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HH Prof. Dr. Martin Rhonheimer (Opus Dei): Religionsfreiheit – Bruch mit der Tradition?

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Ronheimeren

Rev. Prof. Dr. Martin Ronheimer

Die Lehre des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit bedeute einen Bruch mit dem traditionellen Kirchenverständnis: So behaupten, mit entgegengesetzten Wertungen, sowohl „Progressisten“ wie auch „Traditionalisten“. Um den innerkirchlichen Sprengstoff „Religionsfreiheit“ zu entschärfen, versuchen andere wiederum die Lehre des Zweiten Vatikanums und diejenige der Vergangenheit mit der Behauptung zu versöhnen, wenn man es richtig betrachte, bestünde hier in Wirklichkeit bruchlose Kontinuität und lehrmäßige Harmonie. Doch auch solche Spurenverwischung vermag nicht zu befriedigen. Abgesehen davon, daß sie den wahren Gehalt der Lehre des Konzils verdunkelt, erscheint sie als Vertuschungsmanöver und ist letztlich kontraproduktiv. Sie wird weder Progressisten noch Traditionalisten zu überzeugen vermögen, sind doch die Gegensätze zwischen vorkonziliarer Lehre über die Religionsfreiheit und derjenigen des Konzilsdekrets Dignitatis humanae allzu offensichtlich.

Eine Lösung dieses Dilemmas bietet hingegen die immer noch viel zu wenig beachtete Weihnachtsansprache Benedikts XVI. an die römische Kurie vom 22. Dezember 2005: Das Zweite Vatikanum, so der Papst, ist weder Bruch mit der Vergangenheit noch reine Kontinuität, sein Charakteristikum ist vielmehr „Reform“. Dies auszuleuchten ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen.*

Benedikts XVI. „Hermeneutik der Reform“

In seiner Ansprache am Ende des ersten Jahres seines Pontifikats wandte sich Benedikt XVI. gegen die unter Theologen weitverbreitete Interpretation des Zweiten Vatikanums, der gemäß die Kirche nach dem Konzil angeblich eine andere als die „vorkonziliäre“ Kirche sei. Benedikt nannte diese verfehlte Art, das Konzil zu interpretieren, „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“ („Hermeneutik“ = Interpretation). Ihr stellte er nun allerdings nicht, wie zuweilen behauptet, eine „Hermeneutik der Kontinuität“ im Sinne einer vollständigen Harmonie zwischen der konziliaren und der vorkonziliaren Lehre, ohne jegliche Diskontinuität entgegen. Vielmehr erklärte er: „Der Hermeneutik der Diskontinuität steht die Hermeneutik der Reform gegenüber …“. Reform ist nicht nur Kontinuität. Worin liegt die „Natur der wahren Reform“? Sie liegt, erklärt der Heilige Vater, „im Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität“, aber, und das ist entscheidend, „auf verschiedenen Ebenen“. Diese Ebenen richtig zu identifizieren und auseinanderzuhalten, ist der springende Punkt.

Wie der Papst feststellt, mußte das Konzil „das Verhältnis von Kirche und Moderne neu bestimmen“. Dies galt sowohl für die modernen Naturwissenschaften wie auch für „das Verhältnis von Kirche und modernem Staat“. Dieser nämlich, so Papst Benedikt, präsentierte sich als ein „Staat, der Bürgern verschiedener Religionen und Ideologien Platz bot, sich gegenüber diesen Religionen unparteiisch verhielt und einfach nur die Verantwortung übernahm für ein geordnetes und tolerantes Zusammenleben der Bürger und für ihre Freiheit, die eigene Religion auszuüben“. Es sei offensichtlich, daß hinsichtlich der Lehre des Konzils „in all diesen Bereichen, die in ihrer Gesamtheit ein und dasselbe Problem darstellen, eine Art Diskontinuität entstehen konnte und daß in gewissem Sinne tatsächlich eine Diskontinuität aufgetreten war“. Dennoch könne man feststellen, daß „in den Grundsätzen die Kontinuität nicht aufgegeben worden war“. Und deshalb: „Genau in diesem Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen liegt die Natur der wahren Reform.“

Benedikt XVI exemplifiziert, was er unter „Hermeneutik der Reform“ versteht, an der konziliaren Lehre über die Religionsfreiheit. Er macht hier nun genau jene Unterscheidung der „verschiedenen Ebenen“, zu welcher das vorkonziliare Lehramt aus genau angebbaren theologischen und historischen Gründen noch nicht fähig gewesen war. Denn Gregor XVI. und Pius IX., um nur diese beiden Päpste zu nennen, identifizierten das moderne bürgerliche Grundrecht der Religions-, Gewissens und Kultusfreiheit mit der Leugnung der Existenz einer wahren Religion. Dies, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß, falls es eine religiöse Wahrheit und eine wahre Kirche gibt, dieser nicht auch durch die staatlichpolitische Ordnung und in der bürgerlichen Rechtsordnung Geltung verschafft werden muß. In der Tat plädierten ja auch viele ihrer liberalen Gegenspieler für Religionsfreiheit mit dem spiegelbildlichen Argument: eine solche Freiheit müsse sein, da es keine religiöse Wahrheit gebe.

Die Ansicht, der Staat sei nicht dafür kompetent und es sei auch nicht seine Pflicht, für die gesellschaftliche Geltung der wahren Religion einzustehen und entsprechend anderen Religionen kein Existenzrecht zuzusprechen, sie höchstens in gewissen Grenzen zu tolerieren, wie auch die Ansicht, es sei nicht Sache des Staates, Presse- und Meinungsäußerungsfreiheit durch staatliche Zensur im Dienste der wahren Religion einzuschränken – diese „liberale“ Ansicht betrachtete die Kirche des 19. Jahrhunderts als gleichbedeutend mit der Leugnung der alleinigen Wahrheit der christlichen Religion, als „Indifferentismus“ und „Agnostizismus“.

Katholische Staatslehre und Religionsfreiheit

Im vorkonziliaren Lehramt war die Lehre über die alleinige Wahrheit der christlichen Religion an eine Lehre über die Funktion des Staates und seine Pflicht gekoppelt, der wahren Religion Geltung zu verschaffen und die Gesellschaft vor der Verbreitung des religiösen Irrtums zu bewahren. Dies implizierte das Ideal eines „katholischen Staates“, in dem, idealerweise, die katholische Religion alleinige Staatsreligion ist und die Rechtsordnung immer auch im Dienste des Schutzes der wahren Religion steht. Der Staat besitze vom Naturrecht her die Aufgabe, auch für das ewige Heil der Seelen zu sorgen und deshalb widerspreche Religionsfreiheit dem Naturrecht. Die Ausübung anderer Religionen als der katholischen kann, im Sinne der Toleranz, höchstens aus Klugheitsgründen – um schlimmere Übel zu vermeiden – gewährt werden.1

Genau hier – nicht auf der Ebene des Dogmas, sondern der Auffassung über den Staat – liegt die Diskontinuität mit der Lehre der Päpste des 19. Jahrhunderts. Sie bringt gleichzeitig eine tiefere und wesentlichere Kontinuität ans Tageslicht. So erklärte Benedikt: „Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem Dekret über die Religionsfreiheit einen wesentlichen Grundsatz des modernen Staates anerkannt und übernommen und gleichzeitig ein tief verankertes Erbe der Kirche wieder aufgegriffen.“ Dieser wesentliche Grundsatz des modernen Staates und dieses gleichzeitig tief verankerte Erbe der Kirche, das wieder aufgegriffen wurde, ist, laut Benedikt, die Ablehnung der Staatsreligion. „Die Märtyrer der frühen Kirche sind für ihren Glauben an den Gott gestorben, der sich in Jesus Christus offenbart hatte, und damit sind sie auch für die Gewissensfreiheit und für die Freiheit, den eigenen Glauben zu bekennen, gestorben.“

„Gewissensfreiheit“ war ja im modernen Verständnis immer und vor allem Kultusfreiheit, also das Recht des Individuums und der verschiedenen Religionsgemeinschaften, im Rahmen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Moral unbehindert dem eigenen Bekenntnis – eben auch öffentlich und gemeinschaftlich – nachzuleben, ohne daß der Staat das Recht hätte, hier hindernd einzugreifen. Genau dies forderten die ersten Christen in den Zeiten der Verfolgung. Sie forderten keine staatliche Förderung der religiösen Wahrheit, sondern die Freiheit, ohne jegliche staatliche Behelligung ihren Glauben zu bekennen. Dies wird nun vom Zweiten Vatikanum als bürgerliches Grundrecht der Person, das heißt als Recht aller Menschen unbeschadet ihres religiösen Bekenntnisses gelehrt.

Dem hat deshalb die frühere Forderung nach der politisch-rechtlichen Sicherung der so genannten „Rechte der Wahrheit“ und der Zurückdrängung des religiösen Irrtums durch den Staat zu weichen. Wie man es auch wendet und dreht, man kommt nicht darum herum: Präzis diese Lehre des Zweiten Vatikanums ist es, die von Pius IX. in der Enzyklika Quanta cura verurteilt worden ist. Bedeutet dies, daß das kirchliche Lehramt, auch das universale ordentliche Lehramt, sei nicht unfehlbar? Gewiß nicht. Doch darüber später.

Benedikt schließt seine Exemplifizierung der „Hermeneutik der Reform“ anhand der Lehre über die Religionsfreiheit mit der prägnanten Feststellung: „Das Zweite Vatikanische Konzil hat durch die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Glauben der Kirche und bestimmten Grundelementen des modernen Denkens einige in der Vergangenheit gefällte Entscheidungen neu überdacht oder auch korrigiert …“ Solche Korrektur bedeutet nicht Diskontinuität auf der Ebene der katholischen Glaubens- und Sittenlehre, für die das authentische Lehramt ja zuständig ist und für die es – auch als ordentliches Lehramt – Unfehlbarkeit beansprucht. In dieser Hinsicht spricht Benedikt deshalb von einer bloß „scheinbaren Diskontinuität“, denn trotz des Abwerfens des alten Ballastes einer überholten Staatslehre „hat sie [die Kirche] ihre wahre Natur und ihre Identität bewahrt und vertieft. Die Kirche war und ist vor und nach dem Konzil dieselbe eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, die sich auf dem Weg durch die Zeiten befindet.“

Kurz: Die Lehre des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit impliziert keine dogmatische Neuorientierung, wohl aber eine solche im Bereich der kirchlichen Soziallehre, genauer: eine Korrektur ihrer Lehre über Funktion und Aufgaben des Staates. Die gleichen unveränderlichen Prinzipien werden in neuer historischer Konstellation auf andere Weise angewandt. Es gibt keine überzeitliche, dogmatische katholische Glaubenslehre über den Staat und kann auch keine geben – abgesehen von jenen Beständen, die bereits in der apostolischen Tradition und der Heiligen Schrift verankert sind. Und diesen ist die Idee des „katholischen Staates“ als weltlicher Arm der Kirche unbekannt; sie weisen viel eher in die Richtung einer Trennung von religiöser und staatlich-politischer Sphäre.

Die partiellen Aufhebungen des genuin christlichen Dualismus von weltlicher und geistlicher Gewalt und ihre Vermischung entstanden später, als Folge kontingenter geschichtlicher Konstellationen, zunächst in der Folge der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion des römischen Reiches und der Bekämpfung des Arianismus (der ja wieder für eine Staatsvergottung plädierte), dann im Laufe der frühmittelalterlichen Einbindung der Kirche in die imperialen Regierungsstrukturen und schließlich in der Reaktion darauf, der hochmittelterlichen politisch-kanonistischen Lehre der plenitudo potestatis des Papstes, aus deren Relikte dann die neuzeitliche Idee des konfessionellen, katholischen Fürstenstaates entstand, dem Pius IX. noch ganz verhaftet war und für den es natürlich auch das protestantische Pendant gab.

Hier findet sich nun in der Lehre des Zeiten Vatikanums eine eindeutige Zäsur. Historischer Ballast wurde endgültig abgeworfen. Die Lehre des Konzils über die Religionsfreiheit ist wesentlich eine Lehre über Aufgaben und Grenzen des Staates sowie über ein bürgerliches Grundrecht – ein Recht der Person, nicht der Wahrheit –, durch welches die Souveränität und Kompetenz des Staates in Religionssachen eingeschränkt wird. Sie ist, zweitens, eine Lehre über die Freiheit der Kirche auf Grund des korporativen Grundrechts auf Religionsfreiheit gleich wie alle anderen Religionen auch im säkularen Staat ihre Heilsmission unbehindert wahrzunehmen sowie, drittens, über die Aufgabe des Staates, auf unparteiische, neutrale Weise und, immer im Rahmen der Wahrung der öffentlichen Ordnung und Moral, die Voraussetzungen dafür schaffen zu helfen, damit alle Bürger ihren religiösen Pflichten nachkommen können.

Untaugliche Harmonisierungsversuche

Genau diese neue politisch-rechtliche Lehre, welche impliziert, daß der Staat nicht mehr der weltliche Arm der Kirche als Vertreterin der religiösen Wahrheit zu sein hat, ist es, die von heutigen Traditionalisten abgelehnt wird. Sie verteidigen damit nicht so sehr das Selbstverständnis der Kirche und die Tradition, sondern eine traditionelle Auffassung des Staates und seiner Beziehung zur Kirche. Man darf die Lehre des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit nicht einfach auf die völlig unumstrittene „Freiheit von Zwangsbekehrung“ reduzieren und damit fälschlicherweise bruchlose Kontinuität suggerieren.2  Der entscheidende Punkt ist, wie etwa der Dialogbeauftragte der deutschen Piusbruderschaft Matthias Gaudron betont hat „ob und wie weit man die öffentliche Ausübung eines falschen Glaubens und die Werbung dafür einschränken darf“3. Seine Ansicht ist klar: „Es geht in dieser ganzen Frage vor allem um die öffentliche Ausübung der Religion … Der katholische Staat betrachtet die falschen Religionen als ein Übel, vor dem er seine Bürger schützen will.“4

Noch deutlicher liest es sich in dem Memorandum „Die Zeitbomben des Zweiten Vatikanums“, welches der deutsche Distriktsobere der Piusbruderschaft, P. Franz Schmidberger, an alle deutschen Bischöfe versandte: Die Lehre des Konzil bedeute „die Laisierung der Staaten und der Gesellschaft“ sowie „staatlicher Agnostizismus“; sie leugne das Recht und die Pflicht des Staates, „im öffentlichen Bereich die Anhänger falscher Religionen daran zu hindern, ihre religiösen Überzeugungen durch öffentliche Kundgebungen, Missionierungsarbeit und Errichtung von Gebäuden für ihren falschen Kult in die Tat umzusetzen.“ Kurz: Das Konzil habe mit seiner Lehre über die religiöse Neutralität – sprich Säkularität – des Staates die traditionelle Lehre über den katholischen Staat und das soziale Königtum Jesu Christi aufgegeben. In Wahrheit jedoch, so Schmidberger – der darin lediglich Erzbischof Lefebvre folgt –, ist nur „Jesus Christus der einzige Gott und sein Kreuz die einzige Heilsquelle“; deshalb „muß dieser Alleinvertretungsanspruch in der Gesellschaft soweit wie nur möglich im Rahmen des klugen Abmessens der Staatsoberhäupter geltend gemacht werden“.

Hier nun gibt es keine Gemeinsamkeit oder Kontinuität mit der Lehre des Zweiten Vatikanums. Plädoyers für Harmonisierungsversuche wie diejenigen von P. Basil Valuet5 oder Bertrand de Margerie6 halte ich – trotz ihres anerkennungswürdigen Bestrebens, traditionalistisch denkende Gläubige mit dem letzten Konzil zu versöhnen – für sachlich verfehlt. Sie stiften letztlich Verwirrung, weil solche Plädoyers das eigentliche Problem und damit auch die Originalität der Lehre des Zweiten Vatikanums verdecken. Diese Harmonisierungsversuche verfehlen es, den politisch-rechtlichen Kontext und die von Benedikt XVI. geforderte Differenzierung der Ebenen zu berücksichtigen.

B. de Margerie behauptet etwa – und es handelt sich um eine verbreitete „Harmonisierungsstrategie“ –, sowohl für Gregor XVI. als auch für das Zweite Vatikanum sei die Pressefreiheit nicht „unbegrenzt“ und deshalb gebe es Kontinuität zwischen Gregors Verurteilung der Pressefreiheit und der Lehre des Zweiten Vatikanums. Doch die Wahrheit ist eine andere: Gregor XVI. plädierte für kirchlich beaufsichtigte staatliche Pressezensur im Dienste der wahren Religion, während das Zweite Vatikanum – wie bereits die Liberalen des 19. Jh. – die Grenzen der Meinungs- und Pressefreiheit in den gesetzlich definierten und gerichtlich einklagbaren Rechten der Mitbürger und den Erfordernissen der öffentlichen Ordnung und Moral erblickt – Grenzen, die nun eben der säkularen und gegenüber religiösen Wahrheitsansprüchen neutralen Logik des liberalen, demokratischen Verfassungsstaates entsprechen und nichts, aber auch gar nichts mit dem „Schutz der wahren Religion“ und dem Schutz der Bürger vor der „Pest des religiösen Irrtums“ und deshalb auch nichts mit staatlicher Zensur im Dienste und nach Maßgabe der Kirche zu tun haben.

Ebenso wenig führt, wie Basil Valuet argumentiert, von der noch von Pius XII. in seiner Ansprache Ci riesce vom 06.12.1953 gelehrten Toleranz, die „unter Umständen“ und nach dem Ermessensurteil des „katholischen Staatsmannes“ in religiösen Dingen geübt werden kann, ein Weg zum Recht auf Religionsfreiheit, da dieses bürgerliche Grundrecht der Person die Kompetenz der Staatsgewalt in religiösen Dingen gerade einschränkt. Ermessensurteile „katholischer Staatsmänner“ im Sinne der Toleranzgewährung sind auf dieser Grundlage nicht mehr möglich, sie wären rechtswidrig. Ein angebliches „Recht auf Toleranz“, das gemäß Basil Valuet bei Pius XII. gefunden werden kann und der Lehre des Zweiten Vatikanums entsprechen soll, kann es gar nicht geben.

Deshalb handelt es sich hier keineswegs um einen letztlich unerheblichen Prinzipienstreit, sondern um Grundfragen des Verhältnisses der Kirche zur Moderne, insbesondere zum freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat; aber mehr noch handelt es sich um die Frage des Selbstverständnisses der Kirche selbst und ihres Verhältnisses zur Frage des Zwangs in religiösen Dingen.

Denn wenn auch die Kirche seit jeher die Idee der Zwangsbekehrung abgelehnt hat, so lehnte sie Zwang in religiösen Dingen keinesfalls generell ab. Im Gegenteil. Die Enzyklika Quanta cura Pius‘ IX. war nicht gegen liberale Gottesleugner gerichtet, sondern gegen die einflußreiche Gruppe von katholischen Liberalen um den französischen Politiker Charles de Montalembert – rechtgläubige Katholiken, die sogar die Existenz des Kirchenstaates verteidigten (von Montalembert stammt die später von Cavour in anderem Sinne übernommene Losung „Freie Kirche in einem freien Staat“) –, die im August 1863 auf dem Kongress von Malines die kirchliche Anerkennung der Versammlungs-, Presse- und Kultusfreiheit gefordert hatten.

Doch diese Forderung kollidierte mit der „traditionellen“, aus dem Hochmittelalter stammenden Position, daß die Kirche das Recht zur Ausübung von Zwang – mit Hilfe staatlich-strafrechtlicher Maßnahmen – besitzt, um Katholiken vor Apostasie zu bewahren. „Die Annahme des Glaubens ist Sache der Freiheit“, so lehrte Thomas von Aquin; „den einmal angenommenen Glauben zu bewahren, ist man jedoch verpflichtet“ (Summa Theologiae II-II, 10, 8, ad 3). Die Theologen, welche Quanta cura ausarbeiteten, beriefen sich auf dieses Prinzip (das rein moraltheologisch betrachtet durchaus gültig ist). Es wurde so verstanden, daß es Aufgabe des Staates als weltlicher Arm der Kirche sei, mit Hilfe der Zensur und des Strafrechts die Gläubigen vor glaubensschädlichen Einflüssen und Apostasie zu bewahren.

Aus diesem Grunde hatte bereits Pius VI. in seinem Breve Quod aliquantum (1791) die „Allgemeine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ der Französischen Revolution verurteilt. Sie sei die öffentliche Apostasie einer ganzen Nation. Religionsfreiheit – für die Katholiken – könne man in einem Staat von Ungläubigen oder Juden fordern. Doch Frankreich sei eine christliche Nation und die Franzosen seien getaufte Christen und da könne es keine allgemeine bürgerliche Freiheit geben, irgendeiner anderen Religion als der wahren, der katholischen eben, anzuhangen. Pius VI. bringt es auf den Punkt: Ungetaufte Menschen „sind nicht zum Gehorsam gegenüber dem katholischen Glauben zu zwingen; die anderen hingegen muß man dazu zwingen“ (sunt cogendi).

Benedikt XVI. verteidigt nun in seiner Ansprache von 2005 gerade die erste, die „liberale“ Phase der Französischen Revolution – er unterscheidet sie also von der zweiten, der jakobinischen, plebiszitär- und radikaldemokratischen Phase, die den Terror der Guillotine brachte, – und rehabilitiert damit auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, die ja aus dem Geist des repräsentativen Parlamentarismus und des amerikanischen Verfassungsdenkens geboren wurde.

Die Königsherrschaft Christi gemäß dem II.  Vatikanum

Die für die vorkonziliare Lehre typische Identifizierung von Religionsfreiheit mit „Indifferentismus“ und „Agnostizismus“ überwunden zu haben, ist das Verdienst des Zweiten Vatikanums. Es handelt sich, was das kirchliche Lehramt anbelangt, um einen epochalen Schritt, der nur mit der von Benedikt XVI. geforderten „Hermeneutik der Reform“ verstanden werden kann. Es lohnt sich, auf diese Forderung einzutreten und sie nicht durch falsche Kontinuitätsbestrebungen zu verwässern, die letztlich die wahre Kontinuität und damit auch das Wesen selbst der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche verfälschen würden.

Zuweilen wird auf die von der der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit (Nr. 1) erhobene Einschränkung, die „überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi“ solle „unangetastet“ bleiben, um eine „bruchlose Kontinuität“ in der kirchlichen Lehrtradition auch zum Thema Religionsfreiheit zu suggerieren. Das Konzil scheint hier ambivalent geblieben zu sein.

Doch so ambivalent ist diese Aussage keineswegs, da diese Pflichten – so heißt es im unmittelbar davor stehenden Satz – „Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft“ zur Voraussetzung haben. Die alte Lehre über die Pflichten des Staates als weltlicher Arm der Kirche scheint also bereits abgehakt zu sein, wenn nun von entsprechenden Pflichten „der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi“ die Rede ist.

Welches diese Pflichten sind, findet sich mittlerweile in einer gleichsam authentischen Interpretation des strittigen Satzes. Im „Katechismus der Katholischen Kirche“ Nr. 2105 – ein Dokument des kirchlichen Lehramtes – wird er zitiert und erklärt, es handle sich um die Pflicht der Einzelnen und der Gesellschaft, „Gott aufrichtig zu verehren“. Dies verwirkliche sich darin, daß „die Kirche unablässig das Evangelium verkündet“, was den Menschen ermöglicht „Mentalität und Sitte, Gesetz und Strukturen der Gemeinschaft in der jemand lebt, im Geist Christi zu gestalten“. Von den Christen als einzelnen ist hingegen verlangt, „die einzige wahre Religion, die in der katholischen und apostolischen Kirche verwirklicht ist, zu verbreiten“.

Dies, so beschließt der Abschnitt, sei die Art und Weise, in der die Kirche „die Königsherrschaft Christi über die ganze Schöpfung, insbesondere über die menschlichen Gesellschaften“ bezeugt. Also: Verkündigung des Evangeliums durch die Kirche und Apostolat der christlichen Gläubigen, um die Strukturen der Gesellschaft mit dem Geist Christi zu durchdringen: Das ist die Perspektive des Zweiten Vatikanums. Kein Wort vom Staat als weltlichem Arm der Kirche, der mit staatlichem Zwang die „Rechte der Wahrheit“ zu schützen und auf diese Weise in der menschlichen Gesellschaft die Königsherrschaft Christi zu errichten hat. Die Diskontinuität ist offensichtlich. Und noch offensichtlicher ist die Kontinuität – wo sie wirklich wesentlich und deshalb nötig ist.

Und die Unfehlbarkeit des Lehramtes?

An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob diese unzweifelhaft bestehende Diskontinuität der lehramtlichen Position hinsichtlich der Religionsfreiheit mit der Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramtes vereinbar ist. Liegt hier nicht ein Bruch in der Kontinuität des universalen ordentlichen Lehramtes vor, das ja gemäß der Lehre des Zweiten Vatikanums (Lumen gentium Nr. 25) ebenso wie das feierliche, außerordentliche Lehramt Unfehlbarkeit beansprucht?

Unfehlbar ist das Lehramt, so faßt das Kompendium des Katechismus der katholischen Kirche zusammen, „wenn der Papst kraft seiner Autorität als oberster Hirte der Kirche oder das Bischofskollegium in Gemeinschaft mit dem Papst, vor allem auf einem Ökumenischen Konzil, eine Lehre über den Glauben oder die Sitten in einem endgültigen Akt verkünden.“ Ebenso ist das universale Lehramt des gesamten Bischofskollegiums unfehlbar „wenn der Papst und die Bischöfe in ihrem ordentlichen Lehramt übereinstimmend eine Lehre als endgültig vorlegen“ (Nr. 185). Diese Unfehlbarkeit betrifft nicht nur das Dogma im engeren Sinn, sondern die gesamte Glaubenslehre und Moral, auch die Interpretation des sittlichen Naturgesetzes, sowie all jene Aussagen, die mit dem Glauben in einem notwendigen historischen oder logischen Zusammenhang stehen, so daß das Dogma ohne diese Aussagen nicht richtig verstanden oder bewahrt werden könnte.

Der erste Fall – Definition ex cathedra oder Ökumenisches Konzil – ist im Falle der Religionsfreiheit offensichtlich ausgeschlossen: Das erste und bisher einzige Konzil, das sich zur Frage geäußert hat, ist das Zweite Vatikanum. Doch gerade dieses Konzil anerkennt ja die Religionsfreiheit. Aber auch das universale ordentliche Lehramt scheint hier nicht betroffen zu sein. Denn nie wurde die Verurteilung der Religionsfreiheit von Papst und allen Bischöfen übereinstimmend als endgültige Lehre verkündet.

Es scheint also zumindest prima facie sehr unwahrscheinlich, daß die oben festgestellte Diskontinuität der kirchlichen Lehre über die Religionsfreiheit in irgendeiner Weise die Unfehlbarkeit des Lehramtes, auch nicht des universalen ordentlichen Lehramtes, in Frage stellen könnte. Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß die Verurteilung der Religionsfreiheit durch Pius IX. tatsächlich einen das katholische Dogma betreffenden Kern besaß, nämlich die Verurteilung des Indifferentismus, also des religiösen Relativismus, die Verurteilung der Ansicht, es gebe keine ausschließliche religiöse Wahrheit, alle Religionen seien prinzipiell gleichwertig und der Kirche Jesu Christi komme nicht die Eigenschaft zu, einziger Weg zum Heil zu sein. Das ist in der Tat der eigentliche Punkt, der damals auf dem Spiel zu stehen schien. Ich sage „schien“, weil – wie nun ja das Zweite Vatikanum gezeigt hat – die Lehre von der alleinigen Wahrheit der christlichen Religion und der Einzigkeit der Kirche Jesu Christi als Weg zum ewigen Heil in Wirklichkeit von der Akzeptierung der Religions- und Kultusfreiheit überhaupt nicht betroffen ist.

Wie das Zweite Vatikanum lehrt, impliziert ja das Recht auf Religions- oder Kultusfreiheit keineswegs die Gleichwertigkeit aller Religionen. Dieses Recht ist nämlich ein Recht von Personen und betrifft nicht die Frage, inwiefern das, was diese Personen glauben, der Wahrheit entspricht.7 Auch wenn die Gläubigen aller Religionen ein bürgerliches Recht auf Kultusfreiheit besitzen, heißt dies nicht, daß nun, weil es das Recht aller ist, auch alle Religionen „gleich wahr“ und insofern – nicht im bürgerlich-rechtlichen, sondern im epistemischen Sinne – gleichwertig sein sollten.

Daß jedoch Religionsfreiheit bzw. Kultusfreiheit genau das voraussetzte, war, wie oben gezeigt wurde, die Überzeugung der Päpste des 19. Jahrhunderts und der damals vorherrschenden Theologie (und natürlich generell ebenso der antikirchlich eingestellten Liberalen und Freidenker). Deshalb meinte man ja auch: Falls man das Prinzip aufgäbe, wonach es in einem katholischen Land Aufgabe und Pflicht des Staates sei, die katholische Wahrheit zu schützen und zu fördern und abweichenden religiösen Bekenntnissen deshalb auch kein Existenzrecht einzuräumen, sie höchstens in gewissen Grenzen und nach Maßgabe der Klugheit zu tolerieren, dann würde man damit implizit auch behaupten, es gebe nicht nur eine wahre Religion und Kirche, sondern alle Religionen hätten denselben Wert.

Selbstverständlich konnte dies die Kirche weder damals noch kann sie es heute akzeptieren. Doch hat sie heute ihre Auffassung über die Funktion des Staates und seiner Pflichten gegenüber der wahren Religion und der Kirche geändert – einen Punkt also, der eigentlich gar nicht genuin theologischer Natur ist oder mit dem Wesen der Kirche und ihrem Glauben zu tun hat, sondern die Natur des Staates und dessen Beziehung zur Kirche betrifft. Betroffen ist also höchstens ein Aspekt der kirchlichen Soziallehre.

Wenn nun Benedikt formuliert, das Zweite Vatikanische Konzil habe „mit dem Dekret über die Religionsfreiheit einen wesentlichen Grundsatz des modernen Staates anerkannt und übernommen“ so markiert dies in deutlicher Weise eine von der Staatsauffassung Pius‘ IX., aber auch vom traditionellen Verständnis der Unterordnung der weltlichen unter die geistliche Gewalt verschiedene, ja mit ihr eindeutig in Widerspruch stehende Auffassung über Natur und Pflichten des Staates. Eine solche Diskontinuität bedeutet keinen Bruch mit der lehrmäßigen Tradition der Kirche, keine Abwendung vom depositum fidei und von dem quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est, „was überall, immer und von allen geglaubt worden ist“ (Vinzens von Lerins).

Genau deshalb kann hier auch kein Widerspruch zur Unfehlbarkeit des universalen ordentlichen Lehramtes der Kirche vorliegen – ein solcher Widerspruch ist von der Sache her schon der Möglichkeit nach ausgeschlossen. Die von Benedikt XVI. diagnostizierte Reform vollzog sich nicht auf der Ebene des Dogmas – hier kann es nur homogene Entwicklung und damit Kontinuität geben. Die Reform und damit die Diskontinuität liegt auf der anderen Ebene, die nicht dogmatischer Natur ist: der Ebene der Auffassung über die Natur und Aufgabe des Staates.

Freilich enthält auch die auf die apostolische Tradition, insbesondere auf die Heilige Schrift – und dort die Paulusbriefe – zurückgehende Lehre über die weltliche Gewalt Elemente, die naturrechtlich-prinzipieller Art und deshalb auch prinzipiell Gegenstand des unfehlbaren kirchlichen Lehramtes sein können: Etwa die Lehre, daß alle Gewalt von Gott stammt; daß staatliche Obrigkeit und Autorität Teil der Schöpfungsordnung sind; daß man der staatlichen Autorität im Gewissen, also aus moralischen Gründen Gehorsam schuldet und sie auch das Recht besitzt, Strafen zu verhängen.

Es wäre aber kühn zu behaupten, diese Prinzipien enthielten auch Anhaltspunkte über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat bzw. über die Pflichten des Staates gegenüber der wahren Religion bzw. des Rechts der Kirche, über den weltlichen Arm des Staates ihren Ansprüchen auch mit zeitlichen Strafen und deren zivilen Auswirkungen Geltung zu verschaffen. Entsprechende Positionen und Lehren sind erst im Laufe der Zeit und unter dem Einfluß verschiedener historischer Konstellationen und Bedürfnisse entstanden, wesentlich auch im Zusammenhang des kirchlichen Kampfes um die libertas ecclesiae, die Freiheit der Kirche  von  staatlich-politischer Bevormundung  und  Kontrolle.  Dies war ein äußerst komplexer Prozeß, auf dessen ganz unterschiedliche Etappen ich an anderer Stelle eingegangen bin.8

Zudem ist hervorzuheben, daß die von Benedikt hervorgehobene Diskontinuität auf der Ebene der Anwendung von Prinzipien kein Aufgeben der Kontinuität des Kirchenverständnisses impliziert. Benedikt XVI. konstatiert im Gegenteil: „Die Kirche war und ist vor und nach dem Konzil dieselbe eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, die sich auf dem Weg durch die Zeiten befindet.“ Das ist auch, wie ich es sehe, das eigentliche Anliegen Benedikts gegenüber einer „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“. Denn diese erblickt in der Kirche des Zweiten Vatikanums eine andere, neue Kirche. Die Anwälte einer „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“ hätten, so heißt es in der päpstlichen Ansprache, das Konzil „als eine Art verfassunggebende Versammlung betrachtet, die eine alte Verfassung außer Kraft setzt und eine neue schafft“.

Doch die Konzilsväter hätten keinen solchen Auftrag gehabt, erklärt Benedikt. Indem sie hingegen von Kontinuität und Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen spricht – einerseits der Ebene des Dogmas, des Kirchenverständnisses, des von der Kirche zu wahrenden und immer tiefer zu verstehenden depositum fidei und andererseits der Ebene der konkreten, immer auch zeitbedingten Arten der Anwendungen auf der anderen Seite – konstatiert die von Benedikt XVI. vertretene „Hermeneutik der Reform“ keinen Bruch im Verständnis der Kirche. Vielmehr versteht sie die Kirche als „ein Subjekt, das mit der Zeit wächst und sich weiterentwickelt, dabei aber immer sie selbst bleibt, das Gottesvolk als das eine Subjekt auf seinem Weg.“

Naturrecht oder bürgerliches Recht?

Das Zweite Vatikanum lehrt in der Konzilserklärung Dignitatis humanae (Nr. 2), „das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird“. Und das bedeutet: Religionsfreiheit ist gemäß dem Zweiten Vatikanischen Konzil selbst ein Naturrecht. Nun erstreckt sich aber das unfehlbare Lehramt der Kirche auch auf die Interpretation des sittlichen Naturgesetzes und des Naturrechts. Folglich, so ließe sich einwenden, kann es hier weder Diskontinuität noch Widersprüche geben und genau deshalb sei es auch falsch zu sagen, das Zweite Vatikanum habe explizit etwas gelehrt, das Pius IX. verurteilt hat, nämlich das Recht auf Religions- und Kultusfreiheit.

Tatsächlich heißt es im „Katechismus der Katholischen Kirche“ (2106) ausdrücklich: „Dieses Recht [auf Religionsfreiheit] gründet auf der Natur des Menschen.“ Es ist also sicher richtig, daß das Zweite Vatikanum Religionsfreiheit als Bestandteil des Naturrechts betrachtet. Nun ist jedoch ebenfalls eine Tatsache, daß Dignitatis humanae (Nr. 2) fordert: „Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muß in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, daß es zum bürgerlichen Recht wird“ (Hervorhebung nicht im Original). Die Perspektive des Zweiten Vatikanums ist also nicht einfach und ausschließlich diejenige des Naturrechts, sondern immer auch diejenige der Religionsfreiheit als bürgerliches Recht (das heißt: letztlich als Recht auf Kultusfreiheit). Dies war nun aber in der Tat gerade die Perspektive Pius‘ IX. Denn die Religionsfreiheit, die er verurteilte, war nichts anderes als das auch von katholisch-liberaler Seite geforderte bürgerliche Recht auf Kultusfreiheit. Demnach stimmt es also doch: Genau das, was das Zweite Vatikanum als Erfordernis des natürlichen Rechts auf Religionsfreiheit fordert, nämlich das bürgerliche Recht auf Kultusfreiheit, wurde in der Enzyklika Quanta cura Pius‘ IX. wie auch im dazugehörigen Syllabus errorum verurteilt.

Das heißt jedoch: Das Naturrecht als solches ist also durch die hier angesprochene Diskontinuität gar nicht tangiert. Der Widerspruch liegt auf der Ebene der Forderungen an das bürgerliche Recht und ist damit letztlich politischer Natur. Er ergibt sich aus der Verabschiedung von einer älteren, letztlich dem frühmittelalterlichen sogenannten „politischen Augustinismus“ entspringenden Auffassung, wonach die zeitliche Gewalt – der Staat – in Zusammenarbeit mit der Kirche und auf sie hingeordnet, ebenfalls die Aufgabe hat, für das ewige Heil der Seelen zu wirken.9

Deshalb widersprechen sich Zweites Vatikanum und Quanta cura bzw. der Syllabus errorum nicht auf der Ebene des Naturrechts, sondern auf der Ebene von dessen rechtlich-politischen Anwendung auf konkrete Situationen und Probleme. Das Zweite Vatikanum bringt nicht nur einfach eine Neuheit, indem es Religionsfreiheit als Naturrecht lehrt, sondern es zieht aus dem an sich immer schon bekannten Naturrecht auf Religionsfreiheit eine neue Folgerung bezüglich der staatlichen positiven Rechtsordnung, nämlich jene, Religionsfreiheit müsse auch als bürgerliches Recht (der Kultusfreiheit) anerkannt werden. Diese  Folgerung zog Pius IX. nicht; er hielt sie vielmehr für verderblich und falsch, weil sie seiner Ansicht nach sowohl hinsichtlich der Lehre wie auch in den praktischen Auswirkungen notwendig religiösen Indifferentismus und Relativismus implizierte, dem sich der Staat entgegenstellen müsse. Das Zweite Vatikanische Konzil konnte sie ziehen, weil es von einer anderen Auffassung des Staates und seiner Beziehung zur Kirche ausging und somit nicht mehr die „Rechte der Wahrheit“, sondern die Rechte der Person, der einzelnen Bürger und ihres religiösen Gewissens in den Mittepunkt stellte.

Apostolische Tradition und kirchliche Traditionen

Tatsächlich ging es Pius IX. um die Rettung des Wesens der Kirche, ihres Anspruchs auf alleinige Wahrheit und Heilswirksamkeit. Anerkennung der Religionsfreiheit bedeutete für ihn die Leugnung dieser Wahrheiten; sie bedeutet also Indifferentismus und religiösen Relativismus. Gerade darin liegt ja auch die Größe dieses Papstes, der auf der Grundlage der theologischen Voraussetzungen seiner Zeit, deren Zeitbedingtheit allerdings nicht durchschauend, sicherlich aus heroischer Glaubenstreue handelte und wie ein Fels in der Brandung eines auch damals bereits grassierenden Relativismus stand. Für eine andere, differenziertere Positionierung der Kirche in diesem Abwehrkampf war offenbar die Zeit noch nicht reif.

In der Ablehnung von Indifferentismus und religiösem Relativismus liegt auch der heute noch gültige Kern dieser Verurteilungen des 19. Jahrhunderts. Daß der Kampf gegen religiösen Indifferentismus und Relativismus zum Kampf gegen das bürgerliche Recht auf Religions- und Kultusfreiheit wurde, beruhte nun eben auf einem Verständnis des Staates als Garant der religiösen Wahrheit bzw. einer Sicht der Kirche, die das Recht besitzt, sich des Staates als weltlichen Arm zu bedienen, um ihre pastorale Verantwortung wahrzunehmen. Doch beruhte das entsprechende Staatsverständnis eben gar nicht auf den Prinzipien der katholischen Glaubenslehre und Moral, sondern auf aus dem Hochmittelalter stammenden kirchenrechtlichen Traditionen und Praktiken und deren theologischen Rechtfertigung bzw. den Vorstellungen des konfessionellen Staates, wie er sich in der Neuzeit im Gefolge der Glaubenskämpfe und ihrer Überwindung herausgebildet hat.

Das Lehramt der Kirche im Bereich der Soziallehre enthält neben zeitlosen und in der Glaubenslehre verankerten Prinzipien eine Fülle zeitbedingter, im Rückblick oft auch fraglicher Konkretionen. Sie ist nicht „Lehre“ im gleichen Sinne wie die katholische Lehre im Bereich von Glauben und Sitten, wo die Kirche auch auf verbindliche Weise das Naturgesetz interpretiert: Man denke etwa an Fragen wie diejenige der Empfängnisverhütung, der Abtreibung, der Euthanasie und anderer moralischer Normen im Bereich der Bioethik. Hierbei handelt es sich nicht um bloße Anwendungen des Naturgesetzes auf konkrete Situationen, sondern um die Feststellung dessen, was überhaupt zum Naturgesetz gehört und entsprechend moralische Norm ist. Und in diesem Bereich ist auch das universale ordentliche Lehramt unfehlbar.

Die im 19. Jahrhundert vorherrschenden, auf mittelalterlichen und christlich-spätantiken Vorlagen gründenden, letztlich aber erst im neuzeitlichen konfessionellen Staat sich definitiv ausformenden Auffassungen über die Rolle und Pflichten der weltlichen Gewalt gegenüber der wahren Religion können wohl kaum für sich beanspruchen, auf der apostolischen Tradition zu beruhen oder Bestandteil des depositum fidei zu sein. Ebenfalls gehören diese Auffassungen kaum zu jenen Wahrheiten, die eine notwendige geschichtliche oder logische Verbindung mit den Wahrheiten des Glaubens oder gar dem Dogma besitzen und deren Aufrechterhaltung deshalb notwendig wäre, um das depositum fidei zu bewahren und richtig auszulegen.

Im Gegenteil: Es scheint, daß das das Christentum ursprünglich sogar eher eine gegenteilige Position vertrat. Es entstand und wuchs in einem heidnischen Umfeld, gründete im Blick auf das Evangelium und das Beispiel Jesu Christi sein Selbstverständnis ganz wesentlich auf der Scheidung von Religion und Politik und verlangte vom römischen Staat lediglich die Freiheit, sich ungehindert entfalten zu können. Benedikt XVI. betont in seiner Ansprache, mit der Anerkennung und Übernahme „eines wesentlichen Grundsatzes des modernen Staates“ durch die Lehre über die Religionsfreiheit habe das Zweite Vatikanische Konzil „gleichzeitig ein tief verankertes Erbe der Kirche wieder aufgegriffen. Diese darf wissen, daß sie sich damit in völligem Einvernehmen mit der Lehre Jesu befindet (vgl. Mt 22,21), ebenso wie mit der Kirche der Märtyrer, mit den Märtyrern aller Zeiten.“

Der Rückgriff auf das Evangelium und die ersten Christen ist allerdings ein Thema, das nicht nur von Papst Benedikt angesprochen wird. Er gehört vielmehr zum Kern der Argumentation von Dignitatis humanae, die einer solchen Besinnung auf die Ursprünge gleich zwei ganze Abschnitte widmet (Nr. 11 und 12). Lapidar erklärt dabei das Konzil: „Somit verfolgt die Kirche in Treue zur Wahrheit des Evangeliums den Weg Christi und der Apostel, wenn sie anerkennt und dafür eintritt, daß der Grundsatz der religiösen Freiheit der Würde des Menschen und der Offenbarung Gottes entspricht“ (Nr. 12). Es ist dieser Rückgriff auf das Evangelium, die apostolische Tradition und das Zeugnis der ersten Christen die, wie Benedikt betont, „die Staatsreligion eindeutig abgelehnt“ haben, welche die Lehre des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit charakterisiert. Damit ist die Auffassung über Aufgaben und Pflichten des Staates gegenüber der wahren Religion, die für Pius IX. maßgebend war, stillschweigend ad acta gelegt worden – und zwar durch einen Akt des feierlichen Lehramtes eines Ökumenischen Konzils.

Glaubenstreue, Tradition und politische Moderne

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche von einem jahrhundertelangen historischen Ballast befreit, der seinen Ursprung nicht in der Überlieferung der Apostel und im depositum fidei besitzt, sondern in konkreten historischen Entscheidungen der nachkonstantinischen Epoche der Christenheit. Sie kristallisierten sich schließlich in kirchenrechtlichen Traditionen und entsprechenden theologischen Interpretationen, mit deren Hilfe die Kirche gegenüber den immer wieder auftretenden Übergriffen weltlicher Mächte ihre Freiheit, die libertas ecclesiae zu verteidigen suchte (man denke etwa an die mittelalterliche Zweischwerterlehre, welche das damalige Verständnis der päpstlichen plenitudo potestatis theologisch und biblisch zu rechtfertigen suchte).

Doch solche Rechtstraditionen und die ihnen zugehörigen theologischen Formeln veränderten im Laufe der Geschichte ihre Funktion und ihren Gehalt. Im Gefolge und in der Tradition des neuzeitlichen konfessionellen Fürstenstaates waren sie im 19. Jahrhundert zur Rechtfertigung eines katholischen Idealstaates mutiert, in dem „Thron und Altar“ in enger Symbiose existierten und der „katholische Staatsmann“ eifrig für die „Rechte der Kirche“, nicht aber für das Recht der Bürger auf Religionsfreiheit eintrat. Mit dieser zum Klerikalismus und einer klerikalen Gesellschaft führenden Symbiose und Einseitigkeit wurde nicht selten das eigentliche Antlitz der Kirche verdunkelt.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat hier einen epochalen Schritt gewagt. Durch die Lehre des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit tritt gerade die Identität der Kirche Jesu Christi klarer hervor und wird auch verdeutlicht, wie trotz aller geschichtlicher Diskontinuitäten das kirchliche Lehramt in Sachen des Glaubens und der katholischen Moral eine Kontinuität besitzt, die auch die Grundlage und das stärkstes Argument für seine mögliche Unfehlbarkeit bildet.

Gegenüber jenen, die – wie die Traditionalisten um die Piusbruderschaft von Erzbischof Lefebvre – in der Kirche des Zweiten Vatikanums nicht mehr „dieselbe eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ der Tradition zu erblicken vermögen, ja von einem verderblichen Bruch mit der Vergangenheit sprechen, ist zu sagen: Hier liegt in der Tat ein unversöhnlicher Gegensatz im Kirchenverständnis, aber auch im Verständnis des Staates und seiner Aufgaben vor. Deshalb werden jene Traditionalisten, denen „Tradition als solche“ und „kirchliche Traditionen“ wichtiger sind als die letztlich allein maßgebende apostolische Tradition10, Vermittlungsversuche wie die früher genannten kaum  akzeptieren, da diese ja am eigentlichen Kern des Problems, der nun einmal tatsächlich existierenden  Diskontinuität vorbeigehen.

In einer im Internet publizierten Reaktion zu Robert Spaemanns11 und meinen Äußerungen zum Thema Religionsfreiheit zitiert P. Matthias Gaudron von der Piusbruderschaft meine Aussage „Es gibt keine überzeitliche, dogmatische katholische Glaubenslehre über den Staat und kann auch keine geben“ und bemerkt dazu: „Damit wäre aber auch die neue Lehre des Vatikanum II nicht dogmatisch, sondern wiederum veränderlich. Also kann auch niemand der Piusbruderschaft vorwerfen, daß sie an dieser Lehre Kritik übt“.12 In der Tat, die Lehre des Zweiten Vatikanums über die Religionsfreiheit als bürgerliches Recht ist als solches sicher nicht dogmatischer Natur. Dennoch ist sie feierliche Lehre eines Ökumenischen Konzils, und als solche muß sie (nicht weniger, sondern eher mehr als seinerzeit die Verurteilungen Pius‘ IX.) von den Gläubigen auch mit religiösem Gehorsam angenommen werden. Sie kann nicht Rechtfertigungsgrund für eine Abspaltung von der Kirche sein. Zweitens: Die traditionalistische Position besteht nicht nur darin, daß man diese Lehre kritisieren dürfe, sondern daß sie häretisch sei, Apostasie von der wahren Kirche bedeute und deshalb die Kirche des Zweiten Vatikanums eben nicht mehr die wahre Kirche Jesu Christi sei. Deshalb geht auch P. Gaudrons Argumentation am Problem vorbei, wenn er weiter schreibt: „Es muß also gestattet sein, auch innerkirchlich eine Lehre zu kritisieren, die im Widerspruch zu den gesamten vorherigen Lehraussagen der Kirche steht und gegen die man auch von einem staatsrechtlichen und politischen Standpunkt gewichtige Einwände vorbringen kann. Es besteht hier ein Recht auf eine abweichende Meinung …“.

Ich halte diese Aussage für unehrlich, denn das Problem ist nicht, daß die Anhänger der Piusbruderschaft die Lehre des Konzils „kritisieren“, sondern daß sie behaupten, die traditionelle Auffassung des Staates und der Beziehungen zwischen Staat und Kirche – insbesondere der Staat habe die Pflicht, die katholische Religion zu fördern und die Verbreitung anderer Religionen nach Möglichkeit mit Zwangsmitteln zu unterbinden sowie die daraus sich ergebende Verurteilung eines bürgerlichen Rechts auf Religions- und Kultusfreiheit – sei Bestandteil der katholischen Glaubenslehre, durch die Aufgabe dieser Auffassung sei  Christus „entthront“ worden und habe man seine Kirche verraten; und deshalb bedeute das liberale Prinzip der Religionsfreiheit Apostasie, sei die Kirche des Zweiten Vatikanums auch nicht mehr die wahre katholische Kirche und seien die letztlich schismatischen Bischofsweihen von 1988 gerechtfertigt.13

Das Zweite Vatikanische Konzil stellt uns in der Tat vor eine Wahl: die Wahl einer Kirche, die sich, ihre Wahrheit und ihre pastorale Aufgabe mit den Mitteln weltlicher Gewalt zu behaupten und durchzusetzen versucht; oder eine Kirche, die – wofür Dignitatis humanae plädiert – anerkennt, daß „die Wahrheit nicht Anspruch als kraft der Wahrheit selbst“ erhebt, „die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt“ (Nr. 1). Das sind nicht im dogmatischen und verfassungsmäßigen Sinne zwei verschiedene Kirchen, wohl aber zwei Kirchen, die ihr Verhältnis zur Welt und den irdischen Ordnungen in unterschiedlicher Weise verstehen. Das Zweite Vatikanum enthält kein Plädoyer für einen strikt laizistischen Staat – im Sinne der französischen laïcité – oder die Verbannung der Religion in die Privatsphäre, wohl aber für eine Kirche, die nicht mehr beansprucht, die Königsherrschaft Christi durch den staatlichen Machtapparat durchsetzen zu wollen und deshalb auch den modernen, säkularen – nicht militant laizistischen – Staat und seine politische Laizität anerkennt.

Dies genau ist die Perspektive des Zweiten Vatikanums. Sie wurde in der Lehrmäßigen Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben der Kongregation für die Glaubenslehre vom 21.11.2002 bestätigt, wo es (in Nr. 6) heißt, „die Laizität verstanden als Autonomie der zivilen und politischen Sphäre gegenüber der religiösen und kirchlichen“ sei für die katholische Morallehre „ein von der Kirche akzeptierter und anerkannter Wert, der zu den Errungenschaften der Zivilisation gehört.“ Der Staat sei zwar nicht moralisch autonom – er muß sehr wohl grundlegenden und objektiven moralischen Kriterien genügen –, wohl aber ist er keiner religiösen Wahrheit oder wahren Kirche in besonderer Weise, also prinzipiell mehr als anderen religiösen Bekenntnissen und Gemeinschaften, verpflichtet. Er erklärt sich als Staat und öffentliche Zwangsordnung bezüglich des Urteils über religiöse Wahrheitsfragen oder entsprechende Privilegierungen für nicht zuständig. Seine Aufgabe und seine Ziele sind anderer Art, auch wenn das nicht heißt, daß ihn das religiöse Leben der Bürger nichts angeht oder er nicht eine bestimmte Religion, die in der Tradition einer Nation verankert ist, als entsprechende Wirklichkeit der Kultur und des öffentlichen Lebens anerkennt. Doch was immer hier getan wird, richtet sich letztlich nach politischen Grundsätzen der Gerechtigkeit und Gleichheit aller Bekenntnisse und gleichen Rechte aller Personen. „Demnach muß die staatliche Gewalt, deren Wesenszweck in der Sorge für das zeitliche Gemeinwohl besteht, das religiöse Leben der Bürger nur anerkennen und begünstigen, sie würde aber, wie hier betont werden muß, ihre Grenzen überschreiten, wenn sie so weit ginge, religiöse Akte zu bestimmen oder zu verhindern“ (Dignitatis humanae Nr. 3).

Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums durch die Kirche und des darauf gegründeten Apostolates der christlichen Gläubigen ist es, die Strukturen der Gesellschaft mit dem Geist Christi zu durchdringen und auf diese Weise der Königsherrschaft Christi zum Durchbruch zu verhelfen. Das soziale Königtum Christi beginnt nicht im staatlichen Bekenntnis zur wahren Religion, sondern durch die Verkündigung der Kirche in den Herzen der Menschen, soll aber gerade durch das apostolische Wirken der gewöhnlichen Gläubigen in Freiheit und auf friedliche Weise die ganze menschliche Gesellschaft und all ihre Strukturen und  Lebenswirklichkeiten durchdringen.

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Anmerkungen 

* Zum Thema vgl. auch das Buch des Verfassers: Verwandlung der Welt, Adamas Verlag, Köln 2006 (vor allem Kapitel 4).

1) So argumentieren auch heute noch Vertreter der Piusbruderschaft; vgl. etwa P. Matthias Gaudron, Die Religionsfreiheit. Das wahre Verhältnis von Kirche und Staat, in: Civitas. Zeitschrift für das christliche Gemeinwesen, 10/2010, S. 1-19; bes. S. 2

2) So etwa H. Klueting in „Die Tagespost“ vom 30.5.2009, S. 18

3) Vgl. sein Leserbrief in „Die Tagespost“ vom 6.6.2009. Ausführlicher in seinem Artikel: Die Religionsfreiheit, a.a.O., S. 4 f.

4) Ebd. 4.

5) La Liberté religieuse et la tradition catholique, Le Barroux 1998, 3 Bände.

6) Liberté religieuse et règne du Christ, Édition du Cerf, Paris 1988.

7) Vgl. dazu besonders klar: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt (Schriften zu Staat – Gesellschaft – Kirche, Band 3), Freiburg i. Br. 1990, S. 15-70.

8) Martin Rhonheimer, Cristianesimo e laicità: storia ed attualità di un rapporto complesso, in Pierpaolo Donati (Hg.), Laicità: la ricerca dell’universale nella differenza, Il Mulino, Bologna, 2008, S. 27-138. Eine völlig neu bearbeitete und stark erweiterte deutsche Version erscheint voraussichtlich unter dem Titel „Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft“ bei Herder, Freiburg i. Br. 2012.

9) Vgl. dazu das klassische Werk von H. X. Arquillière, L’augustinisme politique. Essai sur la formation des théories politiques du Moyen-Age, 2. Aufl., Paris 1955.

10) Zum Unterschied vgl. Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 83 und weiter: Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Dei Verbum über die göttliche Offenbarung.

11) Legitimer Wandel der Lehre, in F.A.Z. 1.10.2009, Nr. 228, S. 7

12) „Sie haben ihn entthront! Eine Antwort von Pater Matthias Gaudron zur Diskussion um die Religionsfreiheit“ (Donnerstag, 26. November 2009), publiziert auf piusbruderschaft.de.

13) Vgl. auch Mgr. Marcel Lefebvre, Ils l’ont découronné. Du libéralisme à l’apostasie.  La tragédie conciliaire, Editions Fideliter, Escurolles 1987. – In einem ähnlichen Artikel, der unter dem Titel: „L’‘herméneutique de la réforme‘ et la liberté de religion“ in der Zeitschrift „Nova et Vetera“, 85, 4 (2010), S. 341-363, erschienen ist, schrieb ich ebenfalls (auf S. 361), Traditionalisten betrachteten die Lehre von „Dignitatis humanae“ als häretisch. Dagegen verwahrte sich P. Matthias Gaudron: Dies sei nicht die Position der Piusbruderschaft, sondern jene der sog. „Sedisvakantisten“; nur sie würden bei der Lehre von der Religionsfreiheit von Häresie sprechen (vgl. seinen Artikel vom 18. Mai 2011:„Religionsfreiheit und Unfehlbarkeit der Kirche“, auf www.piusbruderschaft.de). Für P. Gaudron ist die Lehre des Konzils nicht ein Verstoß gegen die Glaubenslehre, sondern nur gegen eine theologische sententia certa. Diese Präzisierung ist an sich signifikant und ich würde sie gerne gelten lassen, wenn nicht erhebliche Zweifel blieben, ob hier mit offenen Karten gespielt wird. Wie Mgr. Lefebvre, so beruft sich auch P. Gaudron (vgl. Gaudron, Die Religionsfreiheit, a.a.O. S. 7) auf Pius’ VII. Post tam diurnitas, wo gesagt wird, das Recht auf Kultusfreiheit bedeute Gleichwertigkeit aller Religionen (also Indifferentismus) und das sei „implizit die unheilvolle und auf immer beklagenswerte Häresie, die der hl. Augustinus mit folgenden Worten erwähnt: ‚Sie behaupten, daß alle Häretiker auf dem guten Wege sind und die Wahrheit sagen (…)‘.“ Wenn also Pius IX. in Quanta cura die Ansicht der katholischen Liberalen um Montalembert verurteilt: „Der beste Zustand der Gesellschaft sei, der Staatsgewalt nicht die Verpflichtung zuzuerkennen, durch gesetzlich festgelegte Strafen die Übeltäter und Entehrer der katholischen Religion in Schranken zu halten, außer wenn die öffentliche Ruhe dies erfordern sollte“ und hinzufügt, diese Auffassung stehe „im Gegensatz zur Lehre der Heiligen Schrift, der Kirche und der heiligen Väter“, so ist damit eben, wie schon bei Pius VII., gemeint, eine solche Auffassung impliziere, wie Pius VII. sich ausgedrückt hatte, „die Kirche, außerhalb derer es kein  Heil  geben kann auf eine Stufe mit den häretischen Sekten und sogar mit der jüdischen Treulosigkeit“ zu stellen. Das ist der entscheidende Punkt, dem P. Gaudron hier aus dem Weg zu gehen scheint: die traditionelle Koppelung von Religionsfreiheit und Indifferentismus, womit eben die Behauptung eines Rechts auf Religionsfreiheit notwendig die Gleichwertigkeit aller Religionen implizierte und damit implizit „im Gegensatz zur Lehre der Heiligen Schrift, der Kirche und der heiligen Väter“ zu stehen kam, also als häretisch betrachtet werden mußte. Genau diese Koppelung wurde vom Zweiten Vatikanum aufgelöst;  damit bleibt Häresie, was die Päpste des 19. Jahrhunderts also solche gebrandmarkt hatten: der religiöse Indifferentismus. Die Religionsfreiheit selbst als bürgerliches Recht ist nun jedoch von diesem Verdikt nicht mehr betroffen. Da jedoch die Anhänger von Mgr. Lefebvre aufgrund ihres Kirchen- und Staatsverständnisses gerade diese Entkoppelung ablehnen, muß ihnen, wollen sie ihre eigene Position nicht verharmlosen, die Lehre des Zweiten Vatikanums zumindest in ihren Implikationen als häretisch erscheinen. Zu bedenken ist auch, daß in den Vorarbeiten zur Enzyklika Quanta cura deren Hauptverfasser, der Konsultor des Heiligen Offiziums P. Luigi Bilio, den von Montalembert vertretenen Satz „L’Église n’a pas le droit de réprimer les violateurs de ses lois par des peines temporelles“ als häretisch klassifizierte. Gerade diese Auffassung Montalemberts ist es jedoch, die Pius IX. in Quanta cura anvisiert (s. obiges Zitat); vgl. zu diesem Thema die ausgezeichnet dokumentierte Studie von Bernard Lucien, Grégoire XVI, Pie IX et Vatican II. Études sur la Liberté religieuse dans la doctrine catholique, Éditions Forts dans la foi, Tours, 1990, 185 (der Autor ist selbst Traditionalist und Gegner der Lehre des Zweiten Vatikanums). Zum Kern der traditionellen Lehre gehört eben gerade die Behauptung, der Kirche stehe von ihrem Wesen her das Recht zu, in religiösen Dingen und zum Heil der Seelen auch weltliche, und das heißt heute: staatliche Zwangsmittel einzusetzen. Mgr. Lefebvre betonte diesen Punkt explizit (vgl. M. Lefebvre, Ils l’ont découronné, a.a.O. S. 76). Es bleibt deshalb zu fragen, wie P. Gaudron der Konsequenz entgehen kann,  die  Lehre des Zweiten Vatikanums als zumindest impliziten Verstoß gegen die katholische Glaubenslehre zu betrachten. Weiter muß er sich fragen lassen, wie er den schismatischen Akt der Bischofsweihen von 1988 mit dem Verstoß des Zweiten Vatikanums gegen eine bloße theologische sententia certa rechtfertigen will. Gemeinsam mit Mgr. Lefebvre, dem Gründer der Piusbruderschaft, müßte er doch viel eher der Ansicht sein, daß diese Lehre  die „Häresie des Liberalismus“ und eine generelle Apostasie der Kirche und der Gesellschaft von Jesus Christus impliziere und damit letztlich das Ganze des katholischen Glaubens aufs Spiel setze (vgl. Lefebvre, Ils l’ont découronné, a.a.O.). Falls es P. Gaudron jedoch nur darum ginge, die integristische Auffassung, der  Staat habe die Aufgabe und  das Recht, zum Heil der Seelen Zwang in religiösen Dingen auszuüben,  gegenüber  der Idee des säkularen, konfessionsneutralen Staates zu verteidigen, so handelte es sich dabei letztlich um eine, wenn auch theologisch begründete, politische Position, die ich nicht als häretisch, wohl aber als anachronistisch und bedauernswert bezeichnen würde.

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Prof. Dr. Martin Rhonheimer lehrt Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Priester der Prälatur Opus Dei.

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Quelle


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