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Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

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Kapitel VIII

Schatten und Licht

 

Überfordert

Der Zweite Weltkrieg ging zu Ende. Er hatte noch nie dagewesenes Leid über Europa gebracht. Ein Mann und das unmenschliche System, das er geschaffen hatte, hinterließen Witwen, Waisen und Trümmerlandschaften, Millionen Menschen wurden von Haus und Hof vertrieben, verloren ihre Heimat. Sie zahlten für den Größenwahn eines Mannes, der kein Gewissen mehr hatte und der doch zu sagen wagte, er sei das Gewissen der Nation, der im kleinen Kreise zugab, er sei bereit, zwei Millionen junger Menschen zu opfern, um sich Osteuropa einzuverleiben. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es ihm gelungen wäre, sich zum Herrn der Welt aufzuschwingen, ein Ziel, auf das er zusteuerte. Er hatte geschworen, den Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, nach dem Siege öffentlich hängen zu lassen. Und dieser wäre nicht der einzige gewesen. Am Schluss musste er sich in seiner Reichskanzlei selbst umbringen.

Es war ein Sieg jener Frau, die in der kleinen Kapelle zu Wigratzbad bei Tag und bei Nacht von vielen Menschen angefleht worden war, der Schlange in dieser Zeit den Kopf zu zertreten. Jetzt konnte man aufatmen. Die Hauptgegner waren verschwunden. – Aber andere sollten sie ablösen. An die Stelle des politischen Gegners traten Menschen, von denen eigentlich eher Unterstützung zu erwarten gewesen wäre. Das war die große Enttäuschung in jener Zeit und nicht nur in Wigratzbad, sondern auch an anderen Stätten in Deutschland. Zu erwähnen sei nur Josef Kentenich (1885-1968), der Gründer der marianischen Schönstatt-Bewegung, die ihren Sitz bei Vallendar am Rhein hat. Er musste nach dem Kriege in die Verbannung nach Nordamerika und wurde erst gegen Ende des Konzils von Papst Paul VI. rehabilitiert.

Nicht unerwähnt bleiben darf hier Heroldsbach, ein unscheinbarer Ort bei Bamberg, der in den Jahren von 1949 bis 1952 Hintergrund aufrüttelnder mystischer Vorgänge wurde. Auch dort reagierte die zuständige Behörde abweisend und gegenüber den Seherkindern unangemessen hart, ja grausam. Als große Botschaft schälte sich dort der Aufruf heraus, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend die persönliche Verantwortung jedes einzelnen Menschen wahrzunehmen. Erst 46 Jahre später rang sich der damalige Erzbischof von Bamberg, Dr. Karl Braun, zu einer unschätzbaren Leistung durch. Anfang 1998 erwirkte er in Rom die Anerkennung von Heroldsbach als Gebetsstätte. Unübersehbar dabei ist, dass Braun in früheren Jahren Mitglied des Domkapitels von Augsburg unter Erzbischof Stimpfle war.

Um der Wahrhaftigkeit willen können, dürfen diese Leiden nicht verschwiegen werden. Dazu hat die Kirche, ein großer Papst, Johannes Paul II., im Jubiläumsjahr 2000 aufgerufen. Am 12. März jenes Jahres hat er vor den Augen der ganzen Welt den Blick auf das Kreuz gerichtet, um Vergebung für die Sünden aller Söhne und Töchter der Kirche gebetet. In seinem Rundschreiben „Novo millennio ineunte„, mit dem er die Kirche auf dieses Jubiläum vorbereitet hatte, war die Rede von der „Reinigung des Gewissens“. Das galt für die ganze Kirche, also auch für alle Lokalkirchen.

Neun Jahre später haben Vertreter anderer Konfessionen sich dankend darauf berufen und sich schützend vor die katholische Kirche gestellt. „Als protestantische Christen und Amerikaner verurteilen wir die groteske Intoleranz, die sich in Verbindung mit der Abtreibungsgesetzgebung gegen die katholische Kirche breit macht“, hieß es in einer Erklärung protestantischer Kirchenführer in den USA. „Papst Johannes Paul II. hat alle Ungerechtigkeiten verurteilt, die Kinder der katholischen Kirche andern gegenüber begangen haben. In gleicher Weise verurteilen wir jetzt alle Selbstgerechtigkeit und Intoleranz gegenüber unseren katholischen Brüdern und Schwestern. Sie sollen unsere entschiedene Stimme gegen diese Intoleranz vernehmen.“ Wahrhaftigkeit zahlt sich immer aus.

Vor diesem Hintergrund muss auch die Geschichte von Wigratzbad gesehen werden. Um der Gerechtigkeit willen ist es allerdings auch unumgänglich hervorzuheben, dass der Kern der Tragödie sich zeitlich vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil abgespielt hat, durch das vieles verändert wurde, was auch das Charisma von Wigratzbad betraf. Die verantwortlichen Personen in der kirchlichen Hierarchie dürften zum Teil auch überfordert gewesen sein. Zu ungewöhnlich war das, was sich im Allgäu abspielte.

Hauptgegner

25 Jahre musste Antonie Rädler darum ringen, dass in der neu erbauten Kapelle die hl. Messe gefeiert, das Allerheiligste aufbewahrt und das Sakrament der Versöhnung gespendet werden durfte. Dazu wurde die Einwilligung des Oberhirten in Augsburg und das Verständnis des Ortspfarrers gebraucht. Aber gerade bei letzterem fehlte hierzu jeder gute Wille. Im Gegenteil. Er wurde zum Hauptfeind der charismatisch begabten Frau. Es war Hermann Rädler, von 1937 bis 1955 Pfarrer von Wohmbrechts, zu dem kirchlich auch Wigratzbad gehörte. Trotz des gleichen Namens war er mit der Familie nicht verwandt.

In einem Schreiben vom 13.12.1957 hat der damalige Dekan von Lindau, J. Hirschvogel, dem auch die Pfarrei Wohmbrechts unterstand, eine Charakterbeschreibung des Geistlichen geliefert, die im Grunde alles aussagt: „Hermann Rädler war ein durch und durch“ — so hieß es — „liberal eingestellter Kleriker, der eine eigene Meinung vom Christentum hatte, Anhänger des damals bekannten nichtkatholischen Theologen von Marburg, Professor Friedrich Heiler, eines Grenzgängers zwischen Katholizismus und Protestantismus.“ Ein paar Beispiele mögen dies beleuchten.

Er wünschte nicht die öftere hl. Kommunion der Gläubigen. Damit stand er im Gegensatz zu den Aufrufen der damaligen Päpste. Die Gemeinde zählte zu seiner Zeit 850 Gläubige. Der Kommunionempfang im Jahr betrug ca. 3000. Bei der Taufe ließ er grundsätzlich den Exorzismus weg. Und als Anhänger des Theologen Friedrich Heiler war er ein Gegner der Marienverehrung. Als Antonie ihm voller Freude die von einem Benediktiner aus Rom geschenkten Reliquien zeigte, erschien bald darauf in der Lindauer Zeitung ein Artikel über den „Reliquienschwindel“ der Antonie Rädler, eine Falschmeldung, die viele andere Zeitungen aufgriffen. Da Antonie sie niemandem anderen gezeigt hatte, kam als Urheber dieser denunzierenden Fehlinformation nur der eigene Pfarrer in Frage.

Tragischer noch als seine liberale theologische Haltung war seine Einstellung zum Nationalsozialismus. Er war Mitglied der SA (Sturmabteilung), im Volke Braunhemden genannt, einer Kampftruppe, die vor Folter und Einschüchterung politischer Gegner nicht zurückschreckte. Bei seiner Amtseinführung wurde er von der lokalen SA begleitet. Vor der versammelten Gemeinde sagte er: „Ich stehe im Namen und im Auftrag unseres gottbegnadeten Führers Adolf Hitler in dieser gottgeweihten Kirche.“ In seinem Arbeitszimmer hing ein lebensgroßes Bild Adolf Hitlers. Nach dem Zusammenbruch des Systems im Jahre 1945 ließ er es uneinsichtig an der Wand hängen. Erst ein französischer Offizier zwang ihn dazu, das Bild zu entfernen. Man fragt sich heute, musste es erst ein französischer Offizier sein, der das veranlasst hat?

Als Antonie 1938 von der Gestapo abgeführt worden war, suchte ihr Vater weinend Trost beim Pfarrer. Dessen Reaktion zeigt, wie weit sich auch ein Geistlicher verirren kann, der seine Berufung nie verinnerlicht und darum eigentlich nicht verstanden hat: „Glauben Sie etwa“, so fragte er, „dass Antonie nicht am rechten Ort ist? Wollen Sie etwa sagen, dass der Führer etwas anordnet, was nicht recht wäre?“ Der zuständige Polizeibeamte, ein Gesinnungsgenosse des Pfarrers, sprach es später offen gegenüber Antonie aus: „Es war Pfarrer Rädler, der Sie ins Gefängnis gebracht hat. Er war auch der Meinung, die Kapelle brauche man nicht, aber als Heim für die Hitler-Jugend sei sie geeignet.“

Von einem solchen Priester hatte Antonie keine Unterstützung zu erwarten. Die Erlaubnis zur Einweihung der Kapelle wurde von Seiten des Bischofs von der Errichtung einer Kapellenstiftung abhängig gemacht, Hermann Rädler sollte als Kirchenrektor eingesetzt werden. Antonie Rädler hätte praktisch nichts mehr zu sagen gehabt. Nicht einmal das Recht, mit anderen den Rosenkranz zu beten oder ein Marienlied anzustimmen, wäre ihr zugestanden worden. Das machte er in einem Gespräch mit ihrem Notar deutlich. Indirekt warf ihr das Ordinariat Augsburg, von Rädler entsprechend informiert, abergläubische und übersteigerte Andachtsformen vor, die es zu unterlassen gelte.

Wirken der Gnade

Der Oberhirte in Augsburg damals war seit 1938 Bischof Dr. Josef Kumpfmüller (1869-1949). Er war, als er sein Amt antrat, 69 Jahre alt. 1945 setzte er sich, damals 76-jährig, mit anderen mutigen Persönlichkeiten für die kampflose Übergabe der Stadt Augsburg an die heranrückenden amerikanischen Truppen ein, wodurch die Stadt vor großen Schäden bewahrt blieb und viele Menschenleben gerettet wurden. Die Gruppe nannte sich „Friedensbewegung für Augsburg“.

An Hermann Rädler und an Bischof Kumpfmüller lässt sich in Verbindung mit Wigratzbad das geheimnisvolle Wirken der Gnade beobachten. 14 Tage vor seinem Tode ließ Pfarrer Rädler den für Antonie Rädler tätigen leitenden Kurarzt Dr. Konrad Moser zu sich kommen. Er wollte, was Wigratzbad anging, sein Gewissen entlasten und teilte dem Arzt mit, er habe dem Bischof von Augsburg, Dr. Joseph Freundorfer, geschrieben, dass er als Seelsorger wissentlich unwahre und belastende Mitteilungen über Antonie Rädler an das Ordinariat geschickt habe. Aus Gewissensgründen möchte er diese deshalb zurücknehmen. Daraufhin habe ihm Bischof Freundorfer geantwortet, er habe zu seinen Angaben zu stehen, denn nach diesen Aussagen habe er als Bischof Wigratzbad beurteilt. Dabei bleibe es.

Kurz nach seiner Einsetzung als Pfarrer von Wohmbrechts wurde Ludwig Dorn im August 1955 gebeten, Monsignore Dr. Kraft aufzusuchen. Er habe ihm eine wichtige Mitteilung zu machen. Sie betraf den 1949 verstorbenen Bischof Kumpfmüller. Dieser habe ihn kurz vor seinem Tode zu sich gerufen und folgendes Geständnis abgelegt: „Es tut mir unendlich leid und es reut mich tief, dass ich der Gebetsstätte Maria vom Sieg nicht zur Höhe verholfen habe. Jetzt kann ich es leider nicht mehr tun. Erfüllen Sie mir aber die Bitte, ich bitte Sie inständig darum: Sagen Sie meinem Nachfolger im Amte persönlich, er möge sich für Wigratzbad einsetzen, dass diese Gebetsstätte ehestens öffentlich anerkannt werde und so der neue Bischof sehr bald meine Versäumnisse gut mache.“ Er sei dieser Bitte nachgekommen. Bischof Dr. Joseph Freundorfer (1894-1963) habe ihn als seinen Studienfreund persönlich zu sich eingeladen. Bei dieser Gelegenheit konnte er ihm die letzte Bitte seines Vorgängers vortragen und ihm die Sache Wigratzbad wärmstens empfehlen. Er habe versprochen, sie zu erfüllen. Aber nach sechs Jahren sei immer noch nichts geschehen. Er wolle ihn jetzt bitten, sich der Sache als zuständiger Pfarrer anzunehmen.

Freundorfer hatte das Gegenteil getan. Nachdem Antonie Rädler ihm in einem ausführlichen Brief ihren Standpunkt und ihre begründeten Vorbehalte gegen Pfarrer Hermann Rädler als Stiftungsrat dargelegt hatte, ließ er ihr eine knappe Mitteilung zukommen, die in ihrer Kürze schon eine Kränkung war. Darin hieß es: Eine Schenkung der Kapelle Wigratzbad an die Kirche oder eine kirchliche Stiftung unter den im Brief von Antonie gestellten Bedingungen wird nicht angenommen. Die Zelebration und jede Art von öffentlichen Gottesdiensten in der Kapelle Wigratzbad sind von jetzt an verboten. Dabei blieb es bis zum Tode des Bischofs am 11. April 1963.

Joseph Freundorfer war ein sehr gebildeter Mann. 1926 erwarb er in München mit seiner Arbeit über „Erbsünde und Erbtod beim Apostel Paulus“ den Doktortitel. 1928 habilitierte er sich dort für das Neue Testament. Im Anschluss daran war er in Rom am Bibelinstitut und an der Vatikanischen Bibliothek tätig, außerdem Privatdozent in München, ab 1930 außerordentlicher Professor an der Universität Passau, 1945 ordentlicher Professor.
Als Oberhirte förderte er besonders die Katholische Aktion, über regionale Katholikentage gab er dem religiösen Leben in seinem Gebiet neue Anstöße. Seine Fürsorge erstreckte sich auf den sozialen Wohnungsbau und die Tätigkeit des Familienbundes der deutschen Katholiken. Besondere Bedeutung maß er der katholischen Presse bei und war bemüht, sie zu stärken.

Beide Würdenträger zeigen, dass weder die Weisheit des Alters noch eine hohe theologische Bildung Garantie dafür sein können, ein von Gott geschenktes ungewöhnliches Charisma zu erkennen. Ganz besonders schwierig war es sicher vor dem Zweiten Vaticanum, durch das erst die Stellung der Laien, der Frauen und die Rolle des Charismas aus ihrer stiefmütterlichen Rolle in der Kirche in den Vordergrund rückten. Freundorfer starb 1963 unerwartet in der Nacht zum Gründonnerstag, ohne sich mit Antonie Rädler und besonders mit ihrer Berufung ausgesöhnt zu haben. Im Wege gestanden hat ihm dabei offensichtlich sein hoher Bildungsgrad. Er hatte sich bei seiner Doktorarbeit besonders mit dem Apostel Paulus beschäftigt. Aber gerade Paulus hat die Hirten der Urkirche dazu ermahnt, den Geist nicht auszulöschen (1 Thess 5,16).

Würde der Frau

Was hat es den beiden genannten Oberhirten und vielen Geistlichen so schwer gemacht, zu erkennen, dass durch Antonie Rädler Gott am Handeln war und warum? Das weiß am Ende Gott allein und Er allein ist in der Lage, ein gerechtes, von Barmherzigkeit getragenes Urteil zu fällen. Aus menschlicher Sicht waren es psychologisch gesehen drei ungünstige Voraussetzungen.

Antonie Rädler war eine Frau, dazu eine einfache Frau, ohne höhere Schulbildung. Der Vater war zwar nicht arm, aber auch kein Großunternehmer. Er war Metzger, Antonie hatte lediglich eine Haushaltsschule besucht, ansonsten half sie ihrem Vater im Geschäft. Dass ein so unbedarftes Mädchen die Menschen beeindrucken konnte und durch ihre religiöse Grundeinstellung faszinierte, passte nicht in das Bild der Frau, das damals noch vorherrschend war. Es war ja gerade erst drei Jahrzehnte her, dass Frauen Berufe erlernten und in der Öffentlichkeit für ihre Rechte eintreten durften. Die Kirche spiegelte die Atmosphäre in der Gesellschaft wider.

Das änderte sich erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und ganz besonders mit Papst Johannes Paul II. In seinem berühmten Rundschreiben über die Frau „Mulieris dignitatem“ heißt es in der Einleitung: „Die Würde der Frau und ihre Berufung – ständiges Thema menschlicher und christlicher Reflexion – haben in den letzten Jahren eine ganz besondere Bedeutung gewonnen.“ Das beweisen unter anderem die Beiträge des kirchlichen Lehramtes, die sich in verschiedenen Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils wieder finden, das dann in seiner Schlussbotschaft sagte: „Die Stunde kommt, die Stunde ist schon da, in der sich die Berufung der Frau voll entfaltet, die Stunde, in der die Frau in der Gesellschaft einen Einfluss, eine Ausstrahlung, eine bisher noch nie erreichte Stellung erlangt. In dieser Zeit, in welcher die Menschheit einen so tiefgreifenden Wandel erfährt, können deshalb die vom Geist des Evangeliums erleuchteten Frauen der Menschheit tatkräftig dabei helfen, dass sie nicht in Verfall gerät. Die Worte dieser Botschaft fassen zusammen, was bereits in der Lehre des Konzils … Ausdruck gefunden hatte.“

Antonie war eine „vom Geist des Evangeliums erleuchtete Frau“. Aber das zu erkennen, darin taten sich die Verantwortlichen in der Kirche in jenen Jahren sehr schwer.

Sendung der Laien

Ein weiteres Hindernis, Antonie und ihre Berufung, ihre Absichten und Vorstellungen einzuordnen, war die Tatsache, dass sie dem Laienstand angehörte. Sie war weder Ordensfrau wie Thérèse von Lisieux, Edith Stein oder wie Schwester Faustyna in Krakau, heute unbestritten anerkannte große Mystikerinnen. Wäre es bei ihr bei einer persönlichen Frömmigkeit geblieben, hätte kaum jemand daran Anstoß genommen. Aber ihre Berufung galt der Sorge um die Kirche, um die Menschen, um ihre Erlösung und um ihr Heil, ja um das Heil der Welt. Zugegeben, sehr hohe Ansprüche, die da eine unbedarfte Seele zu erkennen gab.

Erst dem Zweiten Vaticanum ist auf diesem Gebiet ein großer Durchbruch zu verdanken. In der Einleitung zum „Dekret über das Laienapostolat“ heißt es: „Um dem apostolischen Wirken des Gottesvolkes mehr Gewicht zu verleihen, wendet sich die Heilige Synode nunmehr eindringlich an die Laienchristen, von deren spezifischem und in jeder Hinsicht notwendigem Anteil an der Sendung der Kirche sie schon andernorts gesprochen hat. Denn das Apostolat der Laien, das in deren christlicher Berufung selbst seinen Ursprung hat, kann in der Kirche niemals fehlen.

Wie spontan und fruchtbar dieses Wirken in der Frühzeit der Kirche war, zeigt klar die Heilige Schrift selbst (Apg 11, 19-21; 18,26; Röm 16,1-16; Phil 4,3). Unsere Zeit aber erfordert keinen geringeren Einsatz der Laien, im Gegenteil, die gegenwärtigen Verhältnisse verlangen von ihnen ein durchaus intensiveres und weiteres Apostolat. Das dauernde Anwachsen der Menschheit, der Fortschritt von Wissenschaft und Technik, das engere Netz der gegenseitigen menschlichen Beziehungen haben nicht nur die Räume des Apostolates der Laien, die großenteils nur ihnen offenstehen, ins Unermessliche erweitert; sie haben darüber hinaus auch neue Probleme hervorgerufen, die das eifrige Bemühen sachkundiger Laien erfordern.

Dieses Apostolat wird um so dringlicher, als die Autonomie vieler Bereiche des menschlichen Lebens – und zwar mit vollem Recht – sehr gewachsen ist, wenngleich dieses Wachstum bisweilen mit einer gewissen Entfremdung von der ethischen und religiösen Ordnung und mit einer schweren Krise des christlichen Lebens verbunden ist. Zudem könnte die Kirche in vielen Gebieten, in denen es nur ganz wenige Priester gibt oder diese, wie es öfters der Fall ist, der für ihren Dienst notwendigen Freiheit beraubt sind, ohne die Arbeit der Laien kaum präsent und wirksam sein.“

Vor dem Hintergrund dieses Textes erscheint Antonie Rädler geradezu als das Idealbild eines Laienapostels. Sie hat Menschen erreicht, die Priester nicht oder nicht genügend erreichen konnten, ja sie dürfte manchen Geistlichen, z.B. ihren eigenen Ortspfarrer Hermann Rädler mit seiner verblendeten und fanatischen Treue zu Adolf Hitler, durch ihre Treue zur Lehre und zum Geist des Evangeliums korrigiert und dadurch manche Seelen gerettet haben. Als Leiterin der Filiale ihres Vaters in Lindau hat sie das Vertrauen vieler Frauen gewinnen können, diesen nicht nur praktische Ratschläge gegeben, sondern den Samen des Glaubens in ihre Seelen gesenkt. Erst das Konzil hat die Augen vieler Bischöfe und vieler Priester für dieses ungenutzte Potential in der Kirche geschärft.

Natürlich ist es nicht so, als ob vor dem Konzil selbstherrlich herrschende Würdenträger die Energien, die in diesem Stande für die Kirche schlummern, völlig ignoriert hätten. Zu allen Jahrhunderten haben große Persönlichkeiten unter den Laien Einfluss auf das Leben der Kirche gehabt. Aber Zeitgeist, Routine und Überängstlichkeit haben diese Möglichkeit nicht zum Zuge kommen lassen. Darin lag ein Teil der Tragik von Antonie Rädler, die ein Vierteljahrhundert unter dieser mangelnden Weitsicht bitter gelitten hat.

Das Charisma

Die dritte Hürde, die zu nehmen war, war das Charisma. Auch dafür hat das volle Verständnis erst nach dem Zweiten Vaticanum an Boden gewinnen können. Charismen haben schon in der Urkirche eine große Rolle gespielt, wenn auch der Apostel Paulus sie anders genannt hat. Was ist ein Charisma? Früher sprach man von einer „gratia gratis data“ – ein frei gewährtes Geschenk. Heute beschreiben wir es etwas anders. Ein Charisma ist eine von Gott (meist plötzlich) einzelnen Gläubigen gewährte Gnade beziehungsweise Befähigung zum Dienst am Menschen, zum Aufbau der christlichen Gemeinde. Dies geschieht meist unerwartet und es kann auch, aus welchen Gründen auch immer, von Gott zurückgenommen werden. Es muss also nicht unbedingt etwas Dauerhaftes sein. Ein Charisma ist auf Bekenntnis und Zeugnis angelegt, der Charismatiker fühlt sich gedrängt, mitzuteilen.

Ein Charisma ist nicht mit einem Naturtalent zu verwechseln. In den letzten Jahrzehnten hat sich die säkulare Sprache, das säkulare Denken dieses christlichen Begriffes bemächtigt – wie so oft, etwa in der Politik. Es ist eigentlich ein Missbrauch. Dadurch kann die eigentliche Bedeutung im religiösen Bereich Schaden nehmen. Bundeskanzler Willy Brandt wurde in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts so ein politisches „Charisma“ zugesprochen, ab dem Jahre 2008 Barack Obama in den USA.

Charismen gehören zum Wesen der katholischen Kirche. Sie ergänzen das Amt, können es aber nicht ersetzen. Umgekehrt kann eine von Gott gewährte Gnade, Befähigung, nicht vom Amt verfügbar gemacht werden. Bisweilen kommt es zu Spannungen zwischen Charisma und Amt, in Wigratzbad zu beobachten zwischen Antonie Rädler und den beiden Bischöfen J. Kumpfmüller und später J. Freundorfer. Dass es auch anders sein kann, ja sein sollte, hat dann der Nachfolger im Amt, Bischof J. Stimpfle, gezeigt. Charismen sind auf Prüfung durch das Amt angewiesen — eventuell auf Korrektur.

Auf Charismen sollte man mit Dankbarkeit reagieren, nicht mit Missachtung nach dem Motto: „Ich brauche keine Erscheinungen“, wie manche Priester gelegentlich von der Kanzel behaupten. Das Charismatische gehört genauso zur Kirche wie die Sakramente und wie die Bischöfe und Priester. Das Charisma geht auf die aktuellen Bedürfnisse der Kirche ein, deshalb treten zu verschiedenen Zeiten verschiedene Charismen auf. Der große Theologe Karl Rahner nannte sie „Imperative“, „Befehle“ Gottes, wie in der jeweiligen Zeit das Evangelium umzusetzen ist.

Seit einigen Jahrzehnten ist zu beobachten, dass bestimmte Charismen, die in der Urkirche eine große Rolle gespielt haben, wieder auftreten. Die Zeiten scheinen einander ähnlich zu sein, heute wie vor 2000 Jahren. Charismen ergänzen einander, sie wirken zusammen. Wo sie einander bekämpfen oder abwerten, sind sie unecht. Oberstes Ziel der Charismen ist das Heil des Menschen.

Es ist die Ursünde unserer Zeit geworden, dass man meint, alles lasse sich erklären, wenn nicht heute, dann morgen und wenn nicht morgen, dann übermorgen. So etwas wie Übernatur existiere nicht und Gott sei nur eine Vermutung. Dieses Denken findet schleichend Eingang auch bei Christen.

Die Wurzeln des verhängnisvollen Irrtums liegen in der Meinung, Gott lasse sich wie die Natur erklären oder wie die Natur erforschen. Der Mensch möchte Gott zum Gefangenen von Zeit und Raum machen, wie er einer ist. Aber Gott ist der ganz Andere. Und nur ein Mensch, der versucht, die Welt mit diesen Augen Gottes von einer anderen Ebene zu betrachten, bekommt ein Gespür für das Wirken Gottes, ja er ist in der Lage, dieses Handeln zu erkennen. Gnade, ein Charisma sind nicht nach mathematischen Formeln zu entschlüsseln, sie sind nicht greifbar, sie folgen anderen Gesetzen. Es sind Impulse des Heiligen Geistes.

Was nun war das Charisma bei Antonie? Es war vor allem und zuallererst die Gnade des immerwährenden Gebetes. Schon der Apostel Paulus schreibt in seinem ersten Brief an die Thessalonicher: „Betet ohne Unterlass“ (5,17). Und nur zwei Zeilen weiter schreibt er: „Löscht den Geist nicht aus“ (5,19), als wolle er einen Zusammenhang herstellen. Bei Antonie ist er da. Als junge Frau hat sie in Lindau ganze Nächte durchgebetet, von niemandem gedrängt, von niemandem eingeladen, aus innerem Impuls. Das unter anderem wurde für die damaligen Machthaber zum Ärgernis, weshalb man sie umbringen wollte. Im 20. Jahrhundert wurde immer weniger gebetet, ein Grund, warum auch die Gottesmutter in ihren Erscheinungen immer wieder dringend und nachhaltig zum Gebet aufruft.

Opfertod auf Golgotha

Zu diesem Charisma gehört auch die Bereitschaft zur Sühne für eigene Vergehen, für die Fehlleistungen anderer und für die Sünden der ganzen Welt. In dieser Hinsicht bestand eine große Seelenverwandtschaft mit der kleinen Thérèse von Lisieux, weshalb es sie instinktiv auf ihrer Reise durch Frankreich dort hingezogen hat. Der Opfertod Jesu am Kreuze war das vollkommene Sühneopfer, das Christus stellvertretend für die ganze Menschheit dargebracht hat. In Ihm hat Gott die Welt mit sich selbst versöhnt.

Sühne hat etwas mit Ungleichgewicht zu tun. Wir wissen aus der Medizin, wie verhängnisvoll Gleichgewichtsstörungen sind. Sie können ein normales Leben unmöglich machen. Störungen des Gleichgewichtes in der Natur können verhängnisvolle Folgen haben, im Kosmos würden sie das Chaos zur Folge haben. Das gilt auch für die Welt des Übernatürlichen.

Diese Offenbarung ist im 20. Jahrhundert auf immer weniger Verständnis gestoßen. Und immer wieder trifft man auf Versuche, den Tod Jesu anders zu deuten, etwa als vollkommene Hingabe oder als Beispiel für eine Welt, die nur für sich selbst lebt. Den Sinn der Sühne versteht nur der, der eine Ahnung von der Unendlichkeit Gottes hat, von der Unendlichkeit seiner Liebe zum Menschen. Gott ist ewige Harmonie. Liebe ist Harmonie, Liebe will Gegenliebe; je größer sie ist, umso größer die Sehnsucht nach einer Antwort nach den gleichen Maßstäben. Sühne ist eine „Erfindung“ der ewigen Liebe, um dem Geschöpf die Möglichkeit zu geben, alles wieder ins Lot zu bringen. Sie ist etwas Urgöttliches.

Das gehörte über Jahrhunderte, ja über zwei Jahrtausende für Christen zum ganz selbstverständlichen Glaubensgut, wie es in einem Lied zum Ausdruck kommt: „Preis Dir, Du Sieger auf Golgotha, Sieger auf ewig, halleluja.“ Golgotha, das Sühneopfer gilt als Sieg. In der Liturgie wird es festgehalten. Worauf es jedoch ankommt ist, dass es im praktischen Leben des gläubigen Menschen verinnerlicht wird, dass es als Aufruf zur Nachfolge Jesu akzeptiert wird.

Aus eben diesem Grunde sind Kreuzzüge für die christliche Botschaft etwas absolut Unerträgliches. Das Christentum ist eine Religion des Kreuzes, der Islam – wie viele politische Bewegungen – eine Religion des Schwertes. Es hat das römische Imperium in den ersten drei Jahrhunderten nicht durch Gewalt, nicht durch Terroranschläge erobert, sondern durch das Beispiel seiner Märtyrer und den Opfergeist seiner Familien.
Das beständige und intensive Gebetsleben ist ein Hinweis dafür, dass es im Herzen von Antonie brannte, Gott aus den Tiefen der eigenen Seele heraus zu antworten. Und der größte Beweis für eine große Liebe ist die Bereitschaft zur Sühne für die unendlichen Enttäuschungen, die der Mensch Gott bereitet hat.

Von den frühesten Jahren bis zum Bau der eindrucksvollen Sühnekirche in Wigratzbad zieht sich diese Einstellung wie ein roter Faden durch ihr Leben. Die Mystik von Wigratzbad ist Sühnemystik.

Eng damit verbunden ist die Pflege des Gewissens. Seit 200 Jahren erleben wir eine Demontage des Gewissens. Ganz zynisch hat es Adolf Hitler betrieben, als er sich als das „Gewissen der Nation“ bezeichnet hat. Die anderen brauchten nur zu gehorchen. Diese Erosion des Gewissens geht weiter, sie hat horrende Ausmaße angenommen. Über raffinierte Sprachregelung wurden Urbegriffe wie Sünde, Familie, Ehe, Vater, Mutter, Keuschheit, Liebe verfremdet, es wird ihnen ein anderer Inhalt unterstellt. Aus dem Gewissen wurde z.B. das Über-Ich mit negativem Beigeschmack.

Antonie ist – im Gegensatz zu diesem Trend – unter großen Opfern ihrem Gewissen treu geblieben, selbst wenn sie der Familie widersprechen musste. An ihr demonstriert der Himmel die große Verantwortung des einzelnen Menschen für sich und die Welt. Die Sühnekirche von Wigratzbad ist ein Monument des Gewissens, der Stimme Gottes im Menschen. Noch Paulus konnte sich vor fast 2000 und der große Augustinus vor 1600 Jahren darauf berufen, dass auch die Heiden ein Gewissen haben. Heute ist es bei vielen Christen verkümmert oder ausgelöscht. Glaube wird nach eigenem Gutdünken gelebt.

Am Schluss der charismatischen Befähigungen sei bei Antonie noch die Seelenschau genannt, eine Gabe, die heiligmäßigen Personen gegeben wird, um sie sicher durch den Dschungel menschlicher Verirrungen, Versuchungen und Fallen zu leiten. Inzwischen setzt man mehr auf die Psychologie und die Psychiatrie, mit meist zweifelhaftem Ergebnis, wie sich leicht aus dem allernächsten Umfeld belegen ließe. Bei Johannes lesen wir: „Jesus aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle und brauchte von keinem ein Zeugnis über den Menschen, denn er wusste, was im Menschen ist“ (Joh 2,24-25). Und in den Schriften der Visionärin Maria Valtorta sagt Jesus zu Petrus: „Traue nie der Zukunft eines Menschen.“ Etwas von diesem Wissen über den Menschen schenkt der Himmel auch mystischen Naturen. Gelegentlich wurde es bei Antonie beobachtet.
Dass Bischof Josef Stimpfle das Charisma Antonies erkannte, obwohl er der weitaus jüngste unter den drei Bischöfen war, die mit ihr zu tun hatten, legt die Vermutung nahe, diese Dimension des menschlichen Daseins müsse ihm aus eigener Erfahrung vertraut gewesen sein.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

Siehe weiter:



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