Bei der Generalaudienz am 7. August 1974
Das Ohr des modernen Menschen hört zunächst mit einem gewissen Mißfallen diesen Ausdruck, der zur Annahme einer Erbschaft aus früherer Zeit verpflichtet. Dem oberflächlichen Urteil vieler unserer Zeitgenossen nach ist nun die Vergangenheit ein Hemmschuh; sie möchten ungehindert auf neuen Wegen in die Zukunft eilen, ohne an eine als wertlos, veraltet und überholt betrachtete Tradition gebunden zu sein.Wir laden euch diesmal ein, ein Wort Christi zu betrachten, das, so meinen wir, eines der verbreitetsten und ernstesten Probleme unserer Zeit betrifft. Im Evangelium heißt es: „Da sagte der Herr zu ihnen: Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt” (Mt 13, 52). Über dieses kurze Gleichnis ließe sich viel sagen; aus der Lehre über die höhere Bestimmung des Menschen, zumeist „Himmelreich” genannt, wird so eine Pädagogik, väterlich und familiär zugleich. Ihr unerschöpflicher Reichtum ist die religiöse Wahrheit, in die uns Christus selbst eingeführt hat und der man neue und alte Lehren entnehmen kann. Nova et vetera: nehmen wir diese gebräuchliche Formulierung an, die die Lösung der Spannung zwischen religiösem Wissen und der Geschichte beinhaltet. Diese hat einen Namen, der einen guten Teil unseres Glaubens und unserer religiösen Kultur umfaßt; er ist auch euch wohlbekannt und lautet: Tradition.
Diese klare Ausrichtung des menschlichen Geistes auf das Neue, auf die Zukunft hin, durchdringt nicht nur das philosophische und religiöse Denken, mit dem wir uns hier beschäftigen, sondern die gesamte moderne Mentalität. Diese Mentalität wird leicht unduldsam, manchmal sogar unruhig, zornig und revolutionär, sobald sie irgendwie mit der Vergangenheit in Berührung kommt. Eine solche Reaktion ist bei einem Großteil der Jugend instinktiv; die Jugend gewinnt erst Selbstbewußtsein und erträgt nur unwillig das, was ihr aus der Vergangenheit angeboten und als verpflichtend vorgelegt wird. Ihr Unwille äußert sich oft in Undankbarkeit und Ablehnung; der Klugheit und Erfahrung früherer Generationen zieht sie das Abenteuer einer noch verborgenen Zukunft vor. In der heutigen Zeit macht sich überdies das Neue, d. h. der Fortschritt, mit so großartigen Eroberungen und Versprechungen auf allen Gebieten des Wissens und Handelns breit, daß er für die psychologische Einstellung der Jugend immer Sieger bleibt. Das gilt auch dort, wo er — wie das z.B. bei einer gewissen dekadenten Kunst und Moral der Fall ist — diesen Namen nicht mehr verdient, sondern ganz offensichtlicher Rückschritt ist. Er ist etwas Neues, und das genügt; er ist der Weg in die kommende Zeit oder zumindest die Form, die Mode für die heutige Zeit. Und Mode, das wissen wir, ist Königin.
Zudem begünstigt die heute übliche, pragmatische und auf Nützlichkeit gerichtete Denkweise diese Haltung zum Schaden anderer Werte, die diesem unruhigen und fortgesetzten Umwandlungsprozeß Widerstand zu leisten scheinen. Die Geschichte, Mutter der Vergangenheit und der Zukunft, bewahrt diese als ewige Werte in ihrem Besitz — nicht etwa, weil sie sie selbst geschaffen hätte, sondern weil sie aus ihrem Wirken hervorgegangen ist. Dieser Prozeß hat im übrigen seine Berechtigung und seine Vorteile: Die Zeit ist es, die geheimnisvolle Zeit, die ihn vorantreibt. Und dabei lehrt sie uns gerade durch diese unerbittliche Dynamik, daß den Dingen Unzulänglichkeit innewohnt; sie prägt ihnen dadurch ihre grundsätzliche Bezeichnung „Geschöpf” auf. Das wiederum treibt den denkenden Geist zu der ewigen Frage: Wo ist dann der Schöpfer? Das ist Metaphysik, hier ist der Zugang zur Religion.
Und hier wollen wir einhalten — oder vielmehr: wir wollen von einer rein rational und natürlich aufgefaßten Religion weitergehen zu unserer Religion. Sie wird uns vom Glauben dargeboten, und dessen objektiver Inhalt wird uns aus einer genau beschriebenen Geschichte überliefert, die in der Zeit, oder besser: in der Vergangenheit unter genauer Orts- und Zeitangabe, ihren Platz hat (vgl. Lk 2, 1; 3, 1; ff). Wir kennen das Evangelium. Es ist eingemeißelt in den Ablauf der Geschichte. Und wir kennen die Autorität, die es dort eingemeißelt hat: Christus. Er ist der Angelpunkt für all die Zeit vor ihm, die wir nun als Altes Testament bezeichnen, und er ist der Angelpunkt für all die Zeit nach ihm, das Neue Testament, bis in unsere Zeit hinein, und sie reicht bis zu seiner letzten Wiederkehr, „bis er wiederkommt” (Mt 10, 23). Nur aus diesem Verständnis des Laufs der Zeit erhält die Geschichte einen Sinn, eine innere Logik, eine Möglichkeit, sie in ihrem Gesamtzusammenhang zu verstehen. Nennen wir nur einige Namen, die man gewöhnlich in diesem Zusammenhang erwähnt: den heiligen Augustinus, Bossuet, Vico. Vico zum Beispiel sagt, daß Gott die Geschichte entwirft und der Mensch sie im einzelnen ausführt.
So kommt es, daß wir Gläubigen den Blick unverrückbar auf die Vergangenheit geheftet haben, auf eine ganz bestimmte, historische, unauslöschliche Vergangenheit. „Daher ist die christliche Heilsordnung”, sagt das Konzil (Dei Verbum, Nr. 4), „nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus (vgl. 1 Tim 6, 14; Tit 2, 13). Wir sind glücklicherweise von einer „Tradition” getragen.
Hier müßten wir nun erklären, was wir unter Tradition in diesem religiösen Sinn verstehen. Da ist einmal jene Überlieferung, die zusammen mit der Heiligen Schrift die göttliche Offenbarung wesentlich ausmacht. Daneben verstehen wir unter Überlieferung die unverfälschte und verpflichtende Weitergabe der Offenbarung durch das Lehramt der Kirche, das dabei vom Heiligen Geist geleitet wird. Doch glauben wir, daß diese Begriffe wohl allgemein bekannt sind und man sie deswegen auch genügend von jenen „Traditionen” unterscheidet, die man besser Gewohnheiten, Bräuche, Stile, in jedem Fall veränderliche und vergängliche Formen menschlichen Zusammenlebens nennen sollte, denn ihnen fehlt das Charisma einer Wahrheit, die sie unveränderlich und verpflichtend macht. Ja, wir möchten hinzufügen, daß diese rein geschichtlichen und menschlichen Überlieferungen nicht nur zahlreiche zufällige und wenig dauerhafte Elemente enthalten, denen gegenüber die Kritik frei urteilen und Reformen vorschlagen kann; oft genug müssen sie sogar kritisiert und verbessert werden, denn die menschlichen Dinge veralten leicht, sie können entarten, und dann müssen sie eben gereinigt oder auch ersetzt werden. Wir sprechen nicht umsonst von „aggiornamento” und Erneuerung, und ihr wißt, mit wieviel Energie und auf wie vielen Gebieten wir an ihr arbeiten.
Das Neue, das wir suchen und fördern möchten, besteht oft in dem Bemühen, zu den Ursprüngen zurückzukehren und aus den alten, echten Quellen der Überlieferung Kraft und Anregung für eine lebensvolle Zukunft zu schöpfen. Das Französische bietet hier das neu gebildete Wort „ressourcement” an. Die wahre Tradition ist eine Wurzel, keine Fessel. Sie ist ein unersetzliches Erbe, ist Nahrung, Reichtum, Lebenskraft. Welches nun freilich genau dieser Schatz ist, aus dem der weise Christ Altes und Neues hervorholt, wie der Herr gesagt hat, ist nicht leicht in wenigen Worten zu beschreiben. Hier haben wir eine besondere Hilfe nötig, nämlich das kirchliche Lehramt, dem vor allem in den entscheidenden Aussagen der Beistand des „Geistes der Wahrheit” (Joh 14, 17; 16, 13) verheißen ist. Es hat den Auftrag, die Glaubenslehre zu verkünden, zu hüten und auszulegen und ihre Anwendung im täglichen Leben genauer aufzuzeigen (vgl. DS 1501, 3006; Konst. Dei Verbum, Nr. 8-10).
Dabei kann es bekanntlich vor allem zu zwei Abweichungen kommen: einmal engt man den Bereich des Glaubens ausschließlich auf die Heilige Schrift ein, obwohl feststeht, daß die Heilige Schrift selber aus der mündlichen Verkündigung entstanden ist, also aus der Überlieferung der Urkirche. Andere erheben den Anspruch, dem christlichen Glauben ihre eigene oder die ursprüngliche oder eine willkürliche Deutung geben zu können, ihn frei prüfen zu dürfen, und zwar ohne Rücksicht auf das Lehramt dessen, der die Verpflichtung hat, „das anvertraute Gut zu bewahren” (1 Tim 6, 20) und — wie der hl. Paulus mahnt — sich „fernzuhalten von dem leeren Geschwätz und den falschen Lehren der sogenannten Erkenntnis” (ebd. 1 Tim 1, 6).
Damit ist nicht gesagt, die Wahrheiten des Glaubens dürften und müßten nicht studiert, untersucht, vertieft und dann auch formuliert werden, wie es bestimmten Kulturräumen und Geistesrichtungen entspricht. Die Glaubenslehre des Glaubens kennt sehr wohl eine gedanklich zusammenhängende Entwicklung, ja sie geht sogar gern auf die Forderungen des Denkens und auf die Pflicht zur Kontemplation ein; der hl. Paulus selbst ermuntert ja dazu, „in der Erkenntnis Gottes zu wachsen” (Kol 1, 10; vgl. Eph 1, 17; vgl. Newman). Aber die katholische Glaubenslehre bleibt eindeutig. Sie hält treu an ihrer wesentlichen ursprünglichen Bedeutung fest, bleibt sich selber gleich, so wie Christus sie verkündet hat und wie die Kirche sie unter der Führung des Heiligen Geistes zum Heil der Menschen noch heute darbietet, verteidigt und wachsen läßt. Denn die Wirklichkeit, um die es hier geht, ist göttlich und unaussprechlich, der Blick findet keine Grenze. Altes und Neues! Vergeßt es nicht!
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Quelle: WORT UND WEISUNG IM JAHR 1974 – Libreria Editrice Vaticana
