine verlorenen Kinder wieder nach Hause kommen, umarmt Er sie lange und gibt ihnen ihre Würde als Kinder des Himmels wieder.

Gott ist gut und schön und alle seine Geschöpfe sind sein Abbild; die Genesis lässt im Schöpfungsbericht die Schönheit Gottes auf wunderbare Weise sichtbar werden. Diese Schön­heit erstrahlt für den Menschen. Gott macht nichts für sich: Die ganze Schöpfung ist für seine Nachkommenschaft gemacht.

Die Schönheit Gottes, die über der Schöpfung erstrahlt und durch den Menschen beschädigt werden kann, ist dank der Vergebung immer imstande, neu zu entstehen. Wenn der Mensch die Vergebung zurückweist, dann entfernt er sich von Gott und gleitet ab in ein unmenschliches Leben, in dem das Hässliche, die Lüge und das Böse dominieren. Wenn er die Vergebung annimmt, entsteht erneut das Gute.

Wie lässt sich die Suche nach dem Universalen verstehen, die die ganze Menschheitsgeschichte durchzieht?

Der Mensch sucht immer seinen Platz in etwas, das größer ist als er selbst, um sein Leben zu festigen und ihm eine Entwick­lung zu geben. Nun, die Kirche wollte von Anfang an jeden Menschen in diese große, von Gott gewollte Gemeinschaft der Getauften integrieren. Sie möchte sie in einer gemeinsamen Würde, in einer gleichen Bestimmung versammeln. Darin ent­spricht die Braut Christi auf wunderbare Weise einer Suche, die dem Menschen innewohnt. Es geht immer um einen Wil­len zur Bereicherung, indem man sich dem anderen zuwen­det. Der Heilige Geist vereint und ruft verschiedene Charis­men hervor: Es gibt eine Verschiedenheit in der Einheit. Der andere ist immer ein Schatz, den Gott mir anbietet, um meine Menschheit zu bereichern und mir zu helfen, in meiner Be­rufung zu wachsen. Ich habe meinerseits die Pflicht – so arm ich auch sein mag -, den Reichtum und die Besonderheiten des anderen zu fördern. Ich bin auch eine Gabe – so beschei­den sie sein mag – für den anderen. Wir bilden eine einzige Menschheitsfamilie, jeder bringt seinen Reichtum ein, in ei­nem wunderbaren Mosaik der Kulturen und der Traditionen. Es gibt Schätze der Menschheit, die nicht nur leere Worte sind.

Das Universale darf auch die einzelnen Identitäten nicht zerstören. Im Laufe der Jahrhunderte hat die Kirche darauf geachtet, den lokalen Ausdrucksformen einen größeren Platz einzuräumen. Das schönste Beispiel liefern die liturgischen Sonderriten, wie der ambrosianische Ritus, der Lyoner Ritus oder der mozarabische Ritus.

Die Kirche ist an jedem Punkt der Erde eins und verschie­den.

Für viele Christen ist es heute manchmal schwer, Vertrauen in die Zukunft zu bewahren …

In einem christlichen Leben kommen manchmal Zweifel auf, doch das Vertrauen kommt immer wieder. Das beste Synonym für den Begriff Vertrauen ist der Begriff Glaube! Tatsächlich offenbart das Vertrauen auf schönste Weise die Hinwendung des Menschen zu Gott. Sein Wort kann mich weder täuschen noch irreleiten. Das Vertrauen des Christen besteht darin, sich ganz der ewigen Treue Christi zu überlassen. Heute wird eine gewisse Literatur von der Frage der Transparenz heimgesucht; alles scheint transparent sein zu müssen, um wahrhaftig zu sein. Doch die wirkliche Transparenz ist Christus. Das Ver­trauen erwächst aus diesem Licht der Wahrheit, das niemals erlischt. Die Umstände können schwierig werden, Stürme un­ser Dasein anfahren, Unwetter unsere menschlichen Orien­tierungspunkte zerstören, Jesus bleibt immer bei uns: »Ge­segnet der Mann, der auf den Herrn sich verlässt und dessen Hoffnung der Herr ist. Er ist wie ein Baum, der am Wasser gepflanzt ist und am Bach seine Wurzeln ausstreckt: Er hat nichts zu fürchten, wenn Hitze kommt; seine Blätter bleiben grün« (Jer 17,7-8).

In ihren Meditationen hat die heilige Theresia von Avila wunderbare Zeilen über das wirkliche Vertrauen auf diese Ab­solutheit, die der Gottessohn darstellt, geschrieben: »Nichts soll dich verwirren, nichts dich erschrecken. Alles geht vorbei, Gott allein bleibt derselbe. Die Geduld erreicht alles. Wer Gott hat, dem fehlt nichts: Gott allein genügt.«

Die Mönche zeigen durch den anspruchsvollen und rei­nen Weg ihres Lebens eine immerwährende Hoffnung auf das Wort Gottes. Sie besitzen in Fülle das schöne und beispielhafte einfache Vertrauen der kleinen Kinder. Sie haben Vertrauen, weil Gott allein ihnen wirklich genügt. Sie wissen, dass Gott sie nicht täuschen wird. Der Schlüssel für eine so große Entsa­gung im täglichen Leben ist das Vertrauen, das Gebt und die absolute Liebe zu Gott. Die Liebe ist ein Feuer; diese Glut lässt sie vor einem Verlangen glühen, das nicht unmittelbar auf Handlung, sondern vielmehr auf Gott allein ausgerichtet ist.

Das ganze Leben der Mönche ist dem Gebet geweiht. Doch wie lässt sich das Gebet genau beschreiben?

Wenn ein Mensch keinen Brunnen hat, dann kann er kein Wasser schöpfen. Das gilt auch für das Gebet: Ohne das Gebet verdorrt der Mensch, denn es fehlt ihm die Tiefe, das Innerste, die Quelle, um sein Leben zu versorgen. Das Gebet führt zu einer unermesslichen Oase. Das Wesentliche besteht nicht da­rin, mit Gott zu sprechen. Gewiss, es ist normal, dass zwei Freunde miteinander reden wollen, um sich besser kennenzu­lernen. Von diesem Gesichtspunkt aus bietet Mose ein gutes Beispiel, der auf sublime Weise von Angesicht zu Angesicht mit Gott gesprochen hat; das Alte Testament berichtet, dass sein Gesicht nach diesen innigen Gesprächen leuchtete. Wir können Gott nicht wirklich begegnen, ohne dass sein Licht über uns strahlt. Durch das Gebet lassen wir zu, dass Gott un­serem Gesicht den Glanz seines Antlitzes einprägt.

Tatsächlich besteht das Gebet letztlich darin, zu schweigen, um auf Gott zu hören, der zu uns spricht, und um den Hei­ligen Geist zu verstehen, der in uns spricht. Ich denke, es ist wichtig zu erwähnen, dass wir nicht allein zu beten vermögen: Es ist der Heilige Geist, der in uns und für uns betet. Der hei­lige Paulus sagt: »So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.« Und er fährt fort: »So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist sel­ber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können« (Röm 8,16.26).

Natürlich besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen zu Gott sprechen sollen; doch das wirkliche Gebet stellt es Gott anheim, nach seinem Willen zu uns zu kommen. Wir müssen ihn in der Stille zu erwarten wissen. Man muss in der Stille, in der Hingabe und im Vertrauen verweilen. Beten bedeutet, lange schweigen zu können; wir sind so oft taub, abgelenkt furch unsere Worte … Es ist leider nicht selbstverständlich, lass wir den Heiligen Geist zu hören vermögen, der in uns be­et. Je länger wir in der Stille verharren, desto größer wird unsere Chance, das »Säuseln« Gottes zu vernehmen. Rufen wir ins in Erinnerung, dass sich der Prophet Elija lange in einer Höhle versteckt hielt, bevor er das sanfte Säuseln des Himmels hörte. Ja, ich möchte das nochmals sagen: Das Gebet besteht zunächst darin, lange still zu sein. Oft müssen wir uns eng an Unsere Liebe Frau der Stille drängen, um sie zu bitten, für uns die Gnade der Stille der Liebe und der inneren Jungfräulichkeit zu erwirken, das heißt eine Reinheit des Herzens und eine Bereitschaft zum Hören, die alles, was nicht Gegenwart Gottes ist, ausschließt. Der Heilige Geist ist in uns, aber wir sind läufig von Geräuschen erfüllt, die seine Stimme übertönen …

Das Gebet bedeutet eine lange Zeit der Wüste und der Dürre, sodass uns die Lust überkommen kann, uns den leichten Freuden der Welt zuzuwenden, anstatt auf Gott zu war­ten. Während uns so viele Gedanken von Gott entfernen, ist wichtig, nicht zu vergessen, dass der Heilige Geist zugegen bleibt. Selbst die größten Heiligen haben an ihrem Gebetsleben gezweifelt, so hart war die Dürre manchmal; die heilige Theresia vom Kinde Jesus hat sich sogar gefragt, ob sie an die Worte glaubte, die sie in ihren täglichen Gebeten sagte.

Ich glaube, dass das Gebet in gewisser Weise eine Abwesenheit von Worten erfordert, denn die einzige Sprache, die Gott wirklich versteht, ist die Stille der Liebe. Die Betrachtung der Heiligen nährt sich einzig aus einer Begegnung mit Gott von Angesicht zu Angesicht in der vollkommenen Hingabe. Es gibt keine geistliche Fruchtbarkeit außer in einer jungfräulichen Stille, die nicht von zu vielen Worten und innerem Lärm durchsetzt ist. Man muss entblößt vor Gott zu treten wissen, ungeschminkt. Das Gebet bedarf der Aufrichtigkeit eines makellosen Herzens. Die Jungfräulichkeit ist das Wesen der Absolutheit, in der Gott uns behütet.

Gott hat die Armut Mose in sein unsagbares Licht ge­hüllt. Er hat sein Herz von allen Schwierigkeiten befreit. Mose wurde »entblößt«, um wirklich die Hoffnung Gottes zu hö­ren. Das wirkliche Gebet bringt eine Art Verschwinden unse­res persönlichen Ballasts mit sich.Wenn Johannes Paul II. betete, dann war er in Gott versun­ken und von einer unsichtbaren Gegenwart absorbiert; wie ein Felsen schien er unbeteiligt gegenüber allem, was um ihn he­rum geschah. Karol Wojtyla kniete immer vor Gott, unbeweg­lich, wie erstarrt und gleichsam tot in der Stille angesichts der Größe seines Vaters. Wenn ich an diesen heiligen Nachfolger Petri denke, rufe ich mir oft den Satz des heiligen Johannes vom Kreuz in seinem »Aufstieg auf den Berg Karmel« ins Ge­dächtnis: »Wenn ein Mensch diese Göttliche Vereinigung zu erlangen gedenkt, muss alles, was in seiner Seele lebt, sterben, beides — das Wenige und das Viele, das Kleine und das Große.«

Gott teilt sich nur einem Herzen ganz mit, das dem rei­nen Licht eines Sommermorgens voller schöner Verheißun­gen gleicht.

Ich weiß natürlich, dass der Körper uns ständig aus dem Gebet herausreißt. Der Mensch ist auch Imagination, die ge­schickt darin ist, uns auf lange Reisen fern von Gott mit sich fortzuziehen …

Daher bin ich schon lange der Meinung, dass das Gebet nur in der Nacht Gestalt annehmen kann. In der Dunkelheit werden wir nur von Gott erleuchtet. Es ist wichtig, dass wir lernen, wie Jakob und nach dem Vorbild der Mönche mitten in der Nacht zu beten, während die ganze Schöpfung Schlaf sucht. Das Nachtgebet taucht uns ein in die Dunkelheit des Todes Jesu Christi, derer wir bei der Osternachtsfeier geden­ken. Nach Thomas Merton in »Das Zeichen des Jonas« »wird die Dunkelheit wie eine Quelle sein, aus der wir gereinigt und erleuchtet hervorgehen, nicht mehr getrennt vom auferstan­denen Christus, sondern mit ihm vereinigt«.

Durch das Gebet wird der Mensch in der Unermesslichkeit Gottes neu erschaffen; es ist wie eine kleine Vorwegnahme der Ewigkeit. Durch das Gebet werden wir Christus ähnlich, der gerne die ganze Nacht im Gebet verharrte: »In diesen Tagen ging er auf einen Berg, um zu beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott« (Lk 6,12).

Wenn wir uns auf eine andere Stufe begeben: Wie lässt sich Kon­templation definieren?

In der Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles das auf bewundernswerte Weise. Für ihn ist die kontemplative Tätig­keit das erhabenste Handeln des Menschen auf dieser Erde. Die Kontemplation stellt den genauen Gegensatz zur praktischen Tätigkeit dar; sie ist per se der wichtigste Moment im menschli­chen Leben. Er führt aus, dass die Weisheit des Kontemplativen große Freude beinhaltet, sowohl durch ihre Reinheit als auch durch ihre Festigkeit. Der Weise kann sich, auch wenn er sich selbst überlassen ist, immer noch der Kontemplation widmen. Je größer die Weisheit ist, desto wichtiger ist der Platz, den die Kontemplation im Leben einnimmt. Aristoteles präzisiert, dass der Weise die Pflicht hat, andere Menschen zur kontemplati­ven Tätigkeit zu führen. Er kündigt die Wüstenväter und all die kontemplativ lebenden Menschen an, die beschlossen haben, ihr Leben Gott zu weihen, der Weisheit und Quelle aller Weis­heit ist. Gewiss, das Göttliche, von dem Aristoteles spricht, ist weit von unserem Gott und von Christus entfernt. Der Philo­soph rief einfach zur Erhebung von Geist und Herz auf.

Tatsächlich hat der Mensch eine Art Sehnsucht nach der Gesellschaft Gottes. Wir verspüren den tiefen Wunsch und das Verlangen in uns, von Angesicht zu Angesicht mit dem Göttli­chen zu sein. Im Bereich des Christlichen bedeutet Kontemp­lation, in der Stille und in der Einsamkeit von Herz zu Herz mit Gott zusammen zu sein. Sie ist unmöglich in der Rast­losigkeit der Welt und noch unmöglicher in der Zerstreuung durch den Lärm in unserem Inneren. Die am schwierigsten zu bändigende Unruhe sind immer unsere inneren Stürme.

Mit Christus ähnelt die Kontemplation der Freude zweier Verliebter, die sich still betrachten. Ich denke oft an jenen ein­fachen Bauern, der jeden Tag in die Kirche von Ars kam. Er verweilte dort lange Zeit absolut unbeweglich vor dem Taber­nakel. Eines Tages hat ihn der heilige Pfarrer von Ars gefragt: »Was machst du da, lieber Freund?« Da erwiderte er: »Ich schaue Ihn an und Er schaut mich an.« Der einfache Bauer sagte nichts, denn es war nicht nötig, zu reden, um Christus zu sagen, dass er ihn liebte; im Gegenzug bedurfte er keiner Offenbarung des Sohnes Gottes, weil er sich wirklich geliebt wusste. In der Liebe sind Worte nicht notwendig. Je dichter das Leben der Stille ist, desto einfacher ist es für die Seele, mit Gott allein zu sein. Und je unberührter die Seele ist, desto mehr zieht sie sich von der unruhigen Welt zurück.

Allerdings dürfen wir nicht glauben, dass die Kontempla­tion Gottes nur in der Stille eines Klosters, einer Kirche oder in der Einsamkeit der Wüste möglich ist. Johannes Paul II. hat die Christen zur »tätigen Kontemplation« ermahnt. Im Kom­mentar des heiligen Thomas von Aquin über den heiligen Jo­hannes findet sich eine besonders erhellende Passage. Jesus wendet sich zu Andreas und Johannes um, die ihn gefragt ha­ben: »Rabbi — das heißt übersetzt Meister, wo wohnst du?« Und er antwortet ihnen: »Kommt und seht!« Der heilige Tho­mas gibt diesen Worten einen mystischen Sinn, die effektiv bedeuten, dass nur die Begegnung und die persönliche Er­fahrung uns erlauben, Christus kennenzulernen. Dieses Ken­nenlernen Gottes durch die Erfahrung in uns ist der Kern der Kontemplation. Die heilige Menschheit Christi ist immer der Weg, um zu Gott zu gelangen: ihn in der Stille reden lassen, vor dem heiligen Sakrament, vor einem Kruzifix, in der Ge­genwart eines Kranken, der ein anderer Christus, der Christus selbst ist. Natürlich hat jede Seele ihren Weg. Johannes Paul II. hat gesagt, dass er sich manchmal aufgerufen fühlte, Gott um etwas zu fragen, während es andere Gelegenheiten gab, bei de­nen das nicht der Fall war.

Für den heiligen Thomas gibt es praktisch keinen Gegensatz zwischen Kontemplation und Tätigkeit. So kann ein Mönch in seiner Zelle oder in der Klosterkirche einem geistlichen Sturm begegnen und Gott wiederfinden, nachdem er auf den Feldern gearbeitet hat … Das Opfer, der Gehorsam, die Askese sind imstande, ihn zum Vater zurückzuführen. Eine intensive geistige oder handwerkliche Arbeit reinigt den Geist von den Sorgen, die die bewusste Vereinigung mit Gott unmöglich machen. “Ora et labora” fasst die beiden Wege zur Kontemplation zusammen, die nicht nur den Mönchen, sondern alle Jüngern Christi offenstehen.

Die Kontemplation zieht uns in einer unumkehrbaren Bewegung zum Göttlichen. Der Mensch, der sich der Kontemplation hingibt und seinem Schöpfer begegnet, wird niemals mehr derselbe sein; er wird hundertmal fallen, hundertmal sündigen, hundertmal Gott leugnen können, ein Teil seiner Seele ist bereits endgültig zum Himmel gelangt.

Es wäre bedauerlich, wenn das Gebet zu einem langen, undeutlichen Geschwätz würde, das uns von der wirklichen Kontemplation entfernt. Das wortreiche Gebet gestattet nicht, Gott wahrzunehmen. Hier liegt eine Gefahr des modernen Lebens, in dem die Stille manchmal als störend empfunden wird. Es ist uns ein ständiges Bedürfnis, den Lärm der Welt zu hören: Der Drang zu reden ist heutzutage eine Art zwingende Vorschrift, während das Schweigen einer Niederlage gleichkommt …

Die Kontemplation stellt einen kostbaren Moment der Begegnung zwischen Gott und dem Menschen dar. Es ist ein anhaltender Kampf, doch der wundervolle Sieg ist nur um diesen Preis zu haben.

Es ist vielleicht ein Ding der Unmöglichkeit, aber könnten Sie in wenigen Worten die Suche nach Gott zusammenfassen, von der Sie so häufig sprechen?

In Psalm 42 heißt es: “Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen?« Ich bin der Meinung, dass diese Sätze die Sehnsucht zum Ausdruck bringen, die wir ständig tief in uns empfinden; der Mensch hat ein so unbe­dingtes Bedürfnis nach Gott wie ein Neugeborenes nach sei­ner Mutter.

Der Vater hat uns für Sich geschaffen, doch unser Herz ist verängstigt, gespalten durch eine dumpfe Unruhe. Tatsächlich wartet es einfach darauf, in Gott zu ruhen; Er allein kann uns befriedigen. Das ist der Grund, warum wir ständig – bewusst oder unbewusst – auf der Suche nach dem Vater sind.

Man darf keine Angst haben, Ihn immer zu suchen, denn Gott ist durch so viele Ereignisse in unserem Leben verbor­gen, so viele Versuchungen, so viel falsches Licht, das uns blendet; wir können Ihn leicht aus den Augen verlieren.

Doch das Verlangen nach Gott ist dem menschlichen Her­zen eingeschrieben. Ja, der Mensch ist durch Gott für Gott ge­schaffen und Gott zieht ihn unaufhörlich zu sich. Nur in Gott wird der Mensch die Wahrheit und das Glück finden, das er fieberhaft sucht. Der heilige Augustinus hat auf wunderbare Weise von dieser heftigen Anziehungskraft gesprochen, die die Civitas Dei, der »Gottesstaat«, im Gegensatz zu allen vergängli­chen Reizen des »Erdenstaats« auf den Menschen ausübt.

Der Mensch sehnt sich nach dem Außergewöhnlichen, nach Gott, aber er ist Ihm niemals wirklich begegnet. In unserer Zeit religiöser Gleichgültigkeit ist die Suche noch intensiver. Denn die zeitlichen Dinge hängen mit der Ewigkeit zusammen. Auch wenn die Dürre unserer Zeit erschreckend scheint, darf man nicht vergessen, dass die göttliche Quelle gegenwärtiger ist denn je. Der Mensch kann den Weg zu Gott suchen, ohne zu wissen, warum, er kann ihn sogar ablehnen; doch die Suche existiert tief in seinem Inneren. Wie kann man dieses innere Dürsten bloßlegen, um der Menschheit zu helfen, hinter den Schleier der sinnlich wahrnehmbaren Dinge zu schauen?

Ich denke, dass der Mensch Gott gegenüber nie gleichgül­tig sein wird. Er mag ihn aufgrund einer ideologischen Mode oder Haltung vergessen wollen. Doch dieser verhaltene Rück­zug ist umstandsbedingt. In diesem Sinne existiert der Athe­ismus nicht. Paradoxerweise ist schon die Tatsache, nicht zu glauben, Verkündigung eines verdrängten Glaubens.

Die Kirche spricht von übernatürlichem Glück. Was bedeutet dieser Ausdruck?

Für die Theologen besteht die Glückseligkeit darin, Gott zu schauen und zu besitzen. Auf der Erde sehen wir Gott nicht; wir wissen, dass es Ihn gibt, aber wir sehen Ihn nicht. Dem heiligen Thomas zufolge werden wir Gott im Himmel unmit­telbar schauen.

Auf der Erde möchten wir aus ganzem Herzen lieben, aber es gelingt uns nicht. Warum? Weil wir Gott nicht sehen. Im Himmel wird unsere Seele still sein, ganz fügsam und durch­lässig für das Licht. Die Seele wird unbewegt sein. Die stän­dige Unruhe des Menschen auf der Erde veranlasst ihn dazu, dem flüchtigen Schein zu folgen. Im Himmel werden wir das Sein besitzen.

Das Versprechen von Verwandlung und Auferstehung ver­setzt uns auch nach mehr als zweitausend Jahren noch in Er­staunen. Es ist natürlich schwierig, sich auf dieser Erde für das wahre Glück des Himmels bereit zu machen. Die einzige si­chere Methode besteht darin, mit Gott, der in unserem Herzen gegenwärtig ist, vereint zu bleiben. Die Anschauung der Ewig­keit ist uns in unserem jetzigen Leben nicht gegeben, doch wir besitzen den Glauben, der ein Besitz in der Dunkelheit ist.

In dieser Welt muss uns die Gewissheit der Vollkommen­heit Gottes genügen. Der heilige Augustinus hat dieses Gefühl in einer berühmten, paradoxen Formulierung zum Ausdruck gebracht. In einem Satz, der ihm zugeschrieben wird, soll der Bischof von Hippo gesagt haben: »Mein Gott, wenn du mir vorschlagen würdest, zu tauschen, zu machen, dass ich Gott werde und Du Augustinus, dann würde ich sagen: Nein! Ich möchte lieber, dass du Gott bist und ich Augustinus bin oder sonst etwas, was tut das schon? Du bist meine Glückseligkeit, nicht ich.«

Die Christen wissen, dass am Ende der Zeiten Christus in Herrlichkeit wiederkehren wird. Der Schrift zufolge wird er von allen Engeln begleitet werden und vor ihm werden sich die Völker versammeln. Er wird die Menschen trennen, wie der Hirte die Schafe von den Böcken trennt. Er wird die einen zu seiner Rechten stellen, um in Ewigkeit mit Ihm zu leben, und die anderen, die ihre Position selbst gewählt haben, wer­den fern von seinem Licht bleiben. Der »Erdenstaat« ist nicht unsere eigentliche Heimat; er ist eine Zeit des Übergangs. Wir wurden geboren, um uns auf eine große Reise zum »Gottes­staat« zu begeben und »Mitbürger der Heiligen und Hausge­nossen Gottes« (Eph 2,19) zu werden.

Trotz dieses erhabenen Ziels sind wir aufgerufen, hier auf Erden Mitarbeiter Gottes zu sein, damit Tropfen der Ewig­keit schon auf diese Welt herabfallen. Die Vision des Him­mels kann uns nicht vergessen lassen, dass wir die Mächte des Bösen bekämpfen müssen, die unablässig versuchen, die von Gott geschaffene Menschheit zu korrumpieren. Das Reich Gottes muss hic et nunc beginnen.

Auf Erden haben wir den Schatz des Gebets, die Sprache des Himmels.

In dieser Sprache dienen alle Worte nur dazu, einen einzi­gen Gedanken auszudrücken, eine einzige Wahrheit, die die Seele durchströmt und ganz durchdringt, um sie zu führen und zu adeln; diese Wahrheit wird von Christus selbst ver­kündet: Ich bin die unendliche Liebe; alles, was mir ist, gebe ich euch, damit wir eins sind, wie der Vater und der Sohn eins sind (vgl. Joh 17, 22-23).

Im Lateinischen heißt es: »Soli Deo«. Muss immer Gott allein den Menschen an sich ziehen?

Der Mensch darf nicht sich selbst zugewandt sein. Das genaue Gegenteil gewährleistet sein Gleichgewicht und gibt seinem :eben Halt. Der Mensch muss sich von sich selbst lösen. Sol­ange er in seinem Ego eingeschlossen bleibt, ist sein inneres Gefängnis eine echte Hölle.

Gott allein ist der Weg, auf dem wir von uns selbst loskom­men können.

Nur der Gedanke an Gott kann uns gleichzeitig Freiheit und Reinheit sowie das Gleichgewicht zwischen dem einen und dem anderen schenken. Nicht, indem wir uns an den Menschen – und seien es die besten – ein Vorbild nehmen, werden wir wissen, was wir zu tun haben, sondern indem wir ins Gott zuwenden; Er wird uns zeigen, welche Opfer von uns verlangt werden, und Er allein wird uns auch die Kraft geben, sie zu bringen.

Wenn wir im Dunkeln sind und es uns nicht mehr gelingt, Gott zu sehen, selbst seine Vorstellung nicht, muss man ein wenig Mut haben und sich Ihm weiter geduldig zuwenden. In diesen düsteren Stunden rücken wir rascher auf unser Ziel zu. Die Tunnel des Glaubens sind Abkürzungen zu Gott; sich in diesem Moment ablenken zu lassen, bedeutet, eine große Gnade zu verlieren. Viele Heilige haben diese Erfahrung gemacht …

Wenn wir unsere Seele immer treu und geduldig zum göttl­ichen Licht lenken, werden auch wir leuchten, so wie Blumen der Sonne ähnlich werden.

Die normale Orientierung wird Ordnung, Gleichgewicht, Ruhe und Frieden hervorbringen. Dann werden wir auf dem Weg der Heiligkeit sein, die darin besteht, sich mehr für Gott als für sich selbst zu interessieren und von Seiner ewigen Schönheit zu leben.

Es handelt sich um das geistliche Testament der Mutter Te­resa von Kalkutta, die am Ende ihres Lebens schreiben konnte: Strebt danach, in der Gegenwart Gottes voranzugehen, Gott in allen zu sehen, denen ihr begegnet, vor allem auf den Stra­ßen. Strahlt die Freude aus, Gott zu gehören, mit Gott zu leben, von Ihm zu sein!«

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Quelle: Robert Kardinal Sarah und Nicolas Diat: GOTT oder Nichts – Ein Gespräch über den Glauben – mit einem Vorwort von Georg Gänswein. fe-medienverlag GmbH, D-88353 Kißlegg. ISBN 978-3-86357-133-7. 1. Auflage 2015



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