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Mitleid und Bewunderung

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Eine neue Bildform der »Werke der Barmherzigkeit« bei Pieter Bruegel d. Ä. (1559)

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Die sieben Werke der Barmherzigkeit, um 1616, Gemälde, Pieter Brueghel der Jüngere (Ulm, Museum der Brotkultur)

Das Thema der »Werke der Barmherzigkeit« wurde vom 12. bis 16. Jahrhundert als Zyklus in einzelnen Medaillons oder rechteckigen Bildfeldern dargestellt. Dagegen fassten die Künstler der Spätrenaissance die Barmherzigkeitswerke im einzelnen Bild zusammen. Niederländische Künstler der Druckgraphik entwickelten diesen neuen Kompositionstyp zwischen 1550 und 1560.

Das Interesse an der Simultandarstellung zeigt sich auch in der Zeichnung »Caritas und die sieben Werke der Barmherzigkeit« von Pieter Bruegel dem Älteren (um 1525-1569). Unten links ist das Blatt mit »BRVEGEL 1559« bezeichnet und datiert (Rotterdam, Museum Boymans-van Beuningen).

Pieter Bruegel stellte das Thema als figurenreiches Treiben auf einem Dorfplatz dar. Die Szene ist sehr lebhaft und erweckt den Eindruck, als ob die ganze Ortschaft gleichzeitig die Barmherzigkeit ausübe. Dabei sind die einzelnen Barmherzigkeitswerke räumlich gruppiert. Auf dem weiten Platz im Vordergrund vollziehen sich die meisten Handlungen. Einige Werke erblickt man im Hintergrund vor Häusern oder in Gebäuden (von links nach rechts: Nackte bekleiden, Hungrige speisen, Kranke besuchen, Fremde beherbergen, Durstige tränken, Gefangene besuchen und Tote begraben).

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Caritas und die sieben Werke der Barmherzigkeit, 1559, Zeichnung, Pieter Bruegel der Ältere (Rotterdam, Museum Boymans-van Beuningen)

Deutung in christlicher Perspektive

Auf den ersten Blick vermittelt die Bilderzählung den Eindruck eines einfachen Sozialeinsatzes. Die übernatürliche Bedeutung scheint zu fehlen, denn – anders als im Mittelalter – stellte Bruegel das Thema ohne das Jüngste Gericht dar. Im Zentrum des Geschehens steht allerdings eine weibliche Gestalt. Sie ist inschriftlich mit »CAYRITAS« bezeichnet und legt eine Deutung in christlicher Perspektive nahe. Als traditionsreiche Personifikation der christlichen Liebe, einer theologischen Tugend, verkörpert diese rhetorische Figur das Grundthema der einzelnen Werke: son actos exteriores de la caridad o benevolencia cristiana.

Die Caritas hält ein brennendes Herz in ihrer Hand, denn die Barmherzigen nehmen sich die materielle Not ihrer Mitmenschen zu Herzen. Als Metapher für die fürsorgende Liebe der Caritas nähern sich ihr zwei Kinder. Auf ihrem Kopf öffnet sich der Pelikan die Brust – ein aus dem »Physiologus« abgeleitetes Symbol für die barmherzige Liebe Christi, der am Kreuze und in der Eucharistie seinen Leib für die Menschen hingibt.

Bruegels Simultandarstellung sämtlicher Werke auf einem Dorfplatz war eine neue Bildform, für die es keine Vorläufer gab. In seiner Zeichnung »Werke der Barmherzigkeit« (1571, Kopenhagen) entwickelte Maerten van Heems­kerck die innovative Komposition Bruegels zur Straßenflucht weiter.

Flämische und holländische Maler des 17. Jahrhunderts schätzten diese Simultankomposition auf einem Platz oder einer Straße sehr. Bei Künstlern in Antwerpen (Frans I Francken, Frans II Francken und Hieronymus III Francken) und Utrecht (Joost Cornelisz Droochsloot) beauftragten bürgerliche Sammler und öffentliche Armenhäuser zahlreiche Gemälde nach diesem Vorbild. Manche Bilder entstanden auch für den freien Kunstmarkt.

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Caritas und die sieben Werke der Barmherzigkeit, 1559, Kupferstich, Philipp Galle

Rhetorische Motivation des Publikums

Die breite Rezeption der Handzeichnung Pieter Bruegels des Älteren (1559) ermöglichte der Kupferstich, der im gleichen Jahr im Antwerpener Verlag »Aux quatres vents« bei Hieronymus Cock erschienen war. Der Künstler war Philipp Galle (1537–1612), der während der fünfziger Jahre bei Cock als Stecher angestellt war. Philipp Galle arbeitete 1558–1560 an einer Serie der Sieben Tugenden und Laster (nach Vorlage Bruegels), zu der sein Kupferstich als drittes Blatt gehörte.

Pieter Brueghel der Jüngere (1564–1638) war ein Sohn Pieter Bruegels des Älteren und ist besonders durch Kopien der Bilder seines Vaters bekannt. In Antwerpen malte er das Thema mehrfach. In den »Werken der Barmherzigkeit« aus der Zeit um 1616 (Ulm, Museum der Brotkultur) verzichtete Pieter Brueghel der Jüngere allerdings auf die Caritas-Personifikation, ebenso in weiteren Gemälden (Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten; Brüssel, Privatsammlung). Zugleich reduzierte Brueghel die Nacktheit der Figuren im Vordergrund, auch betonte er die individuelle Vielfalt der Gesichter und die Zerlumptheit der Gewänder. Diese Bildrhetorik sollte die Betrachter zum Mitleid mit den Armen bewegen.

Als rhetorisches Stilprinzip zeigt das Gemälde des jüngeren Pieter eine anschauliche Bilderzählung, ähnlich wie die Zeichnung (1559) seines Vaters. Allerdings besitzt diese Zeichnung eine moralisierende Aufschrift am unteren Rand, die im Gemälde fehlt: »Speres tibi accidere qvod alteri accidit, ita demvm excitaberis ad opem ferendam. Si svmpseris eivs animvm qvi opem tvnc in malis constitvtvs implorat.«

Der Text spricht also direkt zum Betrachter, der das Elend der Armen als potentiell eigenes Schicksal emotional nachvollziehen soll (»Hoffe, dass du dasselbe durchmachen musst, was anderen zustößt, denn dadurch kannst du angeregt werden, deine Hilfe anzubieten, indem du dich oft in die Lage des Hilfesuchenden, der im Elend lebt, versetzt und seine Schwierigkeiten teilst«).

Damit es aber zu einem solchen Mitleid kommen kann, musste Pieter Bruegel der Ältere jene Affekte, die er beim Betrachter erregen wollte, im Bilde selbst darstellen. Das ist ihm gelungen. Als barmherzige Wohltäter erscheinen Angehörige der Bauernschaft und des städtischen Bürgertums inmitten der Bettler und Krüppel, die sich auf drastische Weise gebärden – man beachte das schreiende und zubeißende Volk am Brotkorb, die gierig schlürfenden Durstigen, das bedrückende Elend der Krankenstube. Bild und Text wollen beim Betrachter Mitleid für die Elenden und Bewunderung für die Wohltäter erzeugen. Die christlich inspirierte Kunst erinnert also daran, dass die Tugend nur in der guten Handlung ihre Erfüllung findet.

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Pieter Bruegel der Ältere zählt zu den bedeutendsten niederländischen Künstlern des 16. Jahrhunderts. Er ist besonders als Maler und Zeichner des Bauerngenres bekannt. Daneben schuf Bruegel auch religiöse und mythologische Historien sowie Landschaften mit satirischen Darstellungen. Sein Gesamtwerk umfasst etwa 45 Gemälde und 80 Handzeichnungen. Der große Einfluss Bruegels auf die flämische und holländische Kunst des 17. Jahrhunderts ist auch in der Ikonografie der Barmherzigkeit erkennbar.

Von Ralf van Bühren,

Päpstliche Universität Santa Croce, Rom

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Quelle: Osservatore Romano 48/2016


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