Ökumene der Märtyrer
1994 hatte Patriarch Bartholomäus von Konstantinopel die Meditationen für den Kreuzweg geschrieben, der, wie jedes Jahr, am Karfreitag im römischen Kolosseum vom Papst und Tausenden Gläubigen gebetet wurde. In seiner Ansprache dankte Papst Johannes Paul II. dem Patriarchen und sagte: „Mir kamen all die anderen Kolosseen in den Sinn, die so zahlreich sind, die anderen ‚Hügel der Kreuze’, die auf der anderen Seite sind, im europäischen Teil Russlands, überall in Sibirien, die vielen Hügel der Kreuze und Kolosseen der modernen Zeit. Heute möchte ich meinem Bruder aus Konstantinopel und allen unseren östlichen Brüdern und Schwestern sagen: Ihr Inniggeliebten, wir sind vereint in diesen Märtyrern aus Rom, in denen vom ‚Hügel der Kreuze`; den Solowetzki-Inseln und vielen anderen Vernichtungslagern. Wir sind vereint vor dem Hintergrund dieser Märtyrer, wir können nicht anders, als eins zu sein.” In seinem Apostolischen Schreiben zum Jubiläumsjahr 2000, das unter dem Titel „Tertio millennio adveniente” erschien, vertiefte Papst Johannes Paul II. diesen Gedanken: „Der Ökumenismus der Heiligen, der Märtyrer, ist vielleicht am überzeugendsten. Die communio sanctorum, Gemeinschaft der Heiligen, spricht mit lauterer Stimme als die Urheber von Spaltungen.” Das Thema war bereits in seiner Ökumene-Enzyklika, die 1995 unter dem Titel „Ut unum sint” erschienen war, präsent.
Den Gedanken der „Ökumene der Märtyrer” griff Papst Benedikt XVI. in seiner Rede an das russische Volk auf. Er sagte den Russen, der Horizont ihres Landes, der im vergangenen Jahrhundert „vom Schatten des Leidens und der Gewalt verdunkelt” wurde, sei „durchkreuzt und besiegt [worden] vom glänzenden Licht so vieler orthodoxer, katholischer und andersgläubiger Märtyrer, die in der Unterdrückung durch schreckliche Verfolgungen gestorben sind. Die Liebe zu Christus bis zum Martyrium, die ihnen gemeinsam ist, erinnert uns an die drängende Notwendigkeit, die Einheit der Christen wiederherzustellen, eine Pflicht, der sich die Katholische Kirche unwiderruflich verpflichtet fühlt.”
Nach der Oktoberrevolution von 1917 brennen Ikonen, Kelche werden entweiht, Kreuze von den Kirchtürmen gerissen, Glocken zerschellen auf dem Boden. Der kommunistische Pöbel steht höhnend dabei, während entsetzte Gläubige auf dem nackten Erdboden knien, sich bekreuzigen und Gott um Erbarmen anflehen. Dies ist der Anfang einer beispiellosen Christenverfolgung, die über das „heilige Russland” hereinbrach. Unzählige Kirchen werden gesprengt oder in Kinos, Klubs, Schwimmbäder oder Lagerräume umgewandelt. Es ist kein Geheimnis, dass die Kommunisten mit besonderer Vorliebe die Toiletten dort einbauten, wo zuvor die Ikonostase den Altarraum, der nur den Priestern zugänglich ist, verbarg. Auch die Sprungbretter von Schwimmbädern fanden sich dort, wo zuvor die heiligen Gaben von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi gewandelt wurden. Berühmt sind die Bilder der Christus-Erlöser-Kathedrale, die 1931 gesprengt wurde. Noch heute stockt einem der Atem, wenn man die historischen Filmaufnahmen aus dieser Zeit anschaut. Zunächst sollte an dem Ort, wo sie gestanden hatte, ein „Palast der Sowjets” entstehen, dieser Plan wurde jedoch nicht in die Tat umgesetzt, und es entstand ein großes Schwimmbad. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte die Kathedrale wiedererrichtet und 2001 neu eingeweiht werden.
Von den ca. 60 000 Gotteshäusern, in denen vor der Oktoberrevolution in Russland die Göttliche Liturgie gefeiert wurde, waren zwanzig Jahre später nur noch 100 übrig. Allein in den ersten beiden Jahren nach der Oktoberrevolution wurden 15 000 Priester getötet. Mehr als 300 Bischöfe wurden hingerichtet oder starben in Gefangenschaft. Die Klosterinseln von Solowetzki, wo seit dem 15. Jahrhundert Mönche lebten, wurden zum Konzentrationslager. Die Inseln — eine Hauptinsel, fünf weitere größere Inseln sowie zahlreiche kleine Inseln — liegen nur 150 Kilometer entfernt vom Polarkreis im Weißen Meer. Der Winter dauert hier acht Monate, die Polarnächte scheinen endlos zu sein. Dennoch blühte hier jahrhundertelang das klösterliche Leben, und das Kloster wurde zu einem der wichtigsten geistlichen Zentren Russlands. Die lkonenmalerei und anderes Handwerk wurde mit großer Kunstfertigkeit gepflegt. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden sieben Kirchen errichtet, und im 17. Jahrhundert lebten hier 300 Mönche. Zu dieser Zeit entstanden auf den Inseln auch zahlreiche Einsiedeleien. 1920 begann mit der Ankunft der Bolschewiki die Zwangsauflösung. Fast alle Kirchen wurden geschlossen, die Ikonen und die umfangreiche Bibliothek beschlagnahmt. 1923 brannte das alte Kloster ab. Ein Lager zur „Umerziehung zu neuen Menschen” wurde errichtet. Alexander Solschenizyn schreibt in seinem weltbekannten Buch „Archipel Gulag“: „Verstummt waren die Glocken, verloschen die Öllämpchen vor den Heiligenbildern, die Kerzenständer ohne Kerzen, und keine große Liturgie wurde mehr gesungen, kein Abendgottesdienst mehr abgehalten, niemand murmelte mehr den Psalter durch die Tage und Nächte, die Ikonostasen verfielen (in der Verklärungskirche blieb eine übrig), dafür aber kamen im Juni 1923 wackere Tschekisten herbeigeeilt (…). Der Auftrag lautete, ein mustergültig strenges Lager, den Stolz des Arbeiter- und Bauernparadieses, zu errichten.” Nahezu die gesamte geistige Elite des vorrevolutionären Russlands saß hier ein. Unter den Häftlingen, die in diesem Lager litten, war auch der Großvater des heutigen russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill, der ebenfalls orthodoxer Priester war. Er überlebte die Haft, war aber insgesamt in 46 verschiedenen Lagern und Gefängnissen inhaftiert und wurde siebenmal deportiert.
Felix Ackermann schreibt in seinem Beitrag „Von der Klosterinsel zu einer Insel im Gulag”: „Solowki war damals eine heimliche geistige und geistliche Hauptstadt Russlands. Selten zuvor waren auf so engem Raum so viele Denker, Künstler und Geistliche versammelt, wie auf den Solowki der 20er Jahre. Und dennoch stand über dem Lagereingang: ,Mit eiserner Hand die Menschheit ihrem Glück entgegentreiben’. Die Häftlinge lebten zusammengepfercht in den kargen Mönchszellen, die Urkas, Häftlinge aus dem Verbrechermilieu, trieben bereits ihr Unwesen. Es gab verschiedene Straflager, Karzer, Isolationszellen, Sterbetrakte. So wurde die Kapelle auf dem Axtberg zu einer Todesstätte, in der man die Lagerhäftlinge drangsalierte. Sie schliefen auf dem Steinboden in mehreren Lagen, am Morgen wachten viele, erfroren oder zertreten, nicht mehr auf. Die Aufseher zwangen die Häftlinge, nackt im Freien zu verweilen, wo sie von den Mückenschwärmen förmlich zerfressen wurden oder im Schnee der eisigen Kälte ausgesetzt waren. Frauen wurden oft zu Freiwild für die Urkas, wurden sie schwanger, kamen sie zuerst auf die Kleine Haseninsel und zum Entbinden in die Einsiedelei am Berg Golgata, wohin auch die Typhuskranken transportiert wurden. Hunderte starben Ende der zwanziger Jahre an der Seuche, ihre Leichen liegen noch heute am Fuße des Berges verscharrt.” Einer der Tausenden, die hier litten und starben, war der heilige Peter Zverev, der Erzbischof von Voronezh. Er wurde 1926 verhaftet und verbüßte auf der Insel Anser drei Jahre Lagerhaft, bevor er an Typhus starb. Als sein Leichnam begraben wurde, erschien der Heilige den Umstehenden in einer Lichtsäule und segnete sie. In der Nähe des Ortes, wo er gestorben war — der Einsiedelei am Berg Golgata wuchs eine Birke in Form eines Kreuzes.
Der im Dezember 2008 verstorbene Patriarch Aleksij II., der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor der schweren Aufgabe stand, die Russische Orthodoxe Kirche wieder auferstehen zu lassen, schrieb noch kurz vor seinem Tod, die Zahl der Märtyrer sei nur mit der im alten Rom vergleichbar. Wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Russischen Orthodoxen Kirche 2500 Heilige verehrt, davon 450, die aus Russland stammten, sollte die Zahl ihrer Bekenner und Märtyrer im zwanzigsten Jahrhundert in die Hunderttausende gehen. Die meisten davon werden für immer unbekannt bleiben. Im Januar 2004 wurden jedoch 1420 Märtyrer des 20. Jahrhunderts offiziell heiliggesprochen, darunter auch Patriarch Tichon, der 1925 unter ungeklärten Umständen im Gefängnis starb. Von anderen Märtyrern ist bekannt, wie sie starben. Der Bischof von Perm und Solikams Theophan (Ilmenskyi) wurde 1918 an den Haaren aufgehängt und nackt bei minus 30 Grad immer wieder in den Fluss getaucht, bis er starb und sein Leichnam mit Eis bedeckt war. Auch der heilige Hermogen Dolganev, der Bischof von Tobosk, wurde ertränkt. Er wurde nach Mitternacht auf dem Fluss Tura mit einem Stein um den Hals aus einem Boot gestoßen. Der heilige Konstantin Podgorskyi, der Priester in Kirzhemany war, wurde 1918 gezwungen, einen Pferdekarren durchs Dorf zu ziehen. Er wurde zudem stundenlang geschlagen, sein Schädel wurde gebrochen, seine Finger abgehackt, und schließlich wurde er an der Tür seiner Kirche gekreuzigt. In den 1980er Jahren wurde sein Leichnam unversehrt aufgefunden. Auch sein Evangeliar, seine Kleidung und seine Schuhe waren wie neu. Der heilige Konstantin Bogoyavlenskyj, der Pfarrer der St.-Michael-Kirche in Merkushino, wurde 1918 von Kommunisten dazu gezwungen, sein eigenes Grab zu schaufeln. Als er fertig war, schossen sie ihm in den Kopf. Auch sein Leichnam wurde unversehrt aufgefunden. Bis zum Ende der Sowjetunion sollte eine halbe bis eine Million Menschen — darunter bis zu 320 000 Priester für ihre Treue zu Christus mit schwerstem Leid, Gefangenschaft oder sogar mit dem Leben bezahlen.
Trotz des unvorstellbaren Leids sagen manche Priester und Gläubige, dass die Zeiten der Verfolgung „schöner” waren als das Leben in Freiheit. Denn unter diesen widrigen Umständen war die Einheit bereits Wirklichkeit. Katholische und orthodoxe Christen beteten nicht nur gemeinsam, sondern es war ihnen sogar erlaubt, in dieser Notlage die Sakramente von einem Priester der jeweils anderen Kirche zu empfangen.
Wenn man von der „Ökumene der Märtyrer” spricht, darf man aber auch nicht vergessen, dass die Christenheit bis zum Jahr 1054 ungeteilt war. Das heißt, der katholischen und der orthodoxen Kirche ist eine sehr große Zahl an Heiligen gemeinsam, die noch aus der Zeit der ungeteilten Kirche stammen. Selbst der heilige Benedikt von Nursia, den viele als Gründer des Benediktinerordens für „typisch katholisch” halten, wird in der orthodoxen Kirche verehrt, genauso wie Papst Gregor der Große. Besonders sind es aber die Blutzeugen, die in den römischen Christenverfolgungen ihr Leben hingaben und auf deren Gräbern die ersten Christen die heilige Eucharistie feierten, die die Kirchen bis heute verbinden. „Deine Märtyrer, Herr, haben durch ihren Kampf die unvergängliche Siegeskrone von Dir, unserem Gott, empfangen. In Deiner Kraft haben sie die Tyrannen besiegt und die ohnmächtige Gewalt der Dämonen gebrochen. Durch ihre Fürbitten, Christus, Gott, rette unsere Seelen”, heißt es in einem orthodoxen Troparion. Der Tod hat nicht das letzte Wort, das Martyrium ist Zeugnis der Auferstehung. Der Osterruf, der zu allen Zeiten auch über den Hinrichtungsstätten, den Lagern und Massengräbern erschallt, vereint die Christen in Ost und West: „Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaft auferstanden!”
Pioniere der Einheit oder:
Eine neue Aufgabe
Papst Johannes Paul II. hegte den innigen Wunsch, an die „Ökumene der Märtyrer” anzuknüpfen und verstärkt den Dialog mit der Russischen Orthodoxen Kirche zu suchen. Dieser Vorschlag, den er 1991 an Pater Werenfried van Straaten, den Gründer von KIRCHE IN NOT (ehemals „Ostpriesterhilfe”) richtete, fiel bei diesem auf fruchtbaren Boden. Lautete doch einer der Kernsätze Pater Werenfrieds, die das Wesen von KIRCHE IN NOT beschreiben: „Unser Hilfswerk schreibt das Martyrologium dieser Zeit. Nicht in einer Studierstube, sondern als Augenzeuge und deshalb mit größtem Mitleid und tiefster Ergriffenheit.” Er sah in den Verfolgten „die Elite der Kirche” und bezeichnete es als „Ehrensache”, mit ihnen solidarisch zu sein. Denn in den Verfolgten und Märtyrern aller Konfessionen sah er das Leiden Christi fortgesetzt, so dass er schrieb: „Der Karfreitag bleibt, und damit die Todesangst, die Verspottung, der Hass, die Undankbarkeit, das menschliche Versagen, das unsagbare Leid, der bittere Kreuzweg, die Kreuzigung und der schmähliche Tod unseres Herrn Jesu Christi. Jetzt nicht mehr in seinem eigenen gesegneten Leib, sondern in denen, die durch die Gnade an seinem Leben teilhaben und seine Glieder sind.”
Pater Werenfried erinnerte in diesem Zusammenhang unermüdlich daran, dass die Russische Orthodoxe Kirche die Kirche war, die am stärksten unter dem Kommunismus gelitten hatte. So war es nur konsequent, dem Wunsch Papst Johannes Pauls II. Folge zu leisten und der Russischen Orthodoxen Kirche nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes nicht nur mit schönen Worten, sondern auch mit Taten zur Seite zu stehen.
Nach dem Ende der Sowjetunion war es das Gebot der Stunde, die katholischen Christen daran zu erinnern, dass der „Dialog der Liebe” zwischen den beiden Kirchen, die das Zweite Vatikanische Konzil als „Schwesterkirchen” bezeichnet hatte, nicht vor allem auf theologisch-akademischer Ebene stattfindet, sondern dass es auch eine „Ökumene der Solidarität” gibt, wie es Pater Werenfried nannte. Er betonte: „Nach 1000 Jahren voller Missverständnisse und gegenseitiger Feindschaft müssen wir uns jetzt unserer Einheit bewusst werden und bereit sein, sie wiederherzustellen. Die Einheit des Glaubens und der Sakramente, die nie verloren ging. Und die Einheit des Gebetes und der Liebe, die wir jetzt realisieren müssen.” Seine Haltung war klar: „Einer muss anfangen: Wir!”
Ganz neu war dieser Gedanke jedoch nicht. Bereits in den 1920er Jahren hatte Papst Pius XI. der Russischen Orthodoxen Kirche mit erheblichen Geldbeträgen geholfen, um zu verhindern, dass die Kommunisten unter dem Vorwand der herrschenden Hungersnot noch mehr heilige Gefäße und Ikonen konfiszieren würden. Auch KIRCHE IN NOT hatte bereits zur Zeit des Kommunismus einen Teil der Hilfe für die leidenden Christen hinter dem Eisernen Vorhang den orthodoxen Brüdern und Schwestern zugute kommen lassen. So unterstützte das Werk bereits zu Sowjetzeiten die orthodoxe Kirche in Russland mit religiösen Büchern. Zwar leistet KIRCHE IN NOT in erster Linie Hilfe für die katholische Seelsorge und unterstützt auch in Russland vor allem die katholische Kirche, damit sie ihre eigenen Gläubigen geistlich betreuen kann. Pater Werenfried verstand jedoch, dass „die unerlässliche Neuevangelisierung Russlands die ureigene Aufgabe unserer orthodoxen Schwesterkirche ist” und dass die Russische Orthodoxe Kirche nach der beispiellosen Verfolgung zu Sowjetzeiten nun ebenfalls bei null anfangen musste und Hilfe brauchte. Noch kurz vor seinem Tod am 31. Januar 2003 unterstrich er: „Wir streben eine Ökumene der Solidarität an. Es darf keine Konkurrenz, kein Misstrauen und keinen Fremdenhass geben zwischen zwei Kirchen, die zusammengehören.” Nie ist es dabei das Ziel gewesen, die Orthodoxe Kirche zu latinisieren oder Mitglieder von ihr abzuwerben, sondern von Anfang an konnte es nur darum gehen, den orthodoxen Mitchristen in selbstloser Liebe zu helfen. Dies entspricht vollständig der Position der katholischen Kirche. So stellte Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „Deus Caritas Est” unmissverständlich klar, dass die „praktizierte Nächstenliebe nicht Mittel für das sein [darf], was man heute als Proselytismus bezeichnet. Die Liebe ist umsonst; sie wird nicht getan, um damit andere Ziele zu erreichen.”
Einfach war es jedoch nicht, diese Initiative zu beginnen. Antonia Willemsen, die Nichte von Pater Werenfried, die mehr als 3o Jahre lang die Generalsekretärin des Gesamtwerkes war, erinnert sich: „Es war eine spannende Zeit, aber es war auch schwer. Überall sonst in der Welt kannten wir uns aus: in Afrika, in Asien, in Lateinamerika … Aber dort in Russland war es ein großes Etwas, das da war, aber das wir nicht kannten. Wir wussten auch noch nicht, mit welchen Leuten wir dort zusammenarbeiten sollten. Überhaupt hatten wir immer nur für die katholische Kirche gearbeitet und hatten im Kontakt mit anderen Konfessionen keine Erfahrung. Es war ein Tasten und Suchen. Übrigens hatte auch der Vatikan selbst zu diesem Zeitpunkt noch kaum Erfahrung mit Russland, denn die Sowjetunion war 70 Jahre lang verschlossen gewesen, und es hatte ja die ganze Zeit über keine katholischen Bischöfe und keinen Nuntius dort gegeben.”
Dass der Einsatz für die Versöhnung bei Wohltätern und Mitarbeitern nicht nur auf Gegenliebe stoßen würde, liegt in der Natur der Sache. Dies war für Pater Werenfried nichts Neues, war er doch auf diesen Widerstand bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestoßen, als sein Werk „geboren” wurde. Auf eine Initiative von Papst Pius XII. hin hatte er 1947 damit begonnen, die Menschen in Flandern und in seiner niederländischen Heimat zur Hilfe für die notleidende deutsche Bevölkerung anzuspornen. In manchen Kreisen rief dieser Appell Empörung hervor, denn immerhin waren die Deutschen die „Feinde von gestern” gewesen. Pater Werenfried erinnerte sich später an diese Zeit: „Viele hielten eine Versöhnung für unmöglich, solange die von Hitler geschlagenen Wunden noch bluteten. Andere zweifelten an meinem gesunden Menschenverstand oder verdächtigten mich, faschistisch angehaucht zu sein. Mein Argument, man könne ein ganzes Volk mitten in Europa nicht krepieren lassen, ohne das Fortbestehen unseres Kontinentes zu gefährden, schlug eine erste Bresche in die Mauer des Hasses, die Deutschland umgab. Die Wahrheit, dass die christliche Liebe auch die Liebe zum Feind einschließt, überzeugte rasch das noch gläubige Volk. Meine Berichterstattung über die deutsche Not tat ein Übriges. Wellen der Liebe spülten den Hass aus unzähligen Herzen hinweg. Die Menschen waren besser, als viele gedacht hatten!”
Im Alter von fast achtzig Jahren sah er sich erneut von einigen Seiten mit Kritik konfrontiert, als er „die Hilfe für die orthodoxe Kirche als neue Dimension unseres Werkes sowie als Zeichen selbstloser Liebe und Weg der Versöhnung in unser Programm” aufnahm. Davon ließ er sich jedoch nicht beirren und entgegnete. „Mehr denn je glaube ich an meine Berufung, abermals Versöhnung zu predigen, die Kirche im Westen zur tätigen Liebe anzuspornen für unsere orthodoxen Brüder, die am längsten unter dem Kommunismus gelitten haben und der meistgefährdete Teil der Christenheit sind. Liebe und Versöhnung zu fördern, um ihnen die Last zu erleichtern, unter der sie nach 7o Jahren Verfolgung zusammenbrechen. Mehr als die Hälfte ihrer Kirchen sind zerstört, ihre heiligen Bücher sind verbrannt, Tausende ihrer Priester und Bischöfe als Märtyrer gestorben. Andere kollaborierten mit dem KGB, der sie vielleicht noch immer in seiner Macht hält. Vielleicht dachten manche, ihre Kirche hätte nicht die Kraft, so lange in Katakomben zu überleben. Vielleicht suchten sie einen Ausgleich mit den Machthabern, um ihre Kirche zu retten. Andere schlossen Kompromisse aus Feigheit oder Selbstsucht. Dies kam auch in der katholischen Kirche vor. Sogar unter den zwölf Aposteln gab es einen Schwächling, der Jesus verleugnete … und einen Verräter. Lasst uns nicht urteilen, sondern helfen.”
Viele Menschen fühlten sich hingegen gerade von dieser Aktion angesprochen. Es gingen zahlreiche Briefe wie dieser ein, den eine Wohltäterin aus Großbritannien geschrieben hatte: „Ich hatte Tränen in den Augen, als ich Ihren Junibrief las. Seit langem bekümmert mich die Spaltung zwischen uns und unseren orthodoxen Brüdern und Schwestern, und ich bete immer, dass sie geheilt werden möge. Endlich gibt es jemanden, der in Liebe, ohne Furcht oder Argwohn im Namen Christi bereit ist, dort zu helfen, wo es am nötigsten ist.”
Nach der Predigt in einem flämischen Dorf sammelte Pater Werenfried 3,5 Millionen belgische Franken. Während eines Mittagessens in Kalifornien, bei dem er den Gästen diese Initiative vorstellte, wurden 37.00o Dollar in seinen Millionenhut gelegt. In Madrid erlebte er sogar die erste Pressekonferenz seines Lebens, die mit einer Kollekte endete. Die 47 anwesenden Journalisten waren von seinem Hilfsprojekt für die Orthodoxe Kirche so begeistert, dass sie mehr geben wollten als nur ihren Applaus.
Sein Engagement für den Dialog zwischen der Römischen Katholischen Kirche und der Russischen Orthodoxen Kirche wurde insbesondere anlässlich des 60-jährigen Bestehens von KIRCHE IN NOT im Jahr 2007 auch von Walter Kardinal Kasper, dem damaligen Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, gewürdigt. Er sagte, Pater Werenfried habe „früh begriffen, dass der Begegnung mit der Russischen Orthodoxen Kirche eine Schlüsselstellung zukommt und dass dabei noch viel praktische Versöhnungsarbeit notwendig ist”. Der Kardinal betonte in diesem Zusammenhang auch, man dürfe dabei „nicht immer gleich auf Wechselseitigkeit bestehen”, sondern müsse „den ersten Schritt oder die ersten Schritte einfach in der Überzeugung tun, dass Werke der Liebe nie wertlos und fruchtlos bleiben”. So habe der Gründer von KIRCHE IN NOT gezeigt, „dass der ökumenische Dialog nicht nur eine akademisch-theologische Sache ist, sondern vor allem praktisch vonstatten geht. Das Wichtigste ist, einander zu zeigen, dass wir wirklich Christen sind, die sich das Gebot der Nächstenliebe zu Eigen gemacht haben.”
Auch Christoph Kardinal Schönborn, der Erzbischof von Wien, war von diesem Engagement beeindruckt und sagte anlässlich dieses Jubiläums, Pater Werenfried sei „ein ganz großes Vorbild” und meinte, er könne „eigentlich nur mit dem heiligen Paulus und mit Don Bosco verglichen werden”. Er selbst war ihm in Wien zweimal begegnet, und besonders stark im Gedächtnis war ihm das geblieben, was Pater Werenfried ihm über die Hilfsaktion für die Russische Orthodoxe Kirche berichtet hatte: „Ich muss sagen, es hat mich tief beeindruckt. Das war der Geist, aus dem heraus er nach dem Krieg in Deutschland geholfen hat, aus einem Land [Niederlande] kommend, das so viel unter der deutschen Herrschaft gelitten hat. Und jetzt seit einigen Jahren dieses Bemühen, der Russischen Orthodoxen Kirche in einer Situation zu helfen, die auch sehr schwierig war. Ich halte diesen Grundgedanken für sehr, sehr kostbar, einen zutiefst christlichen Gedanken, auch einen zutiefst ökumenischen Gedanken.”
Auch in Russland stieß die Initiative auf ein großes Echo und brachte viele Menschen zum Nachdenken. Ein gläubiger Russe schrieb Pater Werenfried: „Diesen Aufruf las ich mit großem Staunen und tiefer Dankbarkeit. Ich dachte immer, der Westen sei materialistisch. Auch die Haltung unserer Kirche gegenüber den Katholiken ist nicht immer freundlich gewesen. Jetzt sehe ich die ganze Situation in einem anderen Licht: Es stellt sich heraus, dass Menschen im Westen wirklich um uns besorgt sind — besorgt genug, um zu geben!”
Die Liebe, die Mühe und das Herzblut, mit denen Pater Werenfried gegen alle Widerstände dem Auftrag Papst Johannes Pauls II. nachkam, sind nicht vergeblich gewesen. Anlässlich seines 10. Todestages und 100. Geburtstages im Januar 2013 schrieb Metropolit Hilarion an KIRCHE IN NOT: „Das Hilfswerk KIRCHE IN NOT war nahezu die erste katholische Organisation, die es verstand, konstruktive, freundschaftliche Beziehungen mit der russischen Kirche aufzubauen. Mit Dankbarkeit erinnern wir uns daran, dass in den schwierigen 1990er Jahren, der Zeit der stürmischen politischen Reformen und der wirtschaftlichen Erschütterungen, als sich das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche nicht allzu einfach gestaltete, der Gründer und die Leitung des Werkes klug und entschlossen die Richtung zur Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit mit der russischen Kirche einschlugen. Mit besonderer Dankbarkeit erinnern wir uns in diesen Tagen an die Mühe Pater Werenfried van Straatens, und ich bringe die Hoffnung zum Ausdruck auf eine weitere fruchtbare Zusammenarbeit des von ihm gegründeten Hilfswerkes mit dem Moskauer Patriarchat, zum Heile unserer Kirchen und zur Stärkung des christlichen Zeugnisses vor den neuen Herausforderungen der Gegenwart.”
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Quelle: Buch “Brückenschlag zwischen Rom und Moskau – Zwei Jahrzehnte Versöhnung und Aufbauhilfe für die Russische Orthodoxe Kirche” von Eva-Maria Kolmann, KIRCHE IN NOT /Ostpriesterhilfe Deutschland e.V., München, 1. Auflage 2014.
