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Mystische Menschwerdung Jesu in den Armen

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Audienz bei Papst Paul VI.

 

Im Folgenden die Ansprache von Papst Paul VI.:

Am 6. Mai 1978, genau drei Monate vor seinem Tod, empfing Papst Paul VI. Mutter Teresa von Kalkutta und eine Gruppe von Schwestern und italienischen Mitarbeitern im Vatikan. Es war die letzte Begegnung des Papstes mit der Ordensfrau, die ihn zu Beginn der Audienz mit folgenden Worten auf Englisch begrüßte: »Sie sind für uns Christus.« Sie fügte hinzu: »Ich danke Eurer Heiligkeit im Namen der Armen, unserer Armen. Sie sind die Opfergabe unserer Liebe. Wir wollen für die Ärmsten der Armen arbeiten.« Der Papst hielt eine Ansprache auf Italienisch. Den vorbereiteten Text ergänzte er durch längere Abschnitte in freier Rede, insbesondere im Mittelteil, wo er sich als »nicht würdig« bezeichnet, »vor ihnen Lehrmeister zu sein«, und am Schluss, wo er dazu auffordert, das »Klagen« und die »Schreie« der Leidenden zu hören. Wir veröffentlichen hier die Ansprache, deren voller Wortlaut bisher nicht bekannt war. Sie wurde von der Audioaufzeichnung transkribiert und auf Italienisch veröffentlicht in dem von Msgr. Leonardo Sapienza, Regent der Präfektur des Päpstlichen Hauses, herausgegebenen Buch Paolo VI e madre Teresa (Rom, Edizioni Viverein, 2016, 184 S., 15 Euro). In den einführenden Worten bemerkt Msgr. Sapienza: »In der Tonaufzeichnung ist die müde Stimme des Papstes zu hören, die aber trotz allem an einigen Stellen kraftvoll wird aufgrund der Zuneigung, die Montini für Mutter Teresa empfand.« Das Buch enthält neben zahlreichen Texten des Papstes und der Ordensfrau Fotos und Abbildungen von Autographen. Darunter befindet sich ein Brief von Mutter Teresa an ihre Mitschwestern. Ihm ist ein weiteres, bis jetzt unbekanntes Detail zu jener Audienz zu entnehmen. »Während Schwester Nirmala dem Papst eine Blumenkette um den Hals legte, sagte der Heilige Vater zu mir: ›Nehmt mich als einfachen Mitarbeiter in eurem Liebeswerk an.‹ Das ist es, was der Heilige Vater über unsere Arbeit denkt!«

Geliebte Söhne und Töchter!

Seid wahrhaft willkommen im Haus des Papstes!

Wir haben erfahren, dass ihr in diesen Tagen in Rom zu eurem nationalen Treffen versammelt seid.

Wir freuen uns über eure – wie wir sehen – stattliche Zahl und über eure lobenswerte Hingabe im Auftrag, den ihr gegenüber den hilfsbedürftigen Brüdern übernommen habt.

Dies sind Zeichen, dass die von Jesus verkündete Botschaft der Liebe weiterhin tief eindringt und Frucht bringt in offenen und verfügbaren Seelen, auch mitten unter zuweilen grausamen und abartigen Ausbrüchen physischer und psychologischer Gewalt sowie der massiven Propaganda von Ideologien, die zu Hass, Verachtung und Übergriffen aufstacheln, und auch mitten unter der häufigen Versuchung des Individualismus, bei dem jeder immer wieder versucht ist zu sagen: »Aber was geht das mich an? Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten und interessiere mich nicht für die anderen, ich störe niemanden. Aber ich sorge mich nicht darum, an andere zu denken, die ich nicht kenne, und die so dringend Hilfe brauchen.«

Das ist eine häufige Versuchung – ich wiederhole es –, die in unserer Gesellschaft des Individualismus weit verbreitet ist und der zuweilen auch die Jünger Christi erliegen.

Und ich möchte auch die große Bewegung, die große Freude hinzufügen, die es mir bereitet, euch hier zu empfangen, euch alle hier versammelt zu sehen und zu wissen, dass ihr alle beseelt seid von dieser Empfindung der Überwindung des Egoismus, um Brüder zu sein, um Gefährten zu sein, um fähig zu sein, zu verstehen und mit den anderen zu leiden, sie zu trösten.

Das ist für mich ein großer, ein sehr großer Trost. Und ich danke vor allem der lieben Mutter Teresa [Der Papst lächelt sie an.] sowie denen, die sie begleiten, und euch, die ihr sie unterstützt, die ihr sie versteht und deren Mühen und Ideale teilt.

Für mich ist das ein Augenblick der Seligpreisungen. Es erscheint mir als Augenblick des gemeinsam erlebten Lebens, das vom Evangelium geprägt ist.

Und ich als erster bin es, der aus dieser Begegnung Wohltat empfängt und der auch ein Jünger dieses Christus ist, der uns alle in seiner Schule vereinen will. Und auch fähig sein – wenngleich ich nicht würdig wäre, vor euch Lehrmeister zu sein, die ihr so geübt und im Leben der Nächstenliebe erfahren seid –, Lehrmeister zu sein und euch zu sagen: »Macht weiter, macht weiter, seid treu! Denn seht, ihr habt den besseren Weg gewählt.« Optimam partem elegistis (vgl. Lk 10,42), ihr habt das Bessere gewählt.

Dass ihr euch als »Mitarbeiter« von Mutter Teresa von Kalkutta bezeichnet zeigt, dass ihr die erhellenden Worte Jesu meditiert und euch zu eigen gemacht habt, die uns der Evangelist Matthäus überliefert: Ihr denkt daran, dass beim Jüngsten Gericht Christus als Richter – wer wäre je in der Lage, sich auch nur in seiner Phantasie die Majestät, die Größe und den Glanz vorzustellen, der von Jesus Christus ausstrahlen kann, dem Haupt der Menschheit, der kommen wird zu richten und zu beurteilen die Lebenden und die Toten, das heißt jene, die in Gemeinschaft mit ihm sind, und jene, die es nicht mehr sind? Ihr zeigt, so sagte ich, dass ihr die erhellenden Worte Jesu meditiert und euch zu eigen gemacht habt, die uns der Evangelist Matthäus überliefert: Beim Jüngsten Gericht wird Christus als Richter belohnen oder verdammen auf der Grundlage der Beziehung – Annahme oder Zurückweisung –, die die Gläubigen in ihrem irdischen Leben zu den Hungernden, den Kleinen, den Dürstenden, den Fremden, den Bedürftigen, den Kranken, den Gefangenen hergestellt haben. Und man kann noch weitergehen, denn das Evangelium sagt auch dies: zu den Unwürdigen, zu denen, die nicht nur finanziell arm sind, sondern die arm sind an Liebe und an Menschlichkeit, zu den Ausgestoßenen, den Verachteten.

Ja, Jesus geht so weit, sich gerade mit diesen gleichsam zu identifizieren – das ist eines der bedeutsamsten und geheimnisvollsten Merkmale des Evangeliums –, wenn er sagt: »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt«, das heißt diese Gesten der Nächstenliebe, »das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Auch hier sehen wir Jesus, der diese Zerbrochenen, die nicht nur außerhalb der Gesellschaft zu stehen, sondern niemandes Bruder zu sein scheinen »Brüder«. Und Jesus nennt sie gerade Brüder – »das habt ihr mir getan«.

Es ist eine Verbindung, die Jesus mit atemberaubender Größe und Güte, so würde ich sagen, herzustellen wagt: an die Stelle des kleinsten, bedürftigsten, leidendsten, herbgewürdigtsten Bruders zu treten und zu sagen: »Das habt ihr mir getan.«

Diese mystische »Menschwerdung« Jesu im Armen gehört meines Erachtens zum Leuchtendsten und Lehrreichsten des Evangeliums.

Zudem legt Jesus als das besondere Merkmal seiner Jünger die gegenseitige Liebe fest. Das ist das alte und neue Gebot, wie der Evangelist Johannes bekräftigt, der schreibt: »Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht« (1 Joh 2,10).

Arbeitet weiter, geliebte Söhne und geliebte Töchter, arbeitet weiter mit großherziger Beständigkeit und wachsendem Einsatz für die Verbreitung und Ausstrahlung der tätigen und uneigennützigen Nächstenliebe, im Bewusstsein, dass diese eure Haltung der konkrete und wahrnehmbare Ausdruck eurer Liebe zu Gott ist und dass ihr im entstellten und gedemütigten Angesicht des armen Bruders durch den Glauben das Antlitz Christi erahnen könnt.

Jemand von euch könnte sagen: »Ich bin Jesus nie begegnet.« Wenn ihr dem Armen wirklich mit dem Herzen und mit verstehender Liebe begegnet seid, dann seid ihr Christus begegnet!

Wir möchten an die Worte des heiligen Augustinus erinnern, der in seinem Kommentar zum ersten Johannesbrief schreibt: »Wenn du den Bruder liebst, liebst du da vielleicht nur den Bruder und Christus liebst du nicht? Wie, wenn du doch die Glieder Christi liebst? Wenn du also die Glieder Christi liebst, so liebst du Christus; wenn du Christus liebst, liebst du den Sohn Gottes; wenn du den Sohn Gottes liebst, liebst du den Vater. Unteilbar ist also die Liebe …, denn wenn du das Haupt liebst, liebst du auch die Glieder.«

Wir wünschen, wir bringen den Wunsch zum Ausdruck – ich würde sagen, dass dies das einzige Geschenk ist, das ich euch machen kann: euch Ermutigung für das vermitteln, was ihr bereits gewählt habt: den Weg der Liebe, dem Nächsten Gutes tun. Wir wünschen, dass all unsere Söhne das Klagen und den Schrei zu hören wissen – manchmal ist es ein schwaches Stöhnen, das man kaum hört, und manchmal sind es dagegen Schreie, die Anstoß erregen und die es nahelegen, sich gegen diese würdelosen Brüder zu wenden – man muss sie vielmehr anzuhören wissen, denn auch sie sind es, die leiden, auch sie sind es, die Hunger haben, auch sie sind es, die – und auch das ist ein großes Leid – einsam sind. Damit alle in Frieden, Eintracht und Solidarität leben und ihre Würde als Menschen und Kinder Gottes leben und verwirklichen können.

(Orig. ital. in O.R. 21.8.2016)



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