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„Sie haben alles mit uns gemacht“

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Irak / © Michaela Koller

Zu Besuch bei den Überlebenden des Genozids im Irak

Am 3. August 2014 drang der IS in die Stadt Shingal und in oberhalb im Gebirge gelegene Ortschaften vor, töteten und versklavten diejenigen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Die Mörder mit den langen Bärten und schwarzen Fahnen peinigten junge Frauen als Sexsklavinnen auf widerwärtige Weise, Kindern schlugen sie mit Gewehrkolben die Schädel ein, töteten Alte, Kranke und Behinderte, ja schächteten sogar viele Menschen wie Vieh.

Zwei Jahre danach auch ist die Zukunft der jesidischen Religionsgemeinschaft in dem Gebiet, wo sich ihre heiligsten Stätten befinden, nicht gesichert. Noch immer ringen die Leitungen der Flüchtlingslager darum, die Grundversorgung der Opfer der Vertreibung sicher zu stellen. Amer Abo Elyas leitet das Lager Sheikhan, wo aktuell 5.279 Menschen, 976 Familien in 1.474 Zelten leben. Der Mann, der im Container an einem hölzernen Schreibtisch unter einem Porträt des Kurdenführers Masud Barzani sitzt, bittet die Delegation der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) (die Ehrenvorsitzende Katrin Bornmüller, den Referenten für Humanitäre Hilfe Khalil Al Rasho sowie die Autorin dieses Berichts) um Kleidung, Medikamenten und schließlich nach einem Druckkostenzuschuss für Schulbücher.

Kurdistans rot-weiß-grüne Fahne mit der Sonne weht über dem Eingang zum Lager, einer Anreihung kleiner sandiger Zelte soweit das Auge blickt. Die IGFM-Vertreter sind bei einer Familie zu einem süßen Zimttee eingeladen, der in kleinen Glastassen auf einem Alutablett: Hassan, ein kleinerer, dennoch kräftiger Mann, über fünfzig Jahre alt, gesteht uns: „Abends trinke ich immer einen viertel Liter Raki (Anisschnaps, Anm. d. Red.).“ Er betäubt damit seinen Schmerz: Seine Frau und vier seiner Kinder, darunter zwei Teenies im Alter von 12 und 14 Jahren, sind immer noch in der Gewalt des IS. Nur seine 20-jährige Tochter ist freigekommen, nachdem sie neun Kämpfern als Sklavin dienen musste: Es ist Shirin, deren Leidens- und Fluchtgeschichte Alexandra Cavelius und Jan Kizilhan im Buch „Ich bleibe eine Tochter des Lichts“ aus ihrer Perspektive erzählen. „Kommt für zwei Wochen mit ihr hierher“, bittet Hassan flehentlich.

Auch der 25-jährige Gamil, der Sprachen an der Universität studiert hat, ist mit seiner Familie aus dem Shingal-Gebirge geflohen. Er ist der jüngste Sohn unter 14 Geschwistern, von denen schon eine Reihe in Europa leben. Der für arabische Poesie schwärmende Jeside fühlt sich für seine Eltern, die bereits über 80 Jahre alt sind, verantwortlich und lebt daher mit ihnen im Zelt. „Langfristig sehe ich keine Zukunft für die Jesiden in dieser Region“, gesteht er resigniert.

Mit den Christen gestaltet sich das Zusammenleben jedoch herzlich: „Die Jesiden sind unsere Schwestern und Brüder“, betont der chaldäisch-katholische Bischof von Alqosh, Mikha Maqdassi. Er plant gerade die Einrichtung eines Kindergartens, der dem Nachwuchs aus allen Familien im Ort offenstehen soll. Die Frage, ob damit auch die Muslime eingeladen sind, beantwortet der 67-Jährige mit einem „Ja, aber“: Er erwarte keine muslimischen Anmeldungen für die christlich geführte Einrichtung. Später erfährt die Delegation: Christen und Jesiden erkannten vielfach ihre eigenen muslimischen Nachbarn unter den IS-Tätern. Ein Zusammenleben in der Zukunft setzt zunächst internationale Anerkennung des Leids und Gerechtigkeit voraus, indem die Täter zur Verantwortung gezogen werden.

Nadia Murad, UNO-Sonderbotschafterin für die Würde der Opfer von Menschenhandel, sagte kürzlich vor der Versammlung der Vertreter der Weltgemeinschaft: „Wenn Köpfen, sexuelle Versklavung, Kindesraub und Vertreibung von Millionen Sie nicht dazu bringen zu handeln, was wird es denn dann sein? Nicht nur Sie und Ihre Familien haben ein Recht auf Leben, auch wir brauchen unser Leben und das Recht, es zu leben.“ Sie sprach diese Worte mit unterdrückten Tränen vor den versammelten Diplomaten und Politikern.

Auf der 23-Jährigen Jesidin, die 2014 drei Monate IS-Gefangenschaft erlitt, lastet die Hoffnung ihrer vom Völkermord geplagten Gemeinschaft. Das bestätigt auch das Gespräch mit dem geistlichen Oberhaupt der Jesiden, Baba Sheikh in Ain Sifni, nahe Sheikhan, der die Vertreter der IGFM empfängt. „Ich habe ihr gesagt, sie soll für uns Jesiden eintreten“, verrät er auf dem Sofa des Salons sitzend.

Die eliminatorische Entschlossenheit der Terrormiliz IS steht außer Zweifel, für ihr zynisch-raffiniertes Vorgehen fand das Team der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), die Ehrenvorsitzende Katrin Bornmüller, der Referent für humanitäre Hilfe in Nahost, Khalil Al-Rasho, selbst Jeside, und die Autorin dieses Beitrags, zudem konkrete Hinweise. In dem Ort Sharafiya, einem Ort in der Niniveh-Ebene, treffen die deutschen Besucher auf den Bauern Gorgiss F.. Bei einer Tasse süßen Tee im Haus des Pfarrers berichtet der 53-Jährige vom Vorgehen der Terrormiliz: „Ein alter Freund, der Muslim ist, rief uns an. Er kämpfte inzwischen auf der Seite des IS. Er sagte: Wenn sie in das Dorf kommen und unsere Mädchen und Frauen Kopftuch tragen, geschehe uns nichts. Wir haben nicht darauf vertraut.“

Seine Vorfahren flohen bereits einmal vor einem Genozid, dem der Jungtürken, aus dem traditionellen Siedlungsgebiet des Tiyari-Stammes im äußersten Südosten der heutigen Türkei. Ein Stück weiter, näher an der Front zum Kampfgeschehen, in Telesqof, steht heute eine Geisterstadt, noch immer stark zerstört und die Gegend vermint, nachdem der Ort zwei Wochen im August 2014 den den Islamisten beherrscht und Anfang Mai dieses Jahres erneut angegriffen wurde. Der Kommandant der Sicherheitskräfte hier ist ein Jeside: Vor einem Besuch der Kirche warnt er: „Drumherum sind überall Landminen.“

In Baadr besuchen die IGFM-Vertreter die Mutter dreier schwerstbehinderter Kinder, die dringend Geld für Windeln und Medikamente benötigt. Trotz ihrer Verletzlichkeit haben sie den IS überlebt: Ihr Auto und der Wagen der Großeltern sprangen nicht an, als die Männer mit den schwarzen Fahnen immer näher kamen. Erst nach 42 Tagen – ihre Versklavung und die Ermordung ihrer Kinder waren schon längst beschlossene Sache – entkamen sie mit den Kindern auf dem Rücken und greisen Mitgefangenen während einer Wachablösung.

Auch die inzwischen 14-jährige Samira S., die mit ihrer Familie auch in Baadr aufgenommen wurde, bestätigte mit ihrem Leidensbericht das planvolle Vorgehen der Mördertruppen des Kalifen Abu Bakr Al Baghdadi. Sie ist mit anderen jungen Frauen regelrecht den Berg im Shingal-Gebirge hinaufgejagt worden und als sie auf der anderen Seite wieder Richtung Tal liefen, holten sie die Schergen ein. Den Gästen aus Deutschland berichtet sie im Wohnzimmer des Rohbaus, während die Familie draußen in der Küche zurückbleibt. Sie war nur zwölf Jahre alt, als sie in Gefangenschaft des IS geriet. „Sie haben alles mit uns gemacht“, deutet sie nur an. Eine 26-jährige Mitgefangene rief heimlich einen befreundeten Arzt in einem Krankenhaus an und bat ihn um die Lieferung von Medikamenten, darunter extra viel Schlafmittel. Da die Mädchen und jungen Frauen für die Kämpfer der Terrormiliz kochen mussten, nutzten sie die Gelegenheit, ihnen Schlafmittel in ein deftiges Gericht zu rühren. Ihre Peiniger langten reichlich zu und fielen bald in Tiefschlaf: „Ganz vorsichtig schlichen wir uns fort, nur hundert Meter an einem IS-Kontrollposten vorbei durch vermintes Gelände und kamen schließlich durch.“ Auf die Frage, was sie sich wünscht und ob sie vielleicht einmal nach Europa kommen möchte, antwortet sie entschlossen und frühreif: „Ich wünsche mir, dass meine Heimat befreit wird und dass wir dort wieder in Sicherheit leben können.“

Leila, eine 17-jährige Jesidin aus dem Shingal-Gebirge, die mit ihrer Familie noch rechtzeitig entkommen konnte und zur Zeit in einem der Flüchtlingslager lebt, begleitete die IGFM-Delegation. Aus der Enge der trostlosen Zeltstadt herausgeholt, sollte sie abgelenkt werden, so auf andere Gedanken kommen. Nach der Begegnung mit ihrem geistlichen Oberhaupt sagte sie, ihr Wohlbefinden sei von 50 auf 70 Prozent angestiegen. Während Samiras Bericht sinkt sie jedoch, den Kopf immer weiter nach vorn gebeugt, starr geradeaus blickend, allmählich in sich zusammen. Wohl mit letzter Kraft verlässt sie das Haus, setzt sich auf die linke Seite der Rückbank des Pick-ups, mit dem die deutschen Gäste in Kurdistan reisen. Als alle Vier wieder im Wagen sitzen, beginnt sie ganz plötzlich immer lauter zu schluchzen, kippt nach rechts, Tränen rinnen aus ihrem Auge.

Die Autorin dieses Beitrags nimmt sie in den Arm und Khalil Al Rasho fährt zügig zur Notaufnahme ihres Lagers. Dort angekommen, steht zwar sofort ein Krankenpfleger mit einer Trage bereit, aber erst fehlt das Beruhigungsmittel gegen den Nervenzusammenbruch, dann bricht auch noch die Stromversorgung zusammen. Das Schluchzen hört nicht auf. Später wird keiner aus der Delegation mehr sicher sein, wie viele Stunden das heftige Weinen andauerte, ein entkräftendes Schreien aus der Tiefe des Brustkorbs, wo irgendwo ein Schmerz sitzen muss, Schmerz über all das Verlorene, die Heimat, die Freunde, die Vergangenheit, die Sicherheit, die Unbeschwertheit, das Zusammenleben, der Friede.

– Die Namen der IS-Opfer wurden geändert. –

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Quelle



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