III. Der Wille Gottes ist unser Friede: Leitlinien
1. Leben aus dem Gehorsam
Dieses »Voluntas Dei pax nostra« ist ein Satz des heiligen Gregor von Nazianz, den Roncalli immer wieder zitiert¹²⁰ und in dem er das »Geheimnis seines Lebens« zusammengefasst sieht.¹²¹ Hier fließt zusammen, was in der Roncalli’schen Interpretation des Wahlspruchs des Caesar Baronius begann und sich mit der Übernahme in seinem Bischofswahlspruch manifestierte: oboedientia et pax. Der Wille Gottes, umgesetzt in unserem Gehorsam, führt zum umfassenden Frieden.
Schon der junge Roncalli wies in seinem Bergamasker-Vortrag von 1907 auf den Wahlspruch von Baronius hin: Pax et oboedientia. Doch in diesem Vortrag vollzieht Roncalli gleichsam eine programmatische Wende und eignet sich diesen Leitspruch an: Ohne es extra zu erwähnen, dreht er den Spruch um und spricht nicht mehr von pax et oboedientia, sondern von oboedientia et pax. Er selbst geht nirgends auf diese Umstellung ein, doch er behält die Reihenfolge nun immer bei, da sie auch in seinen »Grundtenor« passt. Er wollte wohl damit zeigen, dass der Gehorsam an erster Stelle zu stehen habe und aus einem solchen Gehorsam erst der Friede entstehen kann. Diese Dialektik durchzieht das gesamte Denken und Handeln Roncallis. Der Gehorsam auf der einen Seite, der frei, fähig und mutig macht, um auf der anderen Seite die unbedingte Fülle des Lebens sehen und offen die richtigen Schritte tun zu können. Der Gehorsam bei und für Roncalli bleibt also nicht in sich selber verschlungen, sondern ist ein »Mittel zum Zweck«, um zum Seelenfrieden und dadurch zur Tatkraft zu kommen.
Doch Gehorsam wem gegenüber? Sicher stellt er sich gut christlich unter die Vorsehung: »und habe mich in völliger Zustimmung zu ihren Anordnungen ganz von ihr führen lassen.« ¹²² »Jesus, der Stifter der heiligen Kirche – er regelt mit Weisheit, Kraft und unaussprechlicher Güte alle Ereignisse nach seinem Wohlgefallen und zum Besten seiner Auserwählten, die zusammen seine geliebte, mystische Braut darstellen.« ¹²³ In überbordender Fülle verweist Roncalli immer wieder auf die unbedingte Hingabe, Gottes Willen zu tun. ¹²⁴ Doch woran erkennt man Gottes Willen? Da kommt Roncalli wieder seine historische Ausrichtung zugute. In der Kirche mit ihrer 2000-jährigen Tradition wird der Wille Gottes sichtbar und zeigt sich in der jeweiligen Gegenwart im Lehramt. Oder in den Worten Roncallis: »Wir sind alle ein wenig wie Kinder, die jemand brauchen, der ihnen mit lebendiger Stimme die schöne und vorbereitete Lehre präsentiert.« ¹²⁵ Gerade wegen der Anfechtungen, die auch ihm nicht fremd sind – seine peinvolle lange Zeit auf dem Balkan gibt beredt Auskunft – ist das Geistliche Tagebuch eine immerwährende Selbstaufforderung, den Gehorsam einzuüben. Es gilt für ihn: »mich immer bereit zuhalten als einer, der seinen Vorgesetzten vollständig zur Verfügung steht, ohne jemals auch nur das geringste zu tun, was sie in Bezug auf mich in eine bestimmte Richtung lenken könnte.« ¹²⁶ Diese unbedingte Unterwerfung unter die Autorität der Kirche gab ihm den Seelenfrieden, um am jeweiligen Ort seine Pflicht tun zu können, ohne permanent über eine Situation zu lamentieren, oder eine »Verbesserung« anstreben zu wollen. »Er ließ alles an sich herankommen und erfüllte dann seine Aufgabe als die von Gott auferlegte Pflicht.« ¹²⁷ Und so sieht man: Roncalli braucht die Sicherheit eines Geländers, um engagiert voranschreiten zu können, und dieses Geländer ist der Gehorsam gegenüber der Kirche, komme was da mag. Aber – und das ist wichtig – das Geländer ist nicht das Ziel: »Einzig wirklicher Adressat des Gehorsams ist Christus, den Roncalli in dem ihm selbst betreffenden Willen des Papstes erkennt. Der Gehorsam aber erzeugt den Frieden, der gewiss nicht als Befreiung von eigener Verantwortung zu verstehen ist, sondern im Gegenteil als Freiheit zu unbeschränktem Engagement.« ¹²⁸ Dieser Gehorsam macht also den Weg frei: »Das Bewusstsein, dass der Herr mit uns ist und dass er mit seiner mächtigen Hilfe und seiner Eingebung die tägliche Sorge unseres seelsorgerlichen Dienstes stützt, gibt uns reichen inneren Frieden und große Sicherheit.« ¹²⁹
Diesen Frieden aus dem Gehorsam nutzte er, um den »leeren Sack«, wie er sich selbst sah, bereitzuhalten für den Heiligen Geist. ¹³⁰ Bereit zu sein für den göttlichen Auftrag, lässt weltliches Streben und Sorgen zurücktreten oder ganz vergessen. Kaum zu zählen sind die Stellen im Geistlichen Tagebuch (und nicht nur dort), in denen Roncalli sich versichert, einem Karrierestreben abhold und vor der Zukunft nicht bange zu sein. Besonders eindringlich ist seine Eintragung von 1928: »Ich werde nie etwas unternehmen, weder direkt noch indirekt, um eine Veränderung in meiner Situation herbeizuführen, werde stets nur von einem Tag zum anderen leben. Mögen die anderen tun und sagen, was sie wollen, sich vordrängen, ich werde mich um meine Zukunft nicht beunruhigen.« ¹³¹ So kann schon der junge Roncalli 1898 im Tagebuch schreiben: »Ich werde den Dingen ihren Lauf lassen. Man wird schon erfahren, was an den Vorwürfen wahr und was falsch ist.« ¹³² Und als Papst fährt er fort: »Mich mit dem täglichen Apostolat zufriedengeben und keine Zeit an Zukunftsprognosen verlieren. (…) Es ist nicht nötig, Phantasie und Sorge auf Zukunftsgebäude zu verwenden. Der Stellvertreter Christi weiß, was Christus von ihm will; es ist nicht nötig, dass er ihm mit Ratschlägen zuvorkommt oder ihm fertige Pläne vorlegt. Eine fundamentale Regel für das Verhalten des Papstes ist die, sich stets mit dem gegenwärtigen Zustand zu begnügen und sich nicht mit der Zukunft zu beschweren; die soll er vom Herrn erwarten, ohne darüber Berechnungen anzustellen und menschliche Vorsorge zu treffen.« ¹³³ Man sieht, der Gehorsam engt Roncalli nicht ein, sondern er ermöglicht ihm: »Immer frohen Mut, Frieden, heiteren Sinn und Freiheit des Geistes in allem bewahren.« ¹³⁴ Das schreibt ein junger Kleriker Anfang des 20. Jahrhunderts: die »Freiheit des Geistes in allem bewahren«! Das kann nur jemand schreiben, der von einer unerschütterlichen Gewissheit geprägt ist, Gottes Willen zu tun, im Gehorsam Gottes Willen zu tun. Und dieser Gehorsam schafft Friede und Kraft, daher Oboedientia et pax, Gehorsam und Friede, besser: Friede durch Gehorsam. So gesehen hat Hannah Arendt in ihrem Essay über den Roncalli-Papst recht, wenn sie sagt: »Mitten in unserem Jahrhundert hatte dieser Mann es fertiggebracht, alles, was je als Glaubensartikel angeboten worden war, wortwörtlich zu glauben, ohne alle symbolischen Fisimatenten.« ¹³⁵
2. Gelassenheit durch Gehorsam
Wenn hier als ein Erfolg des Gehorsams bei Roncalli die Gelassenheit charakterisiert werden soll, dann nicht im Sinne eines eigentlich schon Resigniert-Seins oder eines Zufrieden-Seins mit seinem kleinen Seelenfrieden. Die Gelassenheit Roncallis ist eine dynamische, eine, die eben nur aus der Gewissheit entstehen kann, dass Gottes Vorsehung schon die richtige Bahn weist. Die Dialektik der dynamischen Gelassenheit kommt gut im folgenden Vorsatz Roncallis zur Geltung: »Tun, was man tut; die Dinge geschehen lassen; veranlassen, dass die Dinge geschehen.« ¹³⁶ Also in dem Augenblick, in dem man lebt, bewusst und verantwortlich leben, schauen, dass man die richtigen Dinge tut, aber dann auch im Gottvertrauen hoffen, dass die Dinge, indem man sie gewähren lässt, ihren richtigen Lauf nehmen. Aber das ist keine Gleichgültigkeit, diese Gelassenheit ist Entschiedenheit, eine Entschiedenheit, die dem Menschen traut, weil sie Gott vertraut. Doch diese Gelassenheit gibt es nicht zum »Nulltarif«: »Die müssen wir haben, die Geduld, die bittere Wurzeln hat, aber süße Früchte.« ¹³⁷ Diese »bitteren Wurzeln« sind eben die zahllosen Demütigungen, die Roncalli im Laufe seiner langen Diplomatenlaufbahn ertragen musste. Er weiß, wovon er spricht.
Wie »programmiert« sich Roncalli selbst auf diese im Gehorsam gegründete Gelassenheit? Wenn man die gesamten Schriften, Briefe und Aufzeichnungen Roncallis liest, hat man den Eindruck, dass kein anderes Element seiner Selbstkultivierung eine größere Rolle spielt als sein Einübungsprogramm in Gelassenheit. Er kann sich ja die Gelassenheit »leisten«, weil er die zweitausendjährige Geschichte hinter sich weiß, und sein Gehorsam gegenüber der Botschaft Jesu, konkretisiert in den Prinzipien der Kirche, ihm den weiten Raum gibt, um Prozessen, Misslichkeiten oder Möglichkeit gelassen begegnen, diese aber auch gelassen forcieren zu können. Es ist ein Lebenslernprogramm, ein Einrede-Programm für ihn, die notwendige Geduld und Gelassenheit erst einmal für sich zu lernen. Aber hierauf ist später noch genauer einzugehen.
Das Provozierendste für Roncalli scheint in dieser Beziehung zu sein – er rekurriert immer wieder hierauf – »in den Tag hinein zu leben«: »Der Herr wird denen entgegenkommen, die verstehen in den Tag hinein zu leben, immer ihre Pflicht tun, mit Ruhe, Würde und Geduld, ohne sich den Kopf heiß zu machen wegen der Dinge, die morgen oder in Zukunft geschehen können.« ¹³⁸ In den Tag hinein zu leben – in der Tat ein provozierendes Programm: Doch es ist kein Sich-treiben-Lassen, sondern wie der heilige Joseph seine Pflicht zu tun, dort wo man hingestellt wird, aber mit Ruhe. Das kann nur jemand sagen, dem die Dialektik des Gehorsams zum Maßstab wird: Gehorsam, um über den Aufgeregtheiten des Tages zu stehen, Ruhe, weil man sicher sein kann, dass die Aufgabe, vor der man steht, seine Aufgabe ist, die Gott einem gegeben hat, Würde, weil man weiß, an einer großen Aufgabe beteiligt sein zu dürfen, Geduld, weil man aus der Geschichte die Erfahrung gewonnen hat, dass Entwicklungen Zeit brauchen und sich die Entwicklungen sowieso nur gut entwickeln, wenn sie »gottgefällig« sind. Hat man diese Sicherheit, dann braucht man sich nicht den Kopf heiß zu machen über zukünftige Dinge, dann kann man das gelassene Wissen haben, dass Gott einem auf seinem Weg entgegenkommt, Gott, der die Brücke von der anderen Seite fertig baut, die man von der einen Seite begonnen hat zu bauen. Roncalli weiß, dass ein solches Denken auf das Ziel hin auch ein dornenreicher Weg sein kann und vielleicht auch sein muss: »Wann immer die Ereignisse dem Wohl der Kirche entgegenzustehen scheinen, muss ich völlige Ruhe bewahren, was mir im Übrigen nicht erspart, mit Seufzen und Flehen zu sprechen: Dein Wille geschehe im Himmel, also auch auf Erden!« ¹³⁹ Noch als alter Mann (1951) kann er von sich nicht sagen, dass ihm diese gelassene Ruhe leicht fiele, ganz im Gegenteil, er muss sich immer wieder dazu ermuntern (so in einem Brief an seinen Neffen Battista): »Dein Brief hat mich die letzte Nacht mehrere Male wach gemacht: Und ich habe mir wiederum, wie immer, gesagt, dass man die Dinge nehmen und sie möglichst einfach machen muss. Das heißt also Schweigen, viel Geduld und Ruhe vor allem mit sich selbst.« ¹⁴⁰ Roncalli hat also nicht nur sein Fundament im Gehorsam gefunden, er kann auch konkret auf dieses Fundament aufbauen, und ein wichtiger Baustein hierbei ist die gelassene Ruhe. Roncalli tut auch täglich etwas dafür (so niedergelegt in seinen Aufzeichnungen zu seinen Exerzitien 1924 in Rom): »Vor allem will ich mich bemühen, nichts aufzuschieben, was dringend erledigt werden muss. Bei allem will ich mir jene Ruhe und Gesetztheit bewahren – und sie auch den anderen mitteilen –, die vonnöten ist, wenn etwas gut gelingen soll. Ich kümmere mich nicht darum, wenn andere es eilig haben. Wer die Dinge übereilt, auch die kirchlichen, kommt nie weit.« ¹⁴¹
Dasselbe Selbstkultivierungsprogramm, dem sich Roncalli unterzieht, will er anderen »mitteilen« (warum sonst hätte er sein »Geistliches Tagebuch« veröffentlicht?), er will es anderen nicht aufzwingen. Er sieht dieses Programm als Angebot, das erst er selbst sich aneignen und vorleben muss. Was bedeutet dieses Programm in seiner Beziehung zu anderen Menschen? Er ist erst vor kurzem Bischof geworden, als er obigen Vorsatz notiert, ein Bischof, zu dessen Aufgaben eben auch Zurechtweisung gehört. Aber gerade hier zeigt sich seine geduldige und ruhige Gelassenheit: »Liebenswürdigkeit, Ruhe und menschliche Geduld. Ich muss immer das Wort beherzigen: ›Sermo mollis frangit iram – Ein gütiges Wort bricht den Zorn.‹ Wie viel Verdruss entsteht doch aus Grobheit, Zorn und Unduldsamkeit!« ¹⁴² Er weiß selbstverständlich, dass er als Bischof auch zurechtweisen muss, doch weiß er auch, dass das, was für die Zeit gilt, auch für Menschen gilt: »Bisogna lasciare il tempo al tempo!« – man muss der Zeit ihre Zeit lassen. Und wenn man weiß, welche Bedeutung die Zeit hat, wie kann man dann mit Gewalt und Aggressivität etwas erreichen? Dann eher ein »gütiges Wort«, oder: »Eine Liebkosung ist besser als ein Peitschenhieb von wem auch immer.« ¹⁴³ Roncalli weiß, dass ein solches Vorgehen oft auf Unverständnis stößt, deshalb spricht er von »unerschrockener Milde«, auch von »unerschütterlicher Geduld, mit väterlichem und unermüdlichem Eifer für das Wohl der Seelen.« ¹⁴⁴ Gerade wenn er mit seinem »Kurs der Gelassenheit« solches Unverständnis erfährt, ist er doch auch in der Versuchung: »An gewissen Tagen und unter bestimmten Umständen bin ich versucht, mit Strenge vorzugehen. Doch dann ziehe ich das Schweigen vor, in der Zuversicht, dass dies für ihre Erziehung beredter und nützlicher ist.« ¹⁴⁵
Wie man sieht, macht es sich Roncalli nicht leicht, er wird immer wieder angefragt und er fragt sich immer wieder selbst an: »Ist das eine Schwäche von mir? Ich muss und ich will auch weiterhin dieses leichte Kreuz in Frieden tragen, das zu dem schmerzlich drückenden Gefühl meiner Unzulänglichkeit hinzukommt, und lasse den Herrn machen, der die Herzen erforscht und zur Innigkeit seiner Liebe an sich zieht.« ¹⁴⁶ Da ist er, der Grund für seine Gelassenheit: dem Herrn die Möglichkeit zu geben, sein Werk zu vollbringen, das nicht nach Menschenzeit und Menschenwille funktioniert, sondern nach Gotteszeit und Gotteswille verläuft. Wer dies weiß und dem vertraut, der kann gelassen sein und wie Roncalli mit Don Bosco sagen: »Was das Urteil der Welt angeht: ›Fröhlich sein Gutes tun‹ und die Spatzen pfeifen lassen.« ¹⁴⁷
Man glaube nicht, diese Gelassenheit Roncallis wäre eine Gelassenheit ohne Engagement. Wer weiß, was er will, der kann sich Zeit lassen, kann gewähren lassen. Und anders herum: Wer gewähren lässt, muss einen Standpunkt haben. Das ist Roncalli nicht nur bewusst, er handelt auch danach. So erscheint folgerichtig 1953 bei einem Vortrag Roncallis beim Eucharistischen Kongress in Turin zum ersten Mal die auf Augustinus zurückgehende Unterscheidung: »Bekämpft den Irrtum, liebt die Irrenden!« Hier ist er, der klare Standpunkt, aber auch die Gelassenheit, ja die Liebe zu den Irrenden. Für Roncalli ist die Unterscheidung so zentral, dass er diese Spur gleich zum Beginn seines Pontifikats wieder aufnimmt und in seiner Enzyklika »Pacem in terris« expliziert. Ausdrücklich sagt hier Johannes XXIII., es sei »durchaus angemessen, bestimmte Bewegungen, die sich mit wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Fragen oder mit der Politik befassen, zu unterscheiden von falschen philosophischen Lehrmeinungen über das Wesen, den Ursprung und das Ziel der Welt und des Menschen, auch wenn diese Bewegungen aus solchen Lehrmeinungen entstanden und von ihnen angeregt sind. Während die in ein System gefasste und endgültig niedergelegte Weltanschauung nicht mehr geändert werden kann, unterliegen diese Bewegungen dort, wo sie sich mit den je und je wandelnden Verhältnissen befassen, doch notwendigerweise diesen Veränderungen. Wer könnte übrigens leugnen, dass in solchen Bewegungen, soweit sie sich den Gesetzen der geordneten Vernunft anpassen und die gerechten Forderungen der menschlichen Person berücksichtigen, etwas Gutes und Anerkennenswertes sich finden kann?« ¹⁴⁸
So gibt die im Gehorsam erst ermöglichte Gelassenheit die Fähigkeit, sich die Weite der Gedanken leisten zu können. Kleinkrämerisches und rechthaberisches Denken und Handeln erhalten so einen potenten Widerpart, der auch in der täglichen Praxis tragen kann. Und da gilt es – gerade für einen Bischof – zu unterscheiden, ob seine handlungsleitende Linie noch stimmig ist, oder ob die Anfragen von außen nur eigensüchtiger Natur sind. Die Gelassenheit heißt eben dann auch, unterscheiden zu können, was berechtigte Anfrage und was Querulantentum oder Profilierung darstellt. Auch hier hat Roncalli Erfahrungen (geschrieben 1957 als Bischof von Venedig): »Ich möchte euch, gleichsam ins Ohr geflüstert, etwas sagen, was ich hier in Venedig schon gelegentlich wiederholte oder manchem Bischof als Aufforderung zu gütigem Ertragen und geduldiger Nachsicht anvertraute; es geht darum, dass jede Diözese sich damit abfinden muss, mindestens ein Dutzend seltsamer, unzufriedener, den Vorgesetzten misstrauender Typen zu haben, die ihrem Ordinarius die Bitternis einer manchmal auch schonungslosen Kritik zu spüren geben.« ¹⁴⁹
Die im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes grundgelegte Gelassenheit war für Roncalli sicherlich zur Disziplinierung seiner eigenen Ängste nötig, jedoch ist diese spirituelle Programmierung für Roncalli auch eine Anleitung, andere Menschen einzuschätzen und das Gute in ihren Absichten reifen lassen zu können. Dabei hielt er eine Wendung zum Guten, eine Veränderbarkeit des Menschen im Generellen für möglich, doch das bedürfe Zeit, die gelassen werden müsse: »Alles Gute, so erklärte er einmal einem Besucher, müsse wachsen und reifen; man würde einen solchen Wachstumsprozess nur stören, wollte man zu häufig eingreifen.« ¹⁵⁰ Das machte ihn auch offen für die Menschen, offen für die Menschen in ihren je individuellen Problemlagen. »Er gab überall einen Vorschuss des Vertrauens. Er glaubte an die Wandlungsfähigkeit der Menschen, weil ›in der Natur des Menschen nie die Fähigkeit verlorengeht, sich vom Irrtum frei zu machen und den Weg zur Wahrheit zu suchen‹.« ¹⁵¹
Doch diese im Gehorsam ruhende Gelassenheit bezog Roncalli nicht nur auf Personen und Konstellationen, sie war ihm auch Wegweiser im eigenen Sterben. So waren seine Worte nach dem Empfang des Viaticums die Quintessenz seiner in Gehorsam gelebten Spiritualität: »Macht Euch nicht so viele Sorgen um uns. Man sagt, ich habe einen Tumor. Gut denn. Unsere Koffer sind gepackt. Wir sind bereit, absolut bereit, zu gehen, wenn das Gottes Wille ist.« ¹⁵²
3. Mut durch Gehorsam
Aus dem Gehorsam gegenüber dem Auftrag Jesu schöpfte Roncalli die Kraft für sein Leben, dieser Gehorsam ist ihm gleichsam das Geländer, an dem er durch das Leben geht, wie wir es weiter oben schon ausgeführt hatten. Hier hat er Halt, um Situationen und Problemlagen zu bestehen, hier hat er Halt, um sich selbst zu konditionieren. Und immer wieder ist es für Roncalli notwendig, seine Angst zu bekennen und gegen diese Angst anzugehen, aber auch sich Mut zuzusprechen und mutig voranzuschreiten. So schreibt er: »Das dritte Jahr in meinem Amt als Nuntius in Frankreich geht zu Ende. Das Wissen um meine Nichtigkeit ist mir ein treuer Begleiter: es macht mein Gottvertrauen zur Selbstverständlichkeit, und die ständige Übung des Gehorsams gibt mir Mut und vertreibt alle Furcht.« ¹⁵³ Der Mut entsteht für Roncalli aus der Übung des Gehorsams. Er weiß dann, worauf er sich verlassen kann, auf welchem Boden er steht, und hat solchermaßen festen Boden unter den Füßen und den entsprechenden Mut zu handeln. Die Übung des Gehorsams hin zum Mut heißt für Roncalli Einübung in Demut, Sanftmut und Gleichmut. Demut heißt für Roncalli, den Platz anzunehmen, an den Gott ihn gestellt hat, Demut heißt für ihn, nicht zu klagen »darüber, dass du von ihnen (den Vorgesetzten, Ko.) wenig geschätzt wirst, sondern bemühe dich, immer mehr Gefallen daran zu finden, ›für nichts geachtet zu werden.‹« ¹⁵⁴ Seine Bischofsweihe 1925 ist für Roncalli solch eine Situation, sich vor dem Kommenden zu fürchten. »Ich habe nicht nach diesem neuen Amt getrachtet und es mir auch nicht gewünscht. Doch der Herr hat mich mit so offensichtlichen Zeichen seines Willens dazu auserwählt, dass jede Weigerung eine schwere Schuld bedeuten würde. Er ist also verpflichtet, meine Armseligkeit zu verhüllen und meine Unzulänglichkeit auszugleichen. Das stärkt mich und gibt mir Ruhe und Sicherheit. (…) Welch ein Erschrecken für mich, der ich mich so armselig und voller Fehler in so vielen Dingen fühle. Und welch ein Anlass, immer demütig zu sein, demütig, demütig!« ¹⁵⁵Demut ist ein ungemein schillernder Vorsatz, bei dem es sicherlich kaum einen Priester gibt, der nicht von sich sagen würde, er wolle demütig sein. Bei Roncalli ist aber diese Demut »geerdet« im Gehorsam, und es ist für ihn – wie Hannah Arendt schreibt – »Sanftmut und Demut nicht dasselbe wie Schwäche und Nachgiebigkeit« ¹⁵⁶ , es ist eine Demut, die zum Mut führt. »Oft ist diese Demut Schweigen; oft mag diese Milde wie Schwäche erscheinen. In Wirklichkeit ist es Charakterstärke und eine hohe Würde im Leben; es ist Zeichen eines sicheren Wertes.« ¹⁵⁷ Der Mut, Gott zu dienen, ist also stärker als mögliche Anfechtungen, ist auch mit einem resignierten Gewähren-lassen nicht gleichzusetzen, ist nicht passiv, sondern aktiv.
Roncalli weiß, dass die sanftmütige Demut, Entscheidungen impliziert: »Einerseits sollte der Hirte vor allem ein guter, guter Hirte sein. Andererseits ohne ›Wolf‹ zu sein, riskiert er, wie der Mietling überflüssig und unwirksam zu werden, wenn er schläft.« ¹⁵⁸ Wer den Mut hat, etwas zu riskieren, muss auch den Mut haben zu scheitern, braucht aber auch den Mut, nach Niederlagen nicht ausweglos zu resignieren. Schon als junger Sekretär des Bischofs ist Roncalli über sich selbst, über die wenig nachvollziehbaren Fortschritte seiner gewünschten persönlichen Entwicklung enttäuscht. »Ein Jahr der Gnade war auch dieses verflossene Jahr. Ich aber habe wenig Fortschritte in der Vervollkommnung gemacht, und das bedrückt und demütigt mich. Dennoch will ich den Mut nicht verlieren. (…) Ich fange wieder von vorne an.« ¹⁵⁹ Dieses »Dennoch – ich fange wieder von vorne an« kennzeichnet den Mut Roncallis, einen Mut, den er nur aufbringen konnte, weil er sicher war, Gottes Plan verwirklichen und diesem Auftrag treu bleiben zu müssen. Es ist eben kein grund- und ortloser Mut, sondern »allezeit Mut in Domine Jesu.« ¹⁶⁰
Man kann Mut haben zum Mut, wenn er auf Christus als festem Fundament gründet und auf Christus hin geschieht: »alles für den Herrn und im Herrn. Viel Begeisterung, aber keinerlei Sorgen um den größeren oder kleineren Erfolg. Ich werde mich an die Aufgaben machen, als wenn alles von mir abhinge und als ob ich selbst überhaupt ohne Bedeutung wäre.« ¹⁶¹ Man sieht an diesem Satz Roncallis aus dem Jahre 1912, dass der Mut und die Kraft zum kraftvollen Engagement sowie die Gelassenheit erst möglich werden im »alles für den Herrn und im Herrn.« Ein solcher Mut lässt Roncalli die Welt von der guten Seite her sehen, gibt ihm die Chance, die Welt und die Menschen optimistisch zu sehen – und andere daran teilhaft werden zu lassen, wie bei seiner Ansprache am 31. März 1963 beim Besuch römischer Pfarreien: »Man hört gelegentlich, der Papst sei zu optimistisch, er sehe nur das Positive und hebe allein die bessere Seite der Dinge hervor. So ist es in der Tat. Er ist davon überzeugt, dass diese Haltung im Plan der Vorsehung liegt, weil sie auch die Haltung unseres Herrn Jesus Christus ist. Denn er hat auf wunderbare Weise nur positive und aufbauende Lehren um sich verbreitet, Lehren, die den Menschen Freude und Frieden bringen.« Für Wolfgang Seibel, der dies zitiert, wird aus solchen Haltungen »die Methode verständlich, mit der Johannes XXIII. seine Ziele zu erreichen suchte. Auf Grund des aus seinem tiefen Glauben hervorquellenden Optimismus wollte er das Böse durch das Gute überwinden. Er war zutiefst davon überzeugt, dass man das Böse nicht ändert, wenn man es nur anprangert, dass man keinen Irrtum durch bloße Verurteilung aus der Welt schafft und dass sich auch eine Spaltung nicht beheben lässt, wenn man nur das Trennende betont.« ¹⁶²
Roncallis Absage an den Pessimismus wird auch dadurch deutlich, dass er den Mut hat, das Konzil einzuberufen, es als alter Mann einzuberufen, der damit rechnen musste, es nicht selbst zu Ende bringen zu können. Und wenn er bei seiner Rede zur Eröffnung des Konzils von »Unglückspropheten« spricht, dann ist das genau gegen den Pessimismus gemünzt, »der noch nie zu etwas Gutem genützt hat und wird es auch in Zukunft nicht.« ¹⁶³ »Wir müssen diesen Unheilspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstünde.« ¹⁶⁴
Um Mut geht es in diesem Kapitel, um Mut, den Roncalli aus seinem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes schöpft. Wer diesen Gehorsam lebt, dem ist die Kraft gegeben, mutig zu leben: »Der wahre Christ, der einem einzigen Herrn dient, ist auf dem rechten Weg und fürchtet sich vor nichts. Er hat keine Sorgen (…) Der christliche Glaube heißt Heiterkeit, innere Ruhe, Hingabe an Gott.« ¹⁶⁵ Das gehört zur Spiritualität Roncallis: das unbedingte Sich-fallen-Lassen in die bergende Sicherheit Gottes und daraus die Kraft erhalten, den Auftrag Christi für diese Welt angehen zu können. Keine Aufgabe ist zu groß, keine Probleme sind zu verwirrend. Roncalli war, wie Wolfgang Seibel es sieht, »auch zu sehr überzeugt davon, dass er nur den Willen Gottes tat, als dass er jemals an der Lebenskraft seiner Ziele hätte zweifeln oder gar in Verwirrung hätte geraten können. In der Weihnachtsbotschaft 1960 beschrieb er diese Haltung einer gläubigen Zuversicht im Blick auf den Bericht vom Sturm auf dem See (Mt 14,22–32), den er ›eine der schönsten Seiten des Neuen Testament‹ nannte: ›Der demütige Nachfolger des heiligen Petrus empfindet bis jetzt keine Versuchung, zu erschrecken. Wir fühlen uns im Glauben stark, und an der Seite Jesu können wir nicht bloß den kleinen See in Galiläa, sondern alle Meere der Welt überqueren. Das Wort Jesu genügt zur Rettung und zum Sieg‹.« ¹⁶⁶
4. Klugheit durch Gehorsam
Wenn hier darauf rekurriert werden soll, dass bei Roncalli der Gehorsam gegenüber den Geboten Christi und der Führung der Kirche nicht zum dumpfen, willenlosen Jasagertum verkommt, sondern der Friede und die Gelassenheit, die aus der Sicherheit dieses Gehorsams entstehen, mutiges Handeln ermöglichen, so gilt es jetzt auf einen weiteren Aspekt aufmerksam zu machen. Ein solcher Mut kann nicht grundlos sein, sondern er speist sich klar aus der Klugheit eines gehorsamen Sich-Einlassens auf die Botschaft Christi. Was heißt nun Klugheit für Roncalli? »Klug ist, wer (…) sich ein gutes und auch edles und großes Ziel gesteckt hat, es niemals aus den Augen verliert, alle Hindernisse schließlich überwindet und es vollendet; klug ist, wer in jeder Sache das Wesentliche erkennt und sich vom Nebensächlichen nicht hinhalten lässt; wer seine Kräfte fest zusammenhält und sie alle auf ein glückliches Ziel hinordnet; klug ist, wer von Beginn an bei all diesem den guten Ausgang allein von Gott erhofft, auf den er vertraut; und der auch, wenn er im Ganzen oder zum Teil erfolglos blieb, weiß, dass er recht gehandelt hat, und alles dem Willen der größeren Ehre Gottes anheimstellt.« ¹⁶⁷
Es ist Papst Johannes XXIII., der hier spricht, und dem es bei den Exerzitien aus Anlass seines 80. Geburtstages so wichtig ist, das in sein Tagebuch zu notieren.
Für Roncalli ist die Voraussetzung für Klugheit zu allererst, dass – wie bei so vielen Notwendigkeiten – die Sicherheit des Fundamentes stimmt, und das heißt, nie das Gefühl haben zu müssen, allein zu sein. Schreibt das Obige der 80-jährige, so das Folgende der 16-jährige:
»Ich werde immer daran denken, dass ich niemals allein bin, auch wenn ich es dem Anschein nach bin: dass mich Gott, Maria und mein Schutzengel sehen, dass ich immer ein Kleriker bin.« ¹⁶⁸ Klug ist also derjenige, der »in jeder Sache das Wesentliche erkennt«, und das ist die Gewissheit, sich nicht alleine an Aufgaben machen zu müssen, ja »dass die göttliche Vorsehung es zur gegebenen Zeit – wie in der Vergangenheit – auch in der Zukunft mir nicht an dem Nötigen fehlen lassen wird.« ¹⁶⁹ Klugheit heißt, der Vorsehung vertrauen, aber auch bewusste Konditionierung, überall Spuren der göttlichen Führung und Vorsehung zu entdecken, selbst im Schlechten und Bösen nach dem göttlichen Heilsplan zu suchen. Für Roncalli schafft das die Klarheit, die es zur Klugheit braucht.
Zu solcher Klarheit zählt auch, dass man sich seine Erfahrungen und seine Sinne nicht durch mystische Verzückungen beeinträchtigen lässt. Roncalli scheint solchen Anfechtungen gegenüber völlig immun gewesen zu sein, man ist fast geneigt zu sagen, er brauchte solches nicht, um sich der Gegenwart Gottes zu vergegenwärtigen. Seine gottesergebene Klugheit zeigte ihm schon die Klarheit und Sicherheit, die aus der Nähe Gottes entspringt.
Wenn klar ist, was an oberster Stelle steht, und das war für Roncalli seine unabdingbare Einbindung in den Heilsplan Gottes, dann gehörte es für ihn zur Klugheit, »nicht die zweitrangigen Dinge wichtigen vorziehen.« ¹⁷⁰ Man hat ja den großen Plan – den Heilsplan Gottes – vor Augen, um sich nicht in unwichtigen Dingen verlieren zu müssen. Und dann gehört es auch zur Klugheit, die großen Linien dieses großen Plans zu sehen und nicht an Nebensächlichkeiten hängen zu bleiben: »Ich muss mich nicht in Details und nebensächlichen Kleinigkeiten verlieren.« ¹⁷¹
Ein solches Wissen hat Konsequenzen für die gesamte Lebensführung. Für Roncalli hieß das zwar, »mein Tagewerk immer klar überblicken und vollkommene Ordnung halten« ¹⁷² , aber die große Richtung seines Lebensentwurfes ist eben nicht sein Entwurf, sondern Gottes Wille, für den man sich am besten öffnet, indem man »in den Tag hinein lebt« ¹⁷³, zwar »seine Pflicht tut« ¹⁷⁴ , aber sich nicht »wegen der Dinge, die morgen oder in Zukunft geschehen können«, anfängt ¹⁷⁵ , »den Kopf heiß zu machen« ¹⁷⁶ .
Für Roncalli hieß das, keine Zukunftspläne für sich zu machen, diese wurden schon längst erstellt; klug ist, wer das sehen und dankbar annehmen kann. Und wer weiß, dass ein großer Plan für ihn existiert, muss klug genug sein, ein berufliches Vorwärtsstreben auch als unnütz sein zu lassen, da es in Richtungen führen kann, die nicht dem göttlichen Heilsplan entsprechen könnten. »Ich werde nie etwas unternehmen, weder direkt noch indirekt, um eine Veränderung in meiner Situation herbeizuführen, werde stets nur von einem Tag zum anderen leben. Mögen die andern tun und sagen, was sie wollen, sich vordrängen, ich werde mich wegen meiner Zukunft nicht beunruhigen.« ¹⁷⁷ Und weiter Roncalli: »Ich muss mir folgendes einprägen: Da Gott mich liebt, darf es für mich nichts geben, was mit Ehrgeiz zu tun hat. Es ist also unnütz, dass ich mir darüber den Kopf zerbreche. Ich bin ein Sklave: ohne den Willen des Herrn vermag ich mich nicht zu rühren. Gott kennt meine Talente und weiß, was ich alles zu seiner Ehre, zum Wohl der Kirche und für das Heil der Seelen beizutragen oder nicht beizutragen vermag. Es ist daher nicht notwendig, dass ich ihm bzw. meinen Vorgesetzten Ratschläge erteile.« ¹⁷⁸
Hier kommen zwei entscheidende Grundprämissen in der Spiritualität Roncallis zusammen: Die Gewissheit der Geborgenheit im Heilsplan Gottes und das Wissen um die daraus entspringende Kraft und Klugheit, nur für bestimmte Dinge beitragen zu können und für andere nicht – »soweit ich es vermag« ¹⁷⁹ . Ein solches »inquantum possum« kann für Roncalli nur aus der Klugheit eines im Gehorsam gegründeten Vertrauens in den göttlichen Auftrag für jeden Einzelnen entstehen. Wenn jeder seinen Platz im göttlichen Plan hat, dann ist es widersinnig und unklug, einen anscheinend »besseren« Platz suchen zu wollen. Und der Indikator, um feststellen zu können, ob ein Platz der richtige für einen ist oder nicht, ist für Roncalli das »inquantum possum«, was heißt, dass man bei keinem Scheuen der Verantwortung selbst feststellen muss, ob eine Last zu schwer ist oder nicht. Wie Roncalli diese Forderung für sich selbst auslegte, zeigt sich sowohl im jahrzehntelangen Dulden seiner Randexistenz auf dem Balkan als auch in seiner Bereitschaft und Tatkraft, das Petrusamt zu übernehmen.
Ein solches »Sich-fordern«, aber nicht »Überfordern« ist kennzeichnend für die Klugheit und Spiritualität Roncallis. Was für ihn selbst galt, versuchte er auch auf andere anzuwenden: Man kann seine Unzulänglichkeiten nicht hic et nunc verbessern, sondern nur Stufe um Stufe, oder wie Roncalli es sagt: »Besser verstehen, viel vergessen, ein wenig verbessern«. ¹⁸⁰ Alles fließt hier zusammen im »flectar, non frangar – biegen, nicht brechen«: »Unsere Altvorderen hatten in Zeiten des Kampfes, von denen auch ich den letzten Widerhall hörte, als Motto: ›Frangar, non flectar‹. Ich ziehe das umgekehrte Motto vor: ›Flectar, non frangar‹, vor allem, wenn es sich um praktische Dinge handelt. Und ich glaube, dass ich auf meiner Seite die ganze Tradition der Kirche habe.« ¹⁸¹ Und zeugt es nicht von größter Klugheit, wenn er 1955 als Patriarch von Venedig den Grundsatz von Kardinal Gusmini notiert: »Man soll kein bischöfliches Dekret erlassen, wenn nicht die Sicherheit besteht, dass es auch befolgt wird.« ¹⁸² Roncalli konnte solches nur sagen, weil er wusste, dass zwar Vieles von ihm abhing, aber doch nicht das Entscheidende. Er konnte Fehler begehen oder auch versagen, aber er konnte dennoch sicher sein, dass Gottes Plan gültig und entscheidend bleibt. Vor diesem Hintergrund und in der Treue zur Botschaft Jesu, konnte Roncalli in Klugheit seine Schritte wählen.
Gerade als Papst bedurfte er solcher Sicherheit und Klugheit für die übergroßen Aufgaben. Und gerade hier bewährte sich seine Sicherheit und Klugheit. So war er fest überzeugt, dass die Idee des Konzils nicht seine Idee war, sondern nur von Gott stammen konnte. Gerade dieses Wissen ermöglichte es ihm, gegen alle Widerstände ein solches Reformwerk anzugehen.
Und wenn alles nicht weiterhalf? Der Tag des Baus der Berliner Mauer am 13. August 1961 mag ein solcher Tag für Johannes XXIII. gewesen sein, an dem er eine tiefe Ohnmacht spüren musste. Und was notiert er an diesem Tag? »Ruhig bleiben bei allem, was geschehen mag«, und einige Zeilen weiter: »In omnibus respice finem – sieh in allem auf das Ende.« ¹⁸³ Für Roncalli galt, wer solches im Blick hat, kann nicht falsch handeln, ist gefeit gegen die Aufgeregtheiten und Irrationalitäten der Zeit: sich seiner göttlichen Berufung über allem klar sein und in allem bewusst sein, dass der Lebensweg durch das Tor des Todes zur wahren Erkenntnis und Vollendung des Heilsplans Gottes führt.
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(Fortsetzung folgt)
ÜBER DEN AUTOR
PROF. DR. KLAUS KOZIOL ist Autor zahlreicher Publikationen zu gesellschaftlichen und ethischen Themen. Zuletzt erschien im Patmos Verlag sein Buch »Lebe einfach«.
ÜBER DAS BUCH
1958 als Übergangspapst gewählt, 1963 als einer der größten Päpste des 20. Jahrhunderts gestorben: Angelo Giuseppe Roncalli – Johannes XXIII. Weniger als 90 Tage nach seiner Wahl kündigte er überraschend ein Ökumenisches Konzil an und initiierte damit einen nie erwarteten Aufbruch in der katholischen Kirche. Woher nahm Johannes XXIII. den Mut und die Zuversicht? Was prägte sein Denken und Handeln, seine Spiritualität, sein tiefes Interesse an den Menschen? Im Jahr des Konzilsjubiläums zeichnet Klaus Koziol ein faszinierendes Portrait dieses Papstes, der noch heute zahllosen Menschen als »der gute Papst« in Erinnerung ist und ihnen Orientierung für ihr Leben geben kann.
