(Fortsetzung zum 8. Beitrag)
IX
EVANGELII GAUDIUM
DIE FREUDE DES EVANGELIUMS
NACH PAPST FRANZISKUS
»Selbst Gott könnte nichts für jemanden tun,
der Ihm keinen Platz einräumt.
Man muss sich ganz leer machen: So kann Er
eintreten und machen, was Er will.«
Mutter Teresa von Kalkutta
NICOLAS DIAT: In der Nachfolge Pauls VI. spricht Franziskus in seinem ersten Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium von der innigen und tröstlichen Freude, das Evangelium zu verkünden.
KARDINAL ROBERT SARAH: Wenn der Mensch ein Gut mitteilt, dann strömt es aus seinem Herzen hervor wie eine Wasserquelle, die sich um ihn herum ausbreitet. Das Gute wird in dem Maße gestärkt, in dem man es weitergibt. Es wird hingegen geschwächt durch die Weigerung, es zu teilen.
Die Erneuerung des Glaubens und des christlichen Lebens existiert nur in der Mission. Sie ist eine Gabe Gottes, die uns an seinem Heilswerk teilhaben lässt. Wenn der Glaube großherzig weitergegeben wird, wird er gestärkt, denn »der Glaube wird durch Weitergabe bezeugt«, hat Johannes Paul II. so oft im Sinne des heiligen Augustinus gesagt. Sobald das Evangelium überall auf der Welt verbreitet wird, strahlt das Wort Gottes aus wie ein Sonnenstrahl, um uns zu erleuchten, damit wir das Wirken der Finsternis zurückweisen. Die Freude ist ebenso überreich in den Herzen der Boten des Evangeliums wie in den Herzen all derer, die Christus die Tür zu ihrem Leben öffnen.
Leider wird die Zahl derer, die Christus nicht kennen und nicht zur Kirche gehören, ständig größer. Seit dem Konzil hat sie sich fast verdoppelt. Angesichts dieser unermesslichen Menge von Menschen, die der Vater liebt und für die er seinen eingeborenen Sohn Jesus Christus gesandt hat, wird die Notwendigkeit der Missionsarbeit deutlich. Das Glück, die Kirche wachsen zu sehen, muss für jeden Getauften ein zentrales Anliegen sein. Wenn die Freude, das Evangelium zu verkünden, nicht den Kern des christlichen Daseins bildet, können wir nur ein besorgniserregendes Symptom spiritueller Dürre beklagen. Die einzige echte christliche Entfaltung liegt in der Darbringung und Hingabe seiner selbst für das Evangelium. Denn Geben ist seliger als nehmen; Jesus und sein Evangelium weiterzugeben, den Blick der ganzen Menschheit auf das Geheimnis Christi zu lenken, macht das Herz jedes Christen weit. Die Botschaft Christi gehört uns nicht; sie ist da, um der ganzen Menschheit angeboten zu werden. Gerechterweise muss man auch sagen, dass die absolute Zahl der Getauften auf der Welt unaufhörlich zunimmt und in einigen Ländern der Prozentsatz der Katholiken sogar wächst.
Es gibt verschiedene Ebenen der Evangelisierung. Wir haben es nicht immer mit demselben »Durst« zu tun, denn zum einen geht es darum, den Glauben der Getauften zu stärken, die sich von der Kirche entfernt haben, und zum anderen um die Herausforderung, zum ersten Mal über Christus zu Menschen zu sprechen, die noch nie von Ihm gehört haben.
Franziskus ruft in Erinnerung, dass die Evangelisierung zu der Sendung gehört, die Christus uns übertragen hat. In seinem apostolischen Schreiben zitiert er zwei wichtige Sätze des heiligen Paulus: »Denn die Liebe Christi drängt uns« (2 Kor 5,14) und »Weh mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde!« (1 Kor 9,16). Doch der Papst führt auch aus, dass uns »einige Worte des heiligen Paulus nicht verwundern dürfen«. Es ist unstreitig, dass es Länder gibt, in denen die Worte des Völkerapostels kaum verstanden werden …
Was genau ist unter christlicher Freude zu verstehen?
Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die christliche Freude noch nie einem leichten Glück geähnelt hat, einem Weg, auf dem wir von einem Triumph zum nächsten fliegen. Ich möchte das Wort des heiligen Petrus nicht vergessen: »Denn wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe.« Was den Völkerapostel betrifft, so betrachtet er die Evangelisierung als dringende Pflicht. In der Tat stellt Paulus sein Amt häufig mit den Begriffen von Kämpfen, Leiden und Prüfungen dar. Die Bindung an Christus bringt immer große Freude mit sich, doch auch die Verbundenheit mit dem Geheimnis seines Leidens, seines Todes und seiner Auferstehung: »Jetzt freue ich mich in den Leiden«, so schreibt er an die Kolosser, »die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt. Ich diene der Kirche durch das Amt, das Gott mir übertragen hat, damit ich euch das Wort Gottes in seiner Fülle verkündige« (Kol 1,2425). Für das Wort Gottes erduldete er oft »Mühsal und Plage, durchwachte viele Nächte, ertrug Hunger und Durst, häufiges Fasten, Kälte und Blöße. Um von allem andern zu schweigen, weise ich noch auf den täglichen Andrang zu mir und die Sorge für alle Gemeinden hin« (2 Kor 11,27-28).
So schreibt Franziskus in Anlehnung an Paul VI.: »Folglich dürfte ein Verkünder des Evangeliums nicht ständig ein Gesicht wie bei einer Beerdigung haben. Gewinnen wir den Eifer zurück, mehren wir ihn und mit ihm ›die innige und tröstliche Freude der Verkündigung des Evangeliums, selbst wenn wir unter Tränen säen sollten. [… Die Welt von heute, die sowohl in Angst wie in Hoffnung auf der Suche ist, möge die Frohbotschaft nicht aus dem Munde trauriger und mutlos gemachter Verkünder hören, die keine Geduld haben und ängstlich sind, sondern von Dienern des Evangeliums, deren Leben voller Glut erstrahlt, die als Erste die Freude Christi in sich aufgenommen haben‹.«
Im Übrigen ist es wichtig, daran zu erinnern, dass das Zweite Vatikanische Konzil einen Wendepunkt in der Auffassung der Mission darstellte. Bei einem Symposium am »Institut catholique d’études supérieures« der Diözese Luçon im März 2013 zum Thema »Fünfzigjähriges Jubiläum des Zweiten Vatikanischen Konzils — Hermeneutik der Kontinuität« habe ich darauf hinweisen wollen, dass sich das Zweite Vatikanum zum ersten Mal im Rahmen eines ökumenischen Konzils mit der Mission beschäftigt hat. Die Arbeit hatte beim Ersten Vatikanum begonnen, war aber nicht beendet worden. Im Dekret »Ad Gentes« über die Missionstätigkeit der Kirche gibt es einen Perspektivenwechsel durch die Erklärung, die Missionsgrundlage finde sich nicht nur im Mandat Jesu, sondern in der Dreifaltigkeit: »Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach ›missionarisch‹ (d. h. als Gesandte unterwegs), da sie selbst ihren Ursprung aus der Sendung des Sohnes und der Sendung des Heiligen Geistes herleitet gemäß dem Plan Gottes des Vaters« (Ad Gentes, 2).
Wenn wir den Missionsauftrag nicht klar in der Dreifaltigkeit verankern, besteht die Gefahr, dass die Mission auf diverse soziale Aktivitäten reduziert wird, auf Werke für wirtschaftliche Entwicklung und Fortschritt, auf ein politisches Engagement zugunsten der Befreiung unterdrückter Völker sowie einfach auf den Kampf gegen Ausgrenzung. All das ist gut und manchmal notwendig, doch es unterscheidet sich von der Sendung, die Jesus seinen Jüngern anvertraut hat. Missionar sein bedeutet nämlich nicht, den Menschen Dinge zu geben, sondern das Fundament des trinitarischen Lebens mitzuteilen: die Liebe des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Missionar sein besteht darin, die Menschen zur persönlichen Erfahrung der unermesslichen Liebe zu führen, die den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist vereint, um sich gleichzeitig mit ihnen von der glühenden Liebe erfassen zu lassen, die sich auf überwältigende Weise am Kreuz offenbart hat. Missionar sein bedeutet, den anderen Menschen zu helfen, wirkliche Jünger Christi zu werden, in tiefer Freundschaft mit Jesus zu leben und Jesus gleich zu werden (vgl. Röm 6,5).Was zwischen Jesus und den Jüngern geschieht, kann in genauer Analogie zu dem gesehen werden, was zwischen Feuer und Eisen passiert: Zwischen Christus und den Jüngern gibt es wirklich eine unaussprechliche Gemeinschaft des Lebens, der Liebe, der gegenseitigen Erkenntnis, einer so engen Verbindung, dass Jesus in ihnen wirkt und sie verzehrt wie eine Feuersglut. Im Bild vom Eisen und vom Feuer, das sich im letzten Manuskript der heiligen Theresia vom Kinde Jesus findet, hat sie diese symbolische Dimension für die Tiefe des Liebesbandes zwischen Jesus und denen, die er liebt, wahrgenommen. Allein das Feuer hat die Macht, das Eisen zu durchdringen, es mit seiner brennenden Substanz zu durchtränken, es in sich zu verwandeln, es so zum Glühen zu bringen, dass das Eisen mit dem Feuer gleich zu werden, mit ihm eins zu werden scheint. Der Jünger, der sich mit Jesus vereint und in die Glut Seines durchbohrten Herzens eintaucht, ist mit dem Scheit vergleichbar, der all seine Unreinheiten verbrennt, sie trocken werden lässt und ausscheidet, bevor er sich in Feuer verwandelt.
Die Mission besteht nicht nur darin, eine Botschaft zu vermitteln, sondern darin, den Menschen zu helfen, Christus zu begegnen und seine Liebe innerlich zu erfahren.
Am Anfang der Bekehrung des heiligen Paulus steht eine Entdeckung: Trotz seines Umherirrens hat Jesus ihn geliebt und sich für ihn hingegeben. Paulus sah sich als großen Sünder an, doch ihm wurde bewusst, dass Gott ihn trotz seiner Fehler liebte. Von da an verstand er, dass nichts wichtiger war, als den Heiden die Liebe Gottes zu offenbaren. Sein ganzes Leben lang wird er über das entscheidende Erlebnis auf dem Weg nach Damaskus nachdenken, wo er die barmherzige Liebe Gottes sich selbst gegenüber erfahren hat.
Den Ursprung der Mission fasst der heilige Johannes zusammen: »Was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. […1 Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Wir schreiben dies, damit unsere Freude vollkommen ist« (1 Joh 1,1-4).
Franziskus legt unter anderem besonderen Nachdruck auf die notwendige »missionarische Umgestaltung der Kirche«. War diese Herausforderung nicht der Kern Ihrer Arbeit bei der Kongregation für die Evangelisierung der Völker?
Der Papst sagt, dass die Kirche sich bemühen muss, zur Mission außerhalb ihrer traditionellen Grenzen aufzubrechen, um einen Teil ihrer Arbeit auf Räume und Menschen zu konzentrieren, die sie möglicherweise vernachlässigen könnte. Im Alten Testament machen sich Abraham, Mose und Jeremia auf das Geheiß Gottes auf. Die Apostel selbst waren immer wieder erstaunt über die Wege, die Christus beschritten hat. So kann der Heilige Vater schreiben: »Die Evangelisierung folgt dem Missionsauftrag Jesu: ›Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe‹ (Mt 28,19-20). In diesen Versen ist der Moment dargestellt, in dem der Auferstandene die Seinen aussendet, das Evangelium zu jeder Zeit und an allen Orten zu verkünden, sodass der Glaube an ihn sich bis an alle Enden der Erde ausbreite.«
Der Ansporn, aus sich herauszugehen, um zu evangelisieren, stellt eine kurze Zusammenfassung des Christseins dar. Wir können nicht anders, als unsere Freude auszustrahlen und den Menschen von Gott zu erzählen, die ihn noch nicht kennen. Die Kirche ist ursprünglich eine Gemeinschaft missionarischer Jünger. Die Randgebiete, von denen der Papst spricht, rufen zu einem Engagement gegenüber Christus und seinem Kreuzesopfer auf. Ich halte diese Worte für aussagekräftig: »Das Wort Gottes trägt in sich Anlagen, die wir nicht voraussehen können. Das Evangelium spricht von einem Samen, der, wenn er einmal ausgesät ist, von sich aus wächst, auch wenn der Bauer schläft (vgl. Mk 4,26-29). Die Kirche muss diese unfassbare Freiheit des Wortes akzeptieren, das auf seine Weise und in sehr verschiedenen Formen wirksam ist, die gewöhnlich unsere Prognosen übertreffen und unsere Schablonen sprengen. Die innige Verbundenheit der Kirche mit Jesus ist eine Verbundenheit auf dem Weg und die Gemeinschaft ›stellt sich wesentlich als missionarische Communio dar«‹, sagt Franziskus.
Die missionarische Umgestaltung der Kirche ist kein menschlicher Weg, sondern ein Aufruf des Heiligen Geistes, der unsere Wege in der Finsternis dieser Welt wie eine hell brennende Fackel erleuchtet.
Ich habe es als Privileg empfunden, dass ich neun Jahre im Dienst der Evangelisierung tätig sein durfte, und ich habe voller Freude das schnelle und schöne Wachstum der jungen Kirche in den Missionsländern, in Afrika, in Asien sowie in Ozeanien, feststellen können.
Der Papst spricht in seinem Schreiben mehrfach die Vergötterung des Geldes an, die die Geschichte der Menschheit durchzieht, seit einigen Jahren jedoch besorgniserregende Ausmaße anzunehmen scheint. Was sagen Sie zu seinen Überlegungen?
Franziskus hält es für wichtig, Folgendes in Erinnerung zu rufen: »Die Kultur des Wohlstands betäubt uns und wir verlieren die Ruhe, wenn der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht gekauft haben, während alle diese wegen fehlender Möglichkeiten unterdrückten Leben uns wie ein bloßes Schauspiel erscheinen, das uns in keiner Weise erschüttert. Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften.«
Christus selbst hat nichts besessen und er hat unaufhörlich den Kult um das Goldene Kalb sowie die Händler im Tempel angeprangert. Der Missionar muss ein Feind des leichten Geldes sein, das er nicht braucht, um seine Arbeit zu tun. Gewiss, im Alltag sind finanzielle Mittel notwendig. Doch das bevorzugte Werkzeug der Mission bleibt die Gnade.
Die Kirche hat von Anfang an immer dafür gekämpft, dass das Geld im Dienst des Menschen steht. Ich bin ausgesprochen schockiert, wenn ich sehe, wie Industrieunternehmen und Finanzgruppen in Afrika ohne irgendeinen moralischen Grundsatz die natürlichen Ressourcen von Ländern ausbeuten, die in großer Armut leben. Sie kümmern sich in keiner Weise um das Elend der Bevölkerung. Die Soziallehre der Kirche hat hingegen immer erklärt, dass sich die Gerechtigkeit auf alle Phasen der Wirtschaftstätigkeit bezieht, weil sie immer den Menschen und seine Ansprüche betrifft. Das Auffinden von Ressourcen, die Finanzierung, die Produktion, der Konsum und die anderen Phasen des Wirtschaftskreislaufs haben unweigerlich moralische Implikationen. Außerdem hat jede wirtschaftliche Entscheidung Folgen moralischer Art und bringt Anforderungen der Gerechtigkeit mit sich.
Der Papst wollte erneut den Zynismus der materialistischen Gesellschaften anprangern, die den Menschen auf eine einfache Konsumfunktion reduzieren und versuchen, seine spirituelle Entwicklung mit allen ihnen zu Verfügung stehenden Herrschaftsmitteln zu begrenzen. Die Macht des Geldes sanktioniert die Herrschaft einer horizontalen Welt, in der jede Transzendenz negiert, herabgewürdigt oder lächerlich gemacht wird.
Eine Gesellschaft, deren einziger Orientierungspunkt die materielle Entwicklung ist, driftet unweigerlich in Sklaverei und Unterdrückung ab. Der Mensch wird nicht geboren, um sein Bankkonto in Ordnung zu bringen; er wird geboren, um seinen Nächsten zu lieben und zu Gott zu gelangen.
Franziskus kritisiert den gefühlskalten Egoismus. Was insbesondere beabsichtigt er, wenn er die egoistische Trägheit anprangert?
Die Trägheit ist ein Übel der Seele, das sich durch Unlust, Unwillen gegenüber dem Gebet, Ablehnung oder Lockerung der Beichte, Vernachlässigung des Herzens und Desinteresse für die Sakramente ausdrückt. Diese Symptome stellen oftmals eine vorübergehende Prüfung dar, doch die Trägheit kann auch zu einer wirklichen geistlichen Apathie führen.
Für die Moraltheologie ist die Trägheit eine der sieben Hauptsünden.
Franziskus hat besonders deswegen Grund, über ein so schweres Problem beunruhigt zu sein, weil es im Westen besorgniserregende Ausmaße annimmt. Diesen Punkt hat er in seiner Rede vor dem Europaparlament in Straßburg im November 2014 besonders klar herausgestellt.
Wie lässt sich das Nachlassen der missionarischen Kraft der Kirche verstehen, wenn nicht durch Selbstbezogenheit und die Kälte unseres Herzens? Die Christen sind berufen, das Salz und das Licht der Welt zu sein. Es steht nirgendwo im Evangelium geschrieben, dass wir das Wort Gottes für unsere kleinen persönlichen Zwecke bewahren sollen. Egoistische Flucht und fehlende Großherzigkeit verbergen häufig einen Mangel an Reife und eine sehr verarmte Sicht der menschlichen Natur.
Es ist unvorstellbar, dass ein Christi nicht bereit ist, sich tätig für die Weitergabe des Glaubens einzusetzen. Franziskus macht den Priestern und Ordensleuten oftmals heftige Vorhaltungen, sie seien Funktionäre des Glaubens geworden, in einer Art starrem, identitätsbezogenen Rückzug auf das Priestertum. Ein Priester, der ein bequemes und geschütztes Universum für sich aufbaut, läuft zweifellos Gefahr, dem Ruf seines Priesteramts nicht mehr zu entsprechen. Der Papst fordert von allen, in See zu stechen und im starken Wind des missionarischen Abenteuers, der Gefahr des Andersseins und der Kühnheit Gottes aufzubrechen. Das missionarische Erwachen wird die wirklichen Grenzen zerbersten lassen, innerhalb derer sich der laue oder bürokratische Priester einschließen kann. Der Priester, der sparsam mit der Zeit für seine Schafe umgeht, befindet sich in einem echten geistlichen Unwetter.
Gleichermaßen möchte ich persönlich mit einem Gefühl der Verbitterung solche Priester anklagen, die letztlich nur ihrem Streben nach menschlichem Erfolg, persönlicher Macht und persönlichem Ehrgeiz sowie politischer und medialer Anerkennung folgen. Ein Geistlicher ist auf dieser Welt, um über Gott zu sprechen und Gott zu dienen — und nicht um das Gegenteil zu tun. Angst, Fieberhaftigkeit und Eitelkeit bleiben erbitterte Feinde der Menschen, die ihr Leben Gott geschenkt haben.
Der Papst scheut sich auch nicht, zu erklären: »So nimmt die größte Bedrohung Form an, der ›graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags, bei dem scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht, in Wirklichkeit aber der Glaube verbraucht wird und ins Schäbige absinkt‹. Es entwickelt sich die Grabespsychologie, die die Christen allmählich in Mumien für das Museum verwandelt. Enttäuscht von der Wirklichkeit, von der Kirche oder von sich selbst, leben sie in der ständigen Versuchung, sich an eine hoffnungslose, süßliche Traurigkeit zu klammern, die sich des Herzens bemächtigt wie ›das kostbarste der Elixiere des Dämons‹. Berufen, um Licht und Leben zu vermitteln, lassen sie sich schließlich von Dingen faszinieren, die nur Dunkelheit und innere Müdigkeit erzeugen und die apostolische Dynamik schwächen. Aus diesen Gründen erlaube ich mir, darauf zu beharren: Lassen wir uns die Freude der Evangelisierung nicht nehmen!«
Ebenso energisch prangert Franziskus einen »sterilen Pessimismus« an, den er ablehnt …
Franziskus erinnert beharrlich an diese Notwendigkeit, denn er lehnt ab, dass sich die Gläubigen von den Schwierigkeiten alltäglicher Situationen einsperren lassen. Der Papst will nicht, dass die Jünger Christi Gefangene von Konflikten, von Widerspruch, von Hass sind. Heutzutage macht die Kirche zweifellos zahlreiche Unwetter durch, aber sie hat schon schwerere spirituelle oder weltliche Dramen überlebt. Es ist wichtig, dass die Getauften die schöne und heilige Freude der kleinen Kinder bewahren. Pessimismus bringt Sterilität und Zerstörung hervor, während die Hoffnung aus dem Heiligen Geist hervorgeht. Die täglichen Sorgen, so schwer sie auch sein mögen, dürfen keine Entschuldigung dafür werden, unser missionarisches Engagement zu bremsen. Christus selbst hat sehr schwere Prüfungen durchgestanden. Die Härte des Augenblicks kann sich in Stärke verwandeln und entwirft den Horizont, der uns erlauben wird, zu wachsen.
Man muss den Blick des Glaubens bewahren. Der Zweifel ist nicht christlich. Die Apostel haben viele Ungewissheiten erfahren und verstanden, dass sie vorangehen mussten, ohne zurückzuschauen. Die Christen sind berufen, sich den Händen Gottes zu überlassen, der der eigentliche Herr der Evangelisierung ist.
Wir werden immer schwache und ungeschickte Werkzeuge sein; doch wir müssen den Kurs der Hoffnung auf Gott beibehalten. Er hat sein Volk gedrängt, Ägypten zu verlassen, um in das Verheißene Land aufzubrechen. In der Wüste wollten einige wieder zurückgehen, weil sie sich nach den »Fischen, den Gurken und den Zwiebeln« sehnten und vor allem weil sie vor der Durchquerung so wenig gastlicher, weiter Gebiete Angst hatten, aber Mose hat seine Brüder und Schwestern ermahnt, nicht an Gott zu zweifeln und den Glauben zu bewahren. In schwierigen Situationen bleibt das Vorbild mutiger und unerschrockener Missionare unverzichtbar. Wie kann ein Priester vergessen, dass sein eigentliches Bestreben das Heil aller Menschen ist?
Franziskus verwendet ein besonders passendes Bild, indem er die Christen aufruft, »wie große Amphoren zu sein, um den anderen zu trinken zu geben«: »Seht, es kommen Tage – Spruch Gottes, des Herrn –, da schicke ich den Hunger ins Land, nicht den Hunger nach Brot, nicht Durst nach Wasser, sondern nach einem Wort des Herrn« (Am 8,11). »Der Hunger und der Durst, von dem hier die Rede ist, begehrt keine weltliche Speise und keinen irdischen Trank«, kommentiert der heilige Leo der Große. Der Papst erinnert zu Recht daran, dass sich die Amphore in ein schweres Kreuz verwandeln kann; doch vergessen wir nicht, dass sich der Herr uns gerade am Kreuz als Quelle lebendigen Wassers übereignet hat. Aus dem Herzen Jesu sprudelten Ströme der Liebe hervor, um eine Welt zu bewässern, die verdorrt war durch Hass, Gewalt, Misstrauen und Kriege …
Der Papst lehnt Pessimismus ab und fordert dazu auf die Zukunft positiv zu betrachten, nicht wahr?
In seinem Schreiben wollte Franziskus die Ansprache von Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Konzils zitieren. Der gute Papst Johannes hat das menschliche Dasein – sowohl aufgrund seines Charakters als auch auf Grund seiner Erfahrungen – immer optimistisch betrachtet. Er hat also mit seiner so charakteristischen Stimme gesagt: »(Es) dringen bisweilen betrübliche Stimmen an Unser Ohr, die zwar von großem Eifer zeugen, aber weder genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge noch ein kluges Urteil walten lassen. Sie sehen in den modernen Zeiten nur Unrecht und Niedergang. [ ] Doch Wir können diesen Unglückspropheten nicht zustimmen, wenn sie nur unheilvolle Ereignisse vorhersagen, so, als ob das Ende der Welt bevorstünde. In der gegenwärtigen Weltordnung führt uns die göttliche Vorsehung vielmehr zu einer neuen Ordnung der Beziehungen unter den Menschen. Sie vollendet so durch das Werk der Menschen selbst und weit über ihre Erwartungen hinaus in immer größerem Maß ihre Pläne, die höher sind als menschliche Gedanken und sich nicht berechnen lassen – und alles, auch die Meinungsverschiedenheiten unter den Menschen, dienen so dem größeren Wohl der Kirche.«
Der Optimismus verhindert jedoch nicht die Klarsicht. Benedikt XVI. war ein Meister der Klarheit. Ich denke vor allem an die Worte dieses großen Papstes gegen Ende seines Pontifikats im Oktober 2012 aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags der Eröffnung des Konzils: »Auch heute sind wir glücklich, haben Freude in unserem Herzen, aber ich würde sagen, eine vielleicht nüchternere Freude, eine demütige Freude. In diesen fünfzig Jahren haben wir gelernt und erfahren, dass die Erbsünde existiert und immer wieder in persönlichen Sünden zum Ausdruck kommt, die auch zu Strukturen der Sünde werden können. Wir haben gesehen, dass auf dem Acker des Herrn immer auch Unkraut ist. Wir haben gesehen, dass sich im Netz des Petrus auch schlechte Fische befinden. Wir haben gesehen, dass die menschliche Schwäche auch in der Kirche vorhanden ist, dass das Schiff der Kirche auch im Gegenwind fährt, in Stürmen, die das Schiff bedrohen, und zuweilen haben wir gedacht: ›Der Herr schläft und hat uns vergessen.‹ Das ist ein Teil der Erfahrungen, die wir in diesen fünfzig Jahren gemacht haben, aber wir haben auch eine neue Erfahrung der Gegenwart des Herrn, seiner Güte, seiner Kraft gemacht. Das Feuer des Heiligen Geistes, das Feuer Christi ist kein alles verschlingendes, zerstörendes Feuer; es ist ein stilles Feuer, es ist eine kleine Flamme der Güte, der Güte und der Wahrheit, die verwandelt, die Licht und Wärme schenkt. Wir haben gesehen, dass der Herr gegenwärtig ist und den Herzen Wärme gibt, Leben zeigt, Charismen der Güte und der Liebe hervorbringt, die die Welt erleuchten und für uns Gewährleistung der Güte Gottes sind. Ja, Christus lebt, er ist auch heute bei uns und wir können auch heute glücklich sein, denn seine Güte verlischt nicht; sie ist auch heute stark!« Das erklärt, warum Benedikt XVI. so viel von der christlichen Freude gesprochen hat und warum sein Gesicht von einem so liebevollen, tiefgründigen, von Güte geprägten Lächeln erleuchtet war.
In ähnlicher Weise hinterfragt Franziskus immer wieder die »spirituelle Weltlichkeit«. Dieses Thema scheint auch im Zentrum Ihrer Überlegungen zu stehen.
Der Papst zeigt echten Mut, wenn er solche Begriffe verwendet. Denn in der Kirche – genauer in ihrer Leitung – kann es Menschen geben, die sich zu weltlichem Verhalten und weltlichen Gewohnheiten verleiten lassen.
Die »spirituelle Weltlichkeit« verbirgt sich hinter einem religiösen und spirituellen Erscheinungsbild, aber sie stellt nichtsdestoweniger eine echte Verleugnung Christi dar. Der Sohn Gottes ist gekommen, um den Menschen das Heil zu bringen und nicht irgendein schnelles Glück in Zimmern, die mit schönem, karmesinrotem Samt ausgelegt sind. Wer materiellen Wohlstand, weltlichen Komfort oder seine eigene statt Christi Ehre sucht, der arbeitet für den Teufel. Wer das Erscheinungsbild seines Priesteramts benutzt, um die irdischen Freuden besser genießen zu können, ist ein Renegat. Wer vergisst, dass die wahre Macht nur von Gott kommt, verstößt gegen sein Weiheversprechen.
In vielerlei Hinsicht ist die »spirituelle Weltlichkeit« nicht weit davon entfernt, in eine Art Pelagianismus abzugleiten. Denn der Verweltlichte zählt auf seine eigenen Kräfte sowie auf seine Freiheit und lässt die tatsächliche Macht der Gnade außer Acht.
So ist die Verweltlichung der schlimmste Feind des missionarischen Geistes und kann eine furchtbare Gefahr für ihn darstellen.
Der Priester ist ein Diener, er ist kein Gott; der Priester befehligt keine Truppen, er führt durch sein Vorbild seine Herde zu Gott. Der Priester sucht nicht nach Ehre, nach menschlichem Prestige, denn er bezieht seine Kraft allein aus Gott: »Non nobis Domine, non nobis: sed nomini tuo da gloriam« (»Nicht uns, o Herr, bring zu Ehren, nicht uns, sondern deinen Namen«, Ps 115,1).
Benedikt XVI. hatte das Ausmaß dieses Problems genau verstanden. Bei einer Rede in Freiburg am 25. September 2012 erklärte er: »Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muss die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von dieser ihrer Verweltlichung zu lösen und wieder offen auf Gott hin zu werden. Sie folgt damit den Worten Jesu: ›Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin‹ (Joh 17,16), und gerade so gibt er sich der Welt. Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben. Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder Ähnliches – bedeuteten nämlich jedes Mal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt. Damit teilt sie das Schicksal des Stammes Levi, der nach dem Bericht des Alten Testamentes als einziger Stamm in Israel kein eigenes Erbland besaß, sondern allein Gott selbst, sein Wort und seine Zeichen als seinen Losanteil gezogen hatte. Mit ihm teilte sie in jenen geschichtlichen Momenten den Anspruch einer Armut, die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen, und so wurde auch ihr missionarisches Handeln wieder glaubhaft. Die geschichtlichen Beispiele zeigen: Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von materiellen und politischen Lasten und Privilegien befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben. Die missionarische Pflicht, die über der christlichen Anbetung liegt und die ihre Struktur bestimmen sollte, wird deutlicher sichtbar. Sie öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selbst zu führen, indem sie zu dem führt, von dem jeder Mensch mit Augustinus sagen kann: Er ist mir innerlicher als ich mir selbst (vgl. Conf. 3, 6, 11). Er, der unendlich über mir ist, ist doch so in mir, dass er meine wahre Innerlichkeit ist. Durch diese Art der Öffnung der Kirche zur Welt wird damit auch vorgezeichnet, in welcher Form sich die Weltoffenheit des einzelnen Christen wirksam und angemessen vollziehen kann.«
Ich möchte zum Schluss drei Fragen stellen. Wie kann ein Priester, dem es an nichts fehlt, Christus ähnlich sein? Wie kann ein Priester, der materielle Bequemlichkeit in Fülle besitzt, vorgeben, mit Christus verbunden zu sein? Wie kann man das Wort Christi vergessen: »Da kam ein Schriftgelehrter zu ihm und sagte: Meister, ich will dir folgen, wohin du auch gehst. Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann« (Mt 8,19-20)?
In einer zynischen oder einfach oberflächlichen Welt möchten die Medien natürlich gerne glauben lassen, dass Jesus nicht in einem einfachen Stall geboren wurde, obwohl Maria und Josef überall zurückgewiesen wurden. Die Mächte, die Jesus nicht mögen, können ein solches Vorzeichen nicht akzeptieren; für sie ist der armselige Stall zwangsläufig ein romantischer Mythos. Sie vergessen auch, dass Christus bei seinem Tod nicht einmal einen Ort hatte, um bestattet zu werden. Er wurde in aller Eile in das Grab gelegt, das für Josef aus Arimathäa vorgesehen war …
Bestärkt durch seine Erfahrungen in Lateinamerika, räumt Franziskus der »evangelisierenden Kraft der Volksfrömmigkeit« ganz besonderen Raum ein. Wie sehen Sie kraft Ihrer pastoralen Erfahrung in Afrika diesen Ausdruck des Glaubens?
Die Begeisterung der afrikanischen Katholiken zeigt sich bei schönen Eucharistiefeiern, langen Wallfahrten, Prozessionen oder den Festen der großen Heiligen. Franziskus erinnert zu Recht an die Bedeutung dieser Frömmigkeitsform, zumal gewisse, rationalitätsgeschwollene Leute deren Bedeutung gerne abschwächen würden. Das Zeugnis des Volkes ist schön, weil es ein intensives Innenleben äußerlich sichtbar werden lässt. Die Volksfrömmigkeit stellt öffentlich dar, was Christus in der Verborgenheit der Herzen vollbringt. Von daher ist leicht verständlich, dass bestimmte Kräfte ihre Bedeutung herabmindern wollen … Die Volksfrömmigkeit ist oft eine Art und Weise, den Glauben zu inkulturieren. Christus tritt so in die Gemeinschaft mit den Wurzeln eines Volkes ein, das ihn noch nicht lange kennt. Die Volksfrömmigkeit steht im Zentrum eines echten Evangelisierungsprozesses. Ich erinnere mich, dass Benedikt XVI. mir bei einer Privataudienz anvertraut hat, die schönste Erinnerung an seine Reise nach Brasilien sei die ungemein berührende Frömmigkeit der Menschen.
In Guinea wollte ich eine Bußwallfahrt zu »Unserer Lieben Frau von Guinea« in Boffa einführen. Einige Gläubige hatten mehrere hundert Kilometer zurückzulegen, um das Heiligtum zu erreichen. Die Katholiken, die am weitesten weg wohnen, sind mehr als vierhundert Kilometer zu Fuß unterwegs, nicht zuletzt diejenigen, die aus meinem Dorf Ourous kommen. In den ersten Jahren hat sich die Bevölkerung, die uns auf dem Weg sah, gefragt, ob wir Flüchtlinge, Opfer einer Epidemie oder eines Krieges wären … Heute ist die Aufnahme seitens aller, der Christen wie der Muslime, fantastisch. Weiter von meiner Heimat entfernt möchte ich auch das Heiligtum von Kibeho in Ruanda nicht vergessen oder die Wallfahrten, die mit den Märtyrern von Uganda verbunden sind.
Für mich, Kind eines so armen afrikanischen Landes, war die erste Reise nach Lourdes unvergesslich. Noch heute besuche ich, nicht ohne eine gewisse Ergriffenheit, Paray-le-Monial, Ars, Lisieux oder die Kapelle der Rue du Bac. Mich beeindruckt der Ausdruck kindhafter Zuneigung von Pilgern jeden Alters, die in Fatima oder Tschenstochau zur Jungfrau pilgern oder ihr Bild mit dem Rosenkranz in der Hand auf Knien umrunden.
Ich finde es nicht verwunderlich, dass Franziskus Folgendes geschrieben hat: »Um diese Wirklichkeit zu verstehen, muss man sich ihr mit dem Blick des Guten Hirten nähern, der nicht darauf aus ist, zu urteilen, sondern zu lieben. Allein von der natürlichen Hinneigung her, die die Liebe schenkt, können wir das gottgefällige Leben würdigen, das in der Frömmigkeit der christlichen Völker, besonders bei den Armen, vorhanden ist. Ich denke an den festen Glauben jener Mütter am Krankenbett des Sohnes, die sich an einen Rosenkranz klammern, auch wenn sie die Sätze des Credo nicht zusammenbringen; oder an den enormen Gehalt an Hoffnung, der sich mit einer Kerze verbreitet, die in einer bescheidenen Wohnung angezündet wird, um Maria um Hilfe zu bitten; oder an jene von tiefer Liebe erfüllten Blicke auf den gekreuzigten Christus. Wer das heilige gläubige Volk Gottes liebt, kann diese Handlungen nicht einzig als eine natürliche Suche des Göttlichen ansehen. Sie sind der Ausdruck eines gottgefälligen Lebens, beseelt vom Wirken des Heiligen Geistes, der in unsere Herzen eingegossen ist (vgl. Röm 5,5).«
Ich war selbst zutiefst bewegt, als mir im Juli 2014 in Châteauneuf-de-Galore die kleine Sybille nach der Messe mit einem strahlenden Lächeln ein selbst gemaltes Bild überreicht hat. Es zeigte Christus am Kreuz. Ich konnte Jesus genau erkennen, dessen Hände und Füße mit Nägeln ans Kreuz geschlagen waren. Über das Kreuz hatte Sybille an Stelle des üblichen JHS »Jerusalem« geschrieben. Und unter dem Kreuz hatte sie die Jungfrau Maria mit ausgestreckten Händen gemalt und dazu die erklärenden Worte geschrieben: »Mari (sic) pleur (sic) parce que Jesus est mort sur la crois (sic)« [»Mariah (sic) waint (sic) weil Jesus am Kreutz (sic) gestorben ist«]. Kinder sind wunderbar! Sie spüren das Herz Gottes und die Geheimnisse seiner Liebe, die uns bis zu unseren großen Fehlern und unseren kleinen Schwächen erreichen.
Ja, die Armen und die einfachen Menschen drängen uns. Ihre Freude ist immer innerlich. Diese Menschen erfreuen sich bereits ein wenig der Freude des Himmels, wohin sie uns vorangehen werden.
Wie ist das zu verstehen, was Franziskus als »Dienst der Wahrheit« bezeichnet?
Gott ist die Wahrheit; durch seinen Sohn will er uns zu dieser Wahrheit ziehen. Das Festhalten an der Wahrheit und die Liebe zur Wahrheit stellen die authentischste, gerechteste und erhabenste Haltung dar, die sich ein Mensch auf dieser Erde wünschen kann. Das Fehlen der Wahrheit ist hingegen das wirkliche Unglück des Menschen; denn das Ablehnen der Wahrheit lähmt und entstellt sein Handeln. So findet sich der Mensch, der nicht in der Wahrheit Gottes steht, in seinem Ego gefangen. Ohne Wahrheit sind wir uns selbst fremd, abgeschnitten vom Grund unseres Seins, abgeschnitten von Gott, in unserer eigenen Finsternis gefangen.
In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi hat Paul VI. erklärt, die Evangelisierung stille ein Verlangen, das man in einer dreifachen Suche zusammenfassen könne, der Suche nach »Wahrheit über Gott, Wahrheit über den Menschen (…) und Wahrheit über die Welt«. Wir sind weder Urheber der Wahrheit noch Herren über die Wahrheit, sondern nur ihre Verwalter und Diener. Der Dienst der Wahrheit stellt den echten geistlichen Dienst dar, den wir Gott zu leisten haben.
Im Evangelium des Johannes finden wir diese einzigartigen Worte: »Da sagte er [Jesus] zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8,31-32).
Wenn der Mensch seinen Weg auf der Wahrheit gründet, wird er ein Fels, denn Gott ist die Liebe und die Wahrheit. Er enttäuscht uns nie. Wenn die Menschheit hingegen beschließt, auf Sand zu bauen, dann hat sie innerlich wie äußerlich den größten Exodus zu befürchten.
Franziskus schreibt im übrigen Folgendes über das Problem der Treue zur Wahrheit: »Gewiss, um den Sinn der zentralen Botschaft eines Textes entsprechend zu verstehen, ist es notwendig, ihn mit der von der Kirche überlieferten Lehre der gesamten Bibel in Zusammenhang zu bringen. Das ist ein wichtiges Prinzip der Bibelauslegung, das die Tatsache berücksichtigt, dass der Heilige Geist nicht nur einen Teil, sondern die ganze Bibel inspiriert hat und dass das Volk in einigen Fragen aufgrund der gemachten Erfahrung in seinem Verständnis des Willens Gottes gewachsen ist. Auf diese Weise werden falsche oder parteiische Auslegungen vermieden, die anderen Lehren derselben Schrift widersprechen. Doch das bedeutet nicht, den eigenen und besonderen Akzent des Textes, über den man predigen muss, abzuschwächen. Einer der Fehler einer öden und wirkungslosen Predigt ist genau der, nicht imstande zu sein, die eigene Kraft des verkündeten Textes zu übermitteln.«
Franziskus hat einem Kapitel seines Schreibens die Überschrift »Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee« geben wollen. Wie deuten Sie diese Aussage?
Der Papst möchte uns verständlich machen, dass sich die Kirche auf zwingende Weise verpflichtet fühlt, die Wirklichkeit zu erfassen. Sie führt uns zur Wahrheit, während sich die Idee oftmals als hochmütig und selbstgefällig darstellt.
Einige Menschen haben sehr festgefügte Ideen über die Kirche, die Bischöfe oder die Liturgie. Ich halte es für wesentlich, zu sagen, dass die Wirklichkeit des Glaubens mir wichtiger scheint als die Ideen über den Glauben …
Der Papst schreibt: »Es gibt auch eine bipolare Spannung zwischen der Idee und der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist etwas, das einfach existiert, die Idee wird erarbeitet. Zwischen den beiden muss ein ständiger Dialog hergestellt und so vermieden werden, dass die Idee sich schließlich von der Wirklichkeit löst. Es ist gefährlich, im Reich allein des Wortes, des Bildes, des Sophismus zu leben. Daraus folgt, dass ein drittes Prinzip postuliert werden muss: Die Wirklichkeit steht über der Idee. Das schließt ein, verschiedene Formen der Verschleierung der Wirklichkeit zu vermeiden: die engelhaften Purismen, die Totalitarismen des Relativen, die in Erklärungen ausgedrückten Nominalismen, die mehr formalen als realen Projekte, die geschichtswidrigen Fundamentalismen, die Ethizismen ohne Güte, die Intellektualismen ohne Weisheit.«
Ich denke, dass Franziskus den glühenden Wunsch hat, der Kirche die Freude am Wirklichen zu vermitteln, da Christen und selbst Geistliche manchmal versucht sein können, sich hinter Ideen zu verstecken, um die wirkliche Situation der Menschen zu vergessen.
Umgekehrt sind manche Menschen besorgt, dass diese Auffassung des Papstes die Integrität des Lehramts gefährde. Die jüngste Diskussion über die Problematik der wiederverheirateten Geschiedenen war oft von dieser Art von Spannungen bestimmt.
Meinerseits glaube ich nicht, dass der Papst die Absicht hat, die Integrität des Lehramts zu gefährden. Denn niemand selbst der Papst nicht – kann die Lehre Christi zerstören oder verändern. Niemand – selbst der Papst nicht – kann die Seelsorge der Doktrin entgegensetzen. Das würde bedeuten, sich gegen Jesus Christus und seine Lehre aufzulehnen.
Der Ehebund, durch den Mann und Frau untereinander eine Gemeinschaft für das ganze Leben begründen, ist von Christus, dem Herrn, zur Würde eines Sakraments erhoben worden. Außerdem hat Jesus in seinen Predigten unmissverständlich den ursprünglichen Sinn der Verbindung von Mann und Frau gelehrt, wie der Schöpfer sie von Anfang an gewollt hat (Can. 1055).
So hat er die Lockerungen abgeschafft, die sich in das Gesetz Mose eingeschlichten hatten und die Entlassung des Ehegatten zuließen. Die eheliche Verbindung von Mann und Frau ist unauflöslich; Gott selbst hat sie geschlossen: “Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen” (Mt 19,6).
Dieser unmissverständliche Nachdruck in Bezug auf die Unauflöslichkeit des Ehebandes hat selbst die Jünger Jesu erstaunt, da dies wie eine unrealistische Forderung wirkte (Mt 19,10). Doch Christus hat den Eheleuten keine unmöglich zu tragende Last auferlegt. Indem er die ursprüngliche Ordnung der Schöpfung wiederhergestellt hat, die durch die Sünde beeinträchtigt worden war, schenkt der Sohn Gottes die Kraft und die Gnade, die Ehe in der neuen Dimension des Reiches Gottes zu leben.
Indem die Eheleute Christus folgen, indem sie sich selbst zurücknehmen, indem sie jeden Tag ihr Kreuz auf sich nehmen, werden sie den ursprünglichen Sinn der Ehe verstehen und sie mit Seiner Hilfe leben können. Die Gnade der christlichen Ehe ist eine Frucht des Kreuzes Christi.
Der Apostel Paulus versucht, uns diese Wirklichkeit, begreiflich zu machen, indem er schreibt: “Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, um sie (…) heilig zu machen” (Eph 5,25-26). Und weiter sagt er: “Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein. Dies ist ein tiefes Geheimnis; ich beziehe es auf Christus und die Kirche” (Eph 5,31-32).
Gewiss, doch die Ehescheidung ist heute weit verbreitet …
In der Frage der Ehescheidung war die Lehre der Kirche immer beständig. Die Ehescheidung und die Wiederheirat sind etwas, das großen Anstoß erregt. Das Zweite Vatikanische Konzil beklagt in Gaudium et spes die »um sich greifende Ehescheidung«. Der Katechismus der Katholischen Kirche lehrt, dass die Ehescheidung unsittlich ist, weil sie Unordnung in die Familie und in die Gesellschaft bringt. Diese Unordnung zieht schlimme Folgen nach sich: für den Partner, der verlassen worden ist; für die Kinder, die durch die Trennung der Eltern einen Schock erleiden und oft zwischen diesen hin- und hergerissen werden; für die Gesellschaft, für die sie aufgrund ihrer ansteckenden Wirkung zu einer tiefen Wunde wird (KKK, 2385).
Die Ehescheidung ist ein schwerer Verstoß gegen das natürliche Sittengesetz und missachtet den Bund des Heiles, dessen Zeichen die sakramentale Ehe ist. Das Eingehen einer, wenn auch vom Zivilrecht anerkannten, neuen Verbindung verstärkt den Bruch noch zusätzlich. Der Ehepartner, der sich wieder verheiratet hat, befindet sich dann in einem dauernden, öffentlichen Ehebruch (KKK, 2384). Die Worte Christi sind nachdrücklich: »Ich sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, und eine andere heiratet, der begeht Ehebruch« (Mt 19,9).
Der heilige Basilius schreibt in seiner 73. Moralregel: »Wenn der Gatte, nachdem er sich von seiner Frau getrennt hat, sich einer anderen Frau nähert, ist er ein Ehebrecher, denn er lässt diese Frau Ehebruch begehen; und die Frau, die mit ihm zusammenwohnt, ist eine Ehebrecherin, denn sie hat den Gatten einer anderen an sich gezogen.«
Natürlich gibt es heute zahlreiche Katholiken, die sich nach den zivilen Gesetzen scheiden lassen und eine neue, zivile Ehe schließen. Die Kirche hält, in der Treue gegenüber dem Wort Jesu Christi, an ihrer Position fest: »Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch. Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet« (Mk 10,1112). Es ist nicht möglich, eine neue Verbindung als gültig anzuerkennen, wenn die erste Ehe gültig war. Geschiedene, die zivil wiederverheiratet sind, befinden sich in einer Situation, die dem Gesetz Gottes objektiv widerspricht. Darum dürfen sie, solange diese Situation andauert, nicht die Kommunion empfangen. Aus dem gleichen Grund können diese Männer und diese Frauen gewisse kirchliche Aufgaben nicht ausüben. Die Aussöhnung durch das Bußsakrament kann nur denen gewährt werden, die es bereuen, das Zeichen des Bundes und der Treue zu Christus verletzt zu haben, und sich verpflichten, in vollständiger Enthaltsamkeit zu leben (KKK, 1650).
Einige könnten vorbringen, Ehescheidungen seien heute dermaßen verbreitet, dass sie keinen Anstoß mehr erregen … Dieser Argumentation zufolge könnten wir also die wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion zulassen. Nach Meinung dieser eifrigen Anhänger eines seltsamen Fortschritts wäre niemand empört! Eine solche Art der Argumentation beruht auf einem falschen Verständnis des Begriffs »Anstoß«. Es handelt sich hier nicht um einen psychologischen Schock, sondern um ein Handeln, dass andere vorsätzlich zur Sünde verleitet. In keinem Fall darf der Sünder den anderen in Versuchung führen oder ihn zur Sünde veranlassen. Die Versuchung ist ein Ergebnis der Sünde. Die zahlreichen Ehescheidungen und neu geschlossenen, zivilen Ehen sind Sünden, die gesellschaftliche Situationen oder Institutionen hervorrufen, die im Gegensatz zur Güte Gottes stehen.
Die »sündhaften Situationen«, die so geschaffen werden, sind der Ausdruck und das Ergebnis persönlicher Sünden. Sie verleiten die anderen dazu, ihrerseits Böses zu tun. Die Jünger Christi leben in einem immer schwierigeren Umfeld, das ihren Glauben, ihre Haltung und ihre Treue gegenüber der göttlichen Lehre angreift. Die Kirche hält sie stets dazu an, zu widerstehen und sich den Strukturen der Sünde entschlossen zu widersetzen. Sie ruft ihnen in Erinnerung, dass die Ehe nur auf der gemeinsamen Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau gründen kann. Der gesamte Plan mit dem Menschen kann nicht außerhalb der Dualität Mann-Frau verwirklicht werden. Müssen wir hier nicht ständig auf Christus blicken, den letzten Offenbarer des Menschen?
Der Sohn Gottes allein offenbart dem Mann und der Frau ihre wahre gemeinsame Natur, ihre gleiche, wahre Würde, indem er die Bande gegenseitiger Liebe, gegenseitiger Hilfe und der Komplementarität, die von Anfang an durch den Schöpfer dem Grund ihres Seins eingeschrieben sind, wieder in ihrer Vollkommenheit herstellt.Auch in Afrika bildet die monogame und unauflösliche Ehe den Mittelpunkt des Daseins, obwohl in einigen Völkern vor der Ankunft der Christen, der reinen Tradition der Vorfahren entsprechend, die Polygamie verbreitet war. Es ist nicht nur der Bund zwischen dem Ehemann und der Ehefrau, sondern gleichzeitig der Bund ihrer Familien und ihres Stammes, der mit dem einander gegebenen Wort und dem »Blut« der miteinander geteilten Kolanuss besiegelt wird. Die Kolanuss, Frucht des Kolabaumes, ist das Symbol der endgültigen und unauflöslichen Vereinigung des Ehebundes. Sie besteht aus zwei Teilen, die eng miteinander verbunden sind. Die künftigen Eheleute teilen sie und jeder kaut seinen Teil. Der Zeremonienmeister bittet dann die Brautleute, der Kolanuss in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Die Unmöglichkeit dieses Unternehmens symbolisiert die endgültige Verbindung der Ehe. Das Brautpaar, das durch den Ehebund unauflöslich konstituiert und mit den Familien verbunden ist, ist auch generationenübergreifend und wird Teil der unsterblichen Gemeinschaft der vorhergehenden Generationen. Durch ihre Kinder und ihre Nachfolger existieren die Eltern dank eines Bandes der Solidarität weiter, das die Christen als die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten bezeichnen.
Glauben Sie, dass alle afrikanischen Völker diese Sicht der Ehe und der Unauflöslichkeit des Ehebandes teilen?
Ja, darüber besteht nicht auch nur der geringste Zweifel. In der Kultur der »Fon« in Benin etwa bezeichnet das Wort Sesi die erste Ehefrau, deren Familie eine Mitgift erhält und die als Jungfrau geheiratet wird. Ihr entspricht immer der Sesu, der erste Mann, der bei der ersten Ehe geheiratet wird. Bei der Beerdigung der Frau zeigt sich ganz deutlich, dass die Monogamie und die Unauflöslichkeit zur Tradition gehören und fest in der afrikanischen Ehepraxis verankert sind.
Wir begegnen dem Begriff Sesi gerade im Rahmen der Begräbnisriten, die dazu bestimmt sind, die Verstorbene auf den Weg von dieser Welt zu der des höchsten Wesens zu führen. Die Bestattungszeremonien einer verstorbenen Frau verlangen von ihrem Mann gewisse Gesten und Riten, unter anderem die Einkleidung. Eine Frau wird oftmals mit einer gewissen Zahl von Tüchern begraben. Der Tradition entsprechend werden die Tücher der Familienmitglieder, der Freunde, der Bekannten und der möglichen nachfolgenden Ehemänner, die sie hatte, empfangen. Dennoch wird der Ritus der Einkleidung nur in Gegenwart des ersten Mannes, des Sesu, durchgeführt. Solange er nicht da ist, kann die Beerdigung nicht stattfinden. Dem ersten Mann – wie groß auch immer das Vermögen der folgenden Männer und wie arm und elend auch immer er selbst sein mag – kommt das Recht zu, die Rolle des Ehemannes der Frau auszuüben und sie im Hinblick auf den Übergang ins Jenseits einzukleiden. Denn sie ist Sesi. Und er ist es, der die Stunde der Bestattung festlegt. Daher erscheint die Frau in diesem kulturellen Kontext dazu bestimmt, sich nur mit einem Mann wirklich zu vermählen, so wie ihre Familie auch nur einmal eine Mitgift annimmt. Die anderen Ehemänner werden als Liebhaber und als Freunde angesehen. Der Moment der Wahrheit des Todes erlaubt, die tiefe Bedeutung der der schwarzafrikanischen Kultur zugrunde liegenden Intentionalität zu erfassen.
Wir können mit Bestimmtheit behaupten, dass im kulturellen Umfeld Afrikas die Frau, nachdem sie anderen als ihrem ersten Ehemann als Ehefrau gedient hat, am Ende ihres Lebens in einvernehmlicher Übereinkunft mit der Gruppe in ihre ursprüngliche Stellung zurückversetzt wird.
Ich möchte diesen Blick auf die afrikanische Tradition mit einer Würdigung von Johannes Paul II. beenden, der in Familiaris consortio die auf der Heiligen Schrift gründende Lehre und Disziplin der Kirche endgültig besiegelt hat. Ich bin der Meinung, dass wir heute aufhören sollten, wie respektlose Intellektuelle über diese Frage zu diskutieren und dabei den Eindruck zu vermitteln, wir würden die Lehre Jesu und der Kirche in Frage stellen. Gewisse westliche Regierungen erlassen unter großer Missachtung Gottes und der Natur unsinnige Gesetze über die Ehe, die Familie und das Leben. Die Kirche ihrerseits kann sich vor Gott nicht leichtsinnig verhalten.
Wir scheinen manchmal zu vergessen, dass eine Bischofssynode Anlass für das Apostolische Schreiben Familiaris consortio war.
Genau! Zahlreiche Themen, die sich auf die so schöne Realität der von Gott geschaffenen Familie beziehen, sind dort behandelt worden. Unter anderem wurde dort von geschiedenen Gläubigen gesprochen. In Familiaris consortio hat Johannes Paul II. geschrieben: »Zusammen mit der Synode möchte ich die Hirten und die ganze Gemeinschaft der Gläubigen herzlich ermahnen, den Geschiedenen in fürsorgender Liebe beizustehen, damit sie sich nicht als von der Kirche getrennt betrachten, da sie als Getaufte an ihrem Leben teilnehmen können, ja dazu verpflichtet sind. Sie sollen ermahnt werden, das Wort Gottes zu hören, am heiligen Messopfer teilzunehmen, regelmäßig zu beten, die Gemeinde in ihren Werken der Nächstenliebe und Initiativen zur Förderung der Gerechtigkeit zu unterstützen, die Kinder im christlichen Glauben zu erziehen und den Geist und die Werke der Buße zu pflegen, um so von Tag zu Tag die Gnade Gottes auf sich herabzurufen. Die Kirche soll für sie beten, ihnen Mut machen, sich ihnen als barmherzige Mutter erweisen und sie so im Glauben und in der Hoffnung stärken. Die Kirche bekräftigt jedoch ihre auf die Heilige Schrift gestützte Praxis, wiederverheiratete Geschiedene nicht zum eucharistischen Mahl zuzulassen. Sie können nicht zugelassen werden; denn ihr Lebensstand und ihre Lebensverhältnisse stehen in objektivem Widerspruch zu jenem Bund der Liebe zwischen Christus und der Kirche, den die Eucharistie sichtbar und gegenwärtig macht. Darüber hinaus gibt es noch einen besonderen Grund pastoraler Natur: Ließe man solche Menschen zur Eucharistie zu, bewirkte dies bei den Gläubigen hinsichtlich der Lehre der Kirche über die Unauflöslichkeit der Ehe Irrtum und Verwirrung. (…) Die erforderliche Achtung vor dem Sakrament der Ehe, vor den Eheleuten selbst und deren Angehörigen wie auch gegenüber der Gemeinschaft der Gläubigen verbietet es jedem Geistlichen, aus welchem Grund oder Vorwand auch immer, sei er auch pastoraler Natur, für Geschiedene, die sich wiederverheiraten, irgendwelche liturgischen Handlungen vorzunehmen. Sie würden ja den Eindruck einer neuen sakramental gültigen Eheschließung erwecken und daher zu Irrtümern hinsichtlich der Unauflöslichkeit der gültig geschlossenen Ehe führen. Durch diese Haltung bekennt die Kirche ihre eigene Treue zu Christus und seiner Wahrheit; zugleich wendet sie sich mit mütterlichem Herzen diesen ihren Söhnen und Töchtern zu, vor allem denen, die ohne ihre Schuld von ihrem rechtmäßigen Gatten verlassen wurden. Die Kirche vertraut fest darauf, dass auch diejenigen, die sich vom Gebot des Herrn entfernt haben und noch in einer solchen Situation leben, von Gott die Gnade der Umkehr und des Heils erhalten können, wenn sie ausdauernd geblieben sind in Gebet, Buße und Liebe.«
Schließlich spricht Franziskus häufig von der »missionarischen Kraft des Fürbittgebets«. Welchen Standpunkt vertreten Sie zu diesem Thema?
Der Papst hat wunderbare Zeilen geschrieben, in denen er uns in Erinnerung ruft: »Die großen Männer und Frauen Gottes waren große Fürbitter. Das Fürbittgebet ist wie ein ›Sauerteig‹ im Schoß der Dreifaltigkeit. Es ist ein Eingehen in den Vater und ein Entdecken neuer Dimensionen, welche die konkreten Situationen erhellen und verändern. Wir können sagen, dass das Herz Gottes durch unser Fürbittgebet gerührt wird, aber in Wirklichkeit kommt er uns immer zuvor, und was wir mit unserem Fürbittgebet ermöglichen, ist, dass seine Macht, seine Liebe und seine Treue sich mit größerer Klarheit unter dem Volk zeigen.«
Wenn der Mensch seinen Blick nicht im Gebet und in der Fürbitte zu Gott erhebt, dann verdorrt er und stirbt für sich selbst. Das gilt in ähnlicher Weise für den Erfolg der Missionsarbeit.
Der heilige Paulus spricht das Thema sehr häufig an. In seinem Brief an die Epheser ermahnt er eindringlich: »Hört nicht auf, zu beten und zu flehen! Betet jederzeit im Geist; seid wachsam, harrt aus und bittet für alle Heiligen, auch für mich: dass Gott mir das rechte Wort schenkt, wenn es darauf ankommt, mit Freimut das Geheimnis des Evangeliums zu verkünden, als dessen Gesandter ich im Gefängnis bin. Bittet, dass ich in seiner Kraft freimütig zu reden vermag, wie es meine Pflicht ist« (Eph 6,18-20). Die dringende Notwendigkeit des Fürbittgebets kommt in der Lehre des Paulus oftmals vor. Er bittet die ersten Christen, für ihn zu beten, und bei den Heiligen, für ihn zu bitten, auf dass seine Evangelisierungsarbeit ergiebig und wirksam sein möge: »Lasst nicht nach im Beten; seid dabei wachsam und dankbar! Betet auch für uns, damit Gott uns eine Tür öffnet für das Wort und wir das Geheimnis Christi predigen können, für das ich im Gefängnis bin; betet, dass ich es wieder offenbaren und verkündigen kann, wie es meine Pflicht ist« (Kol 4,2-4).
Das Gebet der Mönche und der Klausurschwestern ist eines der fruchtbarsten Fundamente der Kirche. Die Klöster sind ganz außergewöhnliche Brennpunkte der Evangelisierung und der Mission. Das inständige und stete Gebet der Karmeliten, der Benediktiner, der Zisterzienser oder der Schwestern von der Heimsuchung Mariens, um nur einige wenige Kongregationen zu nennen, begleitet und unterstützt tatkräftig die Arbeit der Priester. Die heutige Welt und selbst einige Geistliche, denen ihr Machtgefühl zu Kopf gestiegen ist, denken häufig, dass die Mönche und die Klausurschwestern nichts direkt dienen. Das ist nachgerade das höchste Kompliment, das wir den kontemplativen Schwestern machen können, die sich hinter hohe Klostermauern zurückgezogen haben; sie dienen nichts Besonderem auf der Erde, sie dienen einfach und einzig Gott. Das ist das einfache und schöne Geheimnis ihrer Gebete, die der ganzen Welt helfen.
Wie könnte man den Satz Christi vergessen: »Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden. Geht! Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Nehmt keinen Geldbeutel mit, keine Vorratstasche und keine Schuhe! Grüßt niemand unterwegs!« (Lk 10,2-4). Das Erste, was getan werden muss, wenn Arbeiter fehlen, ist nicht, auf intelligente Weise eine Diözese neu zu strukturieren und die Gemeinden neu zu organisieren, indem man sie umgruppiert – ohne den möglichen Nutzen oder die eventuelle Zweckmäßigkeit solcher Maßnahmen leugnen zu wollen. Man muss vielmehr beten, dass Gott viele heilige Berufungen zum Priesteramt und zum Ordensleben erweckt.
Beten wir wirklich eifrig für Berufungen? Beten wir jeden Tag dafür, dass Gott uns Priester schickt?
Wir müssen Gott unaufhörlich darum bitten, in seinem Volk große Arbeiter für die Mission hervorzurufen. Die Missionsarbeit ist nicht menschlich; sie kann nur von Gott kommen. Das Fürbittgebet ist still und zuversichtlich. Die Spiritaner meiner Kindheit hatten Erfolg bei ihrer Mission, weil sie ständig ins Gebet versunken waren und Gott gebeten haben, ihnen seinen Schutz zu gewähren und ihre Arbeit als Sämänner fruchtbar zu machen. Wie kann man sich in menschlicher Hinsicht auch nur einen Augenblick vorstellen, dass es so armen Männern hätte gelingen können, die Worte Christi in diesen abgelegensten Orten Afrikas zu verbreiten? Nur die missionarische Kraft des Fürbittgebets, von der Franziskus spricht, kann ihre wunderbaren Erfolge erklären …
Im Laufe der drei Jahre seines öffentlichen Wirkens auf der Erde hat Jesus seine Jünger oft an stille Orte geführt, um zu beten. Die Sendung Christi und der ersten Christen war bereits das Werk Gottes. Das Leiden, das die Missionsarbeit häufig begleiten kann, wird durch das Fürbittgebet in einen Sieg verwandelt.
Letztlich will Franziskus, dass das Evangelium in das Leben jedes Menschen eindringt. Das Wort Gottes ist weder eine Idee noch ein Ideal; es ist da, um den ganzen Menschen zu durchdringen, in der Gesamtheit seiner Dimensionen, und auf diese Weise kann das Evangelium zu den äußersten Grenzen der Erde gelangen. Der Wunsch des Heiligen Vaters ist realistisch, denn er stimmt genau mit dem Willen Christi überein. Franziskus versucht gewiss die Worte anzuwenden, die der heilige Jakobus klar ausgesprochen hat: »Zeig mir deinen Glauben ohne die Werke und ich zeige dir meinen Glauben aufgrund der Werke. Du glaubst: Es gibt nur den einen Gott. Damit hast du Recht; das glauben auch die Dämonen und sie zittern« (Jak 2,18-19).
Die Evangelisierung würde eine Idee bleiben, die nicht in die konkreten Lebenssituationen hineinreicht, wenn wir nicht durch das Gebet innig mit Gott verbunden blieben.
In seiner ersten Enzyklika Lumen fidei schreibt Franziskus: »Darum ist es dringend, die Art von Licht wiederzugewinnen, die dem Glauben eigen ist, denn wenn seine Flamme erlischt, verlieren am Ende auch alle anderen Leuchten ihre Kraft. Das Licht des Glaubens besitzt nämlich eine ganz besondere Eigenart, da es fähig ist, das gesamte Sein des Menschen zu erleuchten. Um so stark zu sein, kann ein Licht nicht von uns selber ausgehen, es muss aus einer ursprünglicheren Quelle kommen, es muss letztlich von Gott kommen.«
Die Quelle ist Gott, durch das konstante Gebet. Gott bleibt immer unsere wunderbare Kraft, unsere ruhige Freude und unsere leuchtende Hoffnung.
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Quelle: Robert Kardinal Sarah und Nicolas Diat: GOTT oder Nichts – Ein Gespräch über den Glauben – mit einem Vorwort von Georg Gänswein. fe-medienverlag GmbH, D-88353 Kißlegg. ISBN 978-3-86357-133-7. 1. Auflage 2015
