Unser übernatürliches Leben ist nichts Geringeres als das göttl. Leben. Es hat also seine Quelle in der heiligsten Dreifaltigkeit selbst, in deren Schoss uns Christus führt, das göttliche Wort, der Mittelpunkt unseres geistlichen Lebens.
«Alles ist durch es geworden und ohne es ist nichts geworden.» (Joh. 1, 3). Denn wir sind durch es geschaffen worden nach seinem Bild und Gleichnis (Gn. 1, 26) und dies schon zeigt uns unsere Abhängigkeit und unsere Grösse, wenn wir diese Abhängigkeit annehmen, wie wir es schuldig sind. Aber mehr noch durch die Tatsache der Menschwerdung des Sohnes sind wir nach seinem Bild geschaffen. «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.» (Joh. 1, 14). Aus Liebe zu uns und um unsere Sünden zu sühnen und uns von neuem am göttlichen Leben teilnehmen zu lassen, das wir verloren hatten, ist der ewige Sohn Gottes Mensch geworden. Und «allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden» (Joh. 1, 12). Das Wort ist Fleisch geworden, um in einem jeden von uns zu leben. Wir leben von seiner Gnade und wir folgen ihm als unserm Vorbild auf den Wegen der Vollkommenheit, indem wir uns ihm eingliedern in seinen mystischen Leib, die Kirche, und zwar derart, dass nicht mehr wir leben, sondern Christus in uns lebt (Gal. 2, 20). Wir vereinigen uns mit dem Opfer, das er darbringt, er, der einzige Priester; wir gehorchen den Geboten, die er uns gibt, er, der einzige König; und wir nehmen die Lehre an, die er uns bringt, er, der einzige Lehrer.
Diesen letzten Punkt wollen wir hier vertiefen, indem wir Jesus Christus als den einzigen Lehrer betrachten: das Amt, das er als einziger Lehrer und grosser Prophet von nun an innehat bis zum Ende der Zeiten, indem wir betrachten, in welcher Art und Weise wir heute seine Lehre annehmen können und müssen.
I. Der einzige Weg der Wahrheit
Christus ist also der einzige Lehrer, oder auch, was auf dasselbe herauskommt, da das, was er lehrt, von Gott kommt, der grosse Prophet im eigentlichen Sinn. Er ist das Licht, das in die Welt kommt und alle Menschen erleuchtet (Joh. 1, 9). Er lehrt sie in der Tat die barmherzige Liebe, die Gott ihnen entgegenbringt: ihren Loskauf und ihre Annahme als Brüder des menschgewordenen Wortes und Söhne Gottes. Er lehrt sie den Weg des Glückes: die Vereinigung mit Jesus in seinem Erlösungsopfer, die Nachahmung seiner Tugenden und vor allem die Liebe zu Gott und zu dem Nächsten.
Und all dies lehrt er mit Autorität: «Das Volk bewunderte seine Lehre; denn er lehrte wie einer, der Macht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten.» (Mt. 7, 28-29). In der Tat ist er mit aller Vollmacht Gottes bekleidet: «Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.» (Joh. 14, 6). Auch sehr misstrauische Hörer erkannten dies an: «Niemals hat ein Mensch gesprochen wie dieser.» (Joh. 7, 46). Schriftgelehrte und Pharisäer, in den schwierigsten und spitzfindigsten Diskussionen besiegt, sind durch sein Wissen und die Klarheit seiner Argumentation verwirrt. Seine zahlreichen Wunder beweisen die Wahrheit seiner Mission: «Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird die Frohbotschaft verkündet.» (Mt. 11, 5).
Unser Herr versichert es uns und er beweist es uns: Er ist die unfehlbare Wahrheit, die wir glauben müssen; er ist der Meister schlechthin: «Ihr habt nur einen Meister (Lehrer), nämlich Christus.» (Mt. 23, 10).
Die Kirche, begründet durch das Wort Gottes
Wir können nur vom göttlichen Leben leben, wenn wir uns mit Christus vereinigen, indem wir uns ihm eingliedern gemäss den Worten des heiligen Paulus. So begründet sich die Kirche, sein mystischer Leib, dessen Glieder wir sind und dessen Haupt er ist; er ist der wahre Weinstock und wir sind die Reben an ihm Diese Bilder bringen die innige Vereinigung der Christen zum Ausdruck, der Glieder der Kirche, mit ihrem Herrn und untereinander. Dass es sich hier um eine wesentliche Sache handelt, erklärt Christus ganz klar: «Wie die Rebe nicht von sich aus Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstocke bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.» (Joh. 15, 4). Anders ausgedrückt, ausserhalb des mystischen Leibes ist kein Heil. «Wenn einer nicht in mir bleibt und ich in ihm, wird er hinausgeworfen wie der Rebzweig und verdorrt. Man liest sie zusammen und wirft sie ins Feuer und sie verbrennen.» (Joh. 15, 6). Das ewige Feuer ist das schreckliche Los derer, die durch ihre eigne Schuld ausserhalb der Einheit der Kirche geflohen sind. Und deshalb hat unser Herr noch einmal, in einem feierlichen Augenblick, in seinem priesterlichen Gebet, das die Reden beim Abendmahl beendet, zu seinem Vater gesagt: «Ich bitte aber nicht allein für diese (die Apostel), sondern auch für die, die auf ihr Wort hin an mich glauben werden, dass alle eins seien wie Du, Vater, in mir und ich in dir; dass sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.» (Joh. 17, 20-21).
Diese Einheit umfasst viele Gesichtspunkte und er gibt diese Einheit seiner Kirche in vielfacher Weise, aber in erster Linie als Lehrer durch das Band der Einheit im Glauben. Denen, «die an seinen Namen glauben», gibt er die Macht, Kinder Gottes zu werden. Wir haben soeben gesehen, wie er für die gebetet hat, die «an ihn glauben werden». Die so tiefe Einheit der Kirche, die Harmonie der Willen, das Einvernehmen im Handeln beruhen notwendigerweise auf einem Einverständnis und einer Einheit der Intelligenzen im selben Glauben: «denn der Glaube ist das erste von allen Banden, die den Menschen mit Gott einigen, und ihm verdanken wir den Namen <Gläubige> — ein Herr, ein Glaube, eine Taufe (Eph. 4, 5) — d. h. ebenso wie sie nur einen Herrn und eine Taufe haben, so dürfen alle Christen in der ganzen Welt nur einen Glauben haben.» 21
Diese Glaubenseinheit beruht auf der Lehre Jesu, auf der Annahme dieser Lehre als einer Lehre, die von Gott selbst kommt: deshalb, weil wir glauben, dass er Gott ist, wie er es gesagt und durch sein Leben, seine Wunder, die Erfüllung der messianischen Prophetien bekundet hat, durch seinen Tod und durch seine Auferstehung — deshalb glauben wir, was er lehrt: er kann nicht sich täuschen und er kann uns nicht täuschen.
Indem wir dies glauben und die Taufe empfangen, sind wir seinem mystischen Leibe geeint, seiner Kirche beigestellt. Diese Kirche also ist gegründet und als die Eine gegründet durch das Wort Gottes, unsern Herrn Jesus Christus.
Die Kirche ist selbst das Wort Gottes
Wenn wir ein wenig weitersehen, was der Glaube ist, und wenn wir die Notwendigkeit der Einheit des Glaubens sehen, so sehen wir, wie Schwierigkeiten auftauchen. Jesus hat auf dieser Erde an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit gelehrt. Wie kann man zwanzig Jahrhunderte später sicher sein, mit Verstand zu glauben, was er gelehrt hat, und sicher sein, es in demselben Sinn zu glauben, in dem er es gelehrt hat? Seine Lehre ist wohl in Büchern aufgezeichnet. Aber die Geschichte zeigt zur Genüge, dass schon von Anfang an unter denen, die die einen oder die andern Bücher als von Gott eingegeben hielten, Spaltungen entstanden sind darüber, wie man sie auslegen sollte. So sagt schon Irenäus von den Häretikern im II. Jahrh.: «Sie bekennen die Schriften; aber sie verderben sie durch ihre Auslegungen.»22 Und der heilige Augustinus schreibt im IV. Jahrh.: «Der Ursprung der Häresien und dieser verkehrten Lehren, die den Seelen zum Fallstrick werden und sie in den Abgrund stürzen, ist einzig und allein darin zu finden, dass sie die Schriften, die gut sind, auf eine Art und Weise verstehen, die nicht gut ist. »23 Wie soll man erstaunt sein, wenn man sieht, wie sich der Fürst der Apostel darüber beklagt, dass gewisse seiner Zeitgenossen den Sinn der Briefe des heiligen Paulus verkehren.
Und in der Tat, wer sagt uns denn, dass diese Bücher von Gott eingegeben sind? Die Echtheit dieser göttlichen Inspiration braucht einen Zeugen und Garanten. Und wer überliefert uns den richtigen Sinn der Heiligen Schrift? Auch dafür war ein Interpret nötig! Ohne einen Zeugen, einen Garanten, einen Ausleger ist keine Einigkeit unter den Gläubigen von gestern und heute möglich, ist keine Treue gegenüber der Lehre des Herrn möglich, seit er in seiner Himmelfahrt zu seinem Vater zurückgekehrt ist.
«Gott wollte offenbar diese Einheit des Glaubens nicht, ohne dass er auf eine passende Art und Weise Vorsorge treffen wollte für die Bewahrung dieser Einheit »24 Deshalb gibt er den Aposteln zuerst als Grundlage die Mission, das Werk fortzusetzen, das er begonnen hat, und dies zuerst durch die Predigt, die Lehre des Wortes Gottes: «Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden. Gehet also hin und lehret alle Völker… und lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe.» (Mt. 28, 18-20).
Dieser Hinweis auf die allumfassende Macht zeigt wohl, dass die Apostel von nun an mit der Macht selbst bekleidet sind, die der Vater seinem Sohne übertragen hat. Sie sind also nicht die mehr oder weniger getreuen Propagandisten der Gedanken des Meisters, sondern seine wahrhaften Nachfolger, und damit sie diese Mission erfüllen können, verspricht er ihnen die Hilfen, ohne die sie diese nicht hätten erfüllen können: er verspricht ihnen den Beistand des Geistes der Wahrheit, der dritten göttlichen Person, die in der Trinität die Einheit zwischen dem Vater und dem Sohne besiegelt: «Wenn ich weggehe, werde ich ihn zu euch senden (den Beistand) … und wenn dieser Geist der Wahrheit gekommen sein wird, wird er euch alle Wahrheit lehren.» (Joh. 16,7-13); «und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen andern Beistand geben, damit er immer bei euch sei: den Geist der Wahrheit …» (Joh. 14, 16-17); «dieser wird Zeugnis von mir geben, und auch ihr werdet Zeugnis geben» (Joh. 15, 26-27).
Da sie den Beistand des Heiligen Geistes besitzen, muss man den Aposteln denselben Glauben entgegenbringen wie Christus: «Wie mein Vater mich gesandt hat, so sende ich euch.» (Joh. 20, 21); «Wer euch hört, hört mich. Wer euch verachtet, verachtet mich.» (Lk. 10, 16). Ihre Lehre ist also ganz und gar die Lehre Jesu Christi, sie ist ganz und gar das Wort Gottes, «bestätigt durch Wunder, die es begleiteten» (Mk. 16, 20).
Aber dann entsteht folgende Schwierigkeit: Die Mission unseres Herrn, fortgesetzt durch die Apostel, war eingesetzt für das Heil des Menschengeschlechtes. Er befahl ihnen, «das Evangelium aller Kreatur zu predigen» (Mk. 16, 15); «seinen Namen vor die Völker und Könige zu bringen» und «ihm als Zeugen zu dienen bis an die Enden der Erde» (Apg. 1, 8). Er versprach ihnen, «bei ihnen zu sein bis an das Ende der Welt» und wie der hl. Hieronymus schrieb: «Derjenige, der versprach, bei seinen Jüngern zu sein bis ans Ende der Welt, zeigt dadurch, dass seine Jünger immer leben werden und dass er niemals aufhören wird, mit den Gläubigen zu sein.»25 Nun, die Apostel sind gestorben. Damit die Mission, die dem Sohne vom Vater aufgetragen war, universal war, war es nötig, dass die Apostel sie ihrerseits weitergaben und dass sie von Generation zu Generation zu allen Menschen gelange. Und deshalb sehen wir, wie sie Bischöfe weihen und sie als unmittelbare Nachfolger «im Dienste am Wort» bestimmen Und deshalb sehen wir, wie sie verordnen, dass diese wiederum ihrerseits andere für diese Aufgabe auswählen müssen: «So sei denn du, mein Sohn, stark in der Gnade und vertraue das, was du von mir im Beisein vieler Zeugen gehört hast, zuverlässigen Leuten an, die geeignet sein werden, wieder andere zu lehren.» (2 Tim. 2, 1-2).
Unser Herr Jesus Christus hat also gewollt, dass die Kirche in der Person der Apostel, dann ihrer Nachfolger, der Bischöfe, die Mission, die er vom Vater hatte, weiterführe. Dies nennt man das Lehramt; es hat die Aufgabe, das Glaubensgut zu überliefern und zu erklären, das sich im Prinzip mit dem Tode des letzten Apostels vollendet, das aber doch zu allen Menschen gelangen muss bis zum Ende der Welt. Die Kirche, als die Eine durch die gelehrige Annahme des Wortes begründet, überliefert dieses Glaubensgut den Menschen aller Länder und aller Zeiten, um auch diese zur Einheit des Glaubens zu führen. Diese Menschen haben gegenüber dem lebendigen Lehramt der Kirche dieselbe Verpflichtung wie die Zuhörer gegenüber dem lehrenden Christus. Selbst heute gibt es nicht die Möglichkeit, an Christus zu glauben, ohne zu gleicher Zeit an die Kirche zu glauben, die uns Christus übermittelt: «Wer immer sich von ihr (= der Kirche) entfernt, entfernt sich vom Willen und Befehl unsres Herrn Jesus Christus, er verlässt den Weg des Heiles, er geht seinem Verderben entgegen. »26
Die Einheit, Kennzeichen der wahren Kirche Christi
Das Evangelium kommt zu uns durch die Kirche. Wäre es denn nun heute schwieriger zu glauben als gestern? Auch hier gibt es eine Schwierigkeit, die behoben werden muss. Diese Schwierigkeit ist für uns in besonderer Weise spürbar durch den Abfall des grössten Teils derer, die mit der Mission unseres Herrn Jesus Christus beauftragt sind. Indessen, dies ist nicht neu; wie kann man jedoch unter denen, die behaupten, seine Jünger zu sein, die wahre Kirche erkennen?
Gott lässt uns offensichtlich in dieser für unser Heil so ausschlaggebenden Wahl nicht ohne Hilfe. Es sind innere Hilfen: seine Gnade; ohne dass wir uns selbst bewusst sind, ist sie am Werk in unseren Herzen, um sie zu erleuchten. Es sind äussere Hilfen: Die wahre Kirche wird, auch in den schlimmsten Verwirrungen und Betrübnissen, immer die Zeichen der Echtheit ihrer Mission besitzen.27 Und zu diesen Zeichen gehört das Kennzeichen der Einheit: Unser Herr hat gebetet für diese Einheit, «damit die Welt glaube» an seine eigene Mission (Joh. 22, 21).
Man muss sich also vor allem dessen sicher sein, dass das Band der Einheit von denen, die sich Kirche nennen, sehr wohl bewahrt wurde. Wenn diese Einheit zerbrochen wurde, sei es durch die Annahme neuer Lehren, sei es durch den Bruch mit der apostolischen Nachfolge, sei es durch Trennung vom Nachfolger Petri, dann ist das nicht, trotz allem äusseren Anschein, der lebendige Leib der Kirche, der sich an uns wendet, sondern ein Leichnam: «Die Seele folgt keineswegs dem amputierten Glied. »28 Ein Leichnam kann uns nicht das Leben bringen und die Einheit, die er verloren hat. «Wer immer diese Einheit nicht bewahrt, bewahrt nicht das Gesetz Gottes, er bewahrt nicht den Glauben des Vaters und des Sohnes, er bewahrt nicht das Leben und auch nicht das Heil.»29
Derjenige, der mit Hilfe der Gnade Gottes darnach strebt, sich mit seinem Sohne zu vereinigen, kann sich also darin nicht täuschen: Christus ist nicht mehr in der neuen Kirche von heute wie er auch nicht in der Kirche Heinrich VIII. von England war oder in der mächtigen Sekte der Arianer zur Zeit ihres Höhepunktes. Das Kriterium der Einheit genügt, um dies zu zeigen.
Die Einheit und Unteilbarkeit des Glaubens
Man könnte sich indessen vorstellen, dass in diesen Sekten, die nicht mehr oder die nie die Kirche gewesen sind, sich noch ein gewisser Glaube findet, da in ihrer Lehre gewisse Elemente der christlichen Wahrheit fortbestehen.
Aber welches ist denn der Glaube, den Jesus Christus von seiner Kirche gefordert hat, und zwar unter Androhung von Belohnung oder ewiger Pein? Das ist wohlverstanden der Glaube an jene Wahrheiten, die er selbst gelehrt hat. Aber einen solchen Glauben zu fordern wäre unsinnig, wenn er nicht selbst gegründet wäre auf die Sicherheit, dass Gott es ist, der durch ihn spricht.
Wenn es Gott ist, der spricht, dann muss alles, was er lehrt, geglaubt werden. «In der Tat, sich weigern zu glauben Gott gegenüber, der zu uns spricht, und wenn auch nur in einem einzigen Punkt, steht im Gegensatz zur Vernunft.» 30 Die Zustimmung muss total sein. «Alles, was er befiehlt, befiehlt er mit derselben Autorität. Von der Zustimmung des Geistes, die er fordert, nimmt er nichts aus, macht er keinen Unterschied.»31 Und wie wir gesehen haben, ist der Glaube an Christus durch seine Kirche nicht von dem Glauben an Gott unterschieden; denn der Herr hat seinen Gesandten seine ganze Vollmacht übergeben. Derjenige, der unterscheiden und ausnehmen möchte, was es auch sei, in dem, was das einzige Lehramt der Kirche ihm zu glauben vorlegt oder ihm vorschreibt, im Namen Christi zu tun — das Lehramt, das von Christus beauftragt ist —, der beleidigt damit Gott, der zu ihm spricht und der ihm befiehlt. Er glaubt noch gewisse Dinge, das ist wahr; aber nach seinem eignen Gutdünken, nach seinem eigenen Gefühl; wenn er aber dies tut, bekundet er damit, dass er nicht mehr auf das Zeugnis Gottes hin glaubt, dass sein «Glaube» nicht mehr der wirkliche Glaube ist, dass er sich selbst vom Leibe Christi getrennt hat.
Von daher sieht man, bis zu welchem Punkt Vaticanum II die kath. Lehre entstellt, wenn es von den häretischen und schismatischen Sekten behauptet, dass «der Geist Christi sich nicht weigert, sich ihrer als Heilsmittel zu bedienen, deren Kraft aus der Fülle der Gnade und der Wahrheit fliesst, die der kath. Kirche anvertraut wurden». 32 Oder auch wenn es behauptet, dass ausserhalb des Organismus der kath. Kirche «man mehrere Elemente der Heiligkeit und der Wahrheit findet, die, als der Kirche Christi eigene Gaben, zur kath. Einheit hinstreben».33 Oder auch, wenn es bei der Darlegung der Lehre über die Ökumene «eine Hierarchie der Wahrheiten einführt wegen ihrer verschiedenen Beziehung zu den Fundamenten des christlichen Glaubens». 34
All dies geht hervor aus einem Missverständnis dessen, was der Glaube wirklich ist, wenn nicht gar von einem verkehrten Willen, den Glauben zu zerstückeln und ihn ungebührlich den Ungläubigen aller Art zuzuteilen.
Der Glaube ist einer: eine in der Tat ist die Kirche, die ihn uns überliefert, eine in Raum und Zeit, eine mit Christus, da sie ja dessen Fülle und Gemeinschaft mit ihm ist.
Diese Einheit ist immer noch zu vervollständigen in dem Sinne, dass, bis zum Ende der Welt, Menschen übrigbleiben, die in die Kirche zu führen sind. Aber bei all denen, die jetzt Glieder Christi sind, besteht diese Einheit schon, besiegelt durch den Heiligen Geist: Wir sind eins mit unserm Herrn, wie er und sein Vater eins sind, weil wir an ihn glauben.
Die Natur des Glaubens legt es den Gläubigen auf, sich vor Gott zu beugen, der durch seinen Sohn und seine Kirche spricht.
Solcherart muss die erste und hauptsächlichste Bewegung unseres Vera standes sein in den religiösen Dingen.
II. Der Verstand im Dienste des Glaubens
Der Verstand muss sich also zuerst und immer dem Glauben unterstellen, den ihm das Lehramt unterbreitet. Will man damit sagen, dass der Gläubige in religiösen Dingen aufhören soll, seinen Verstand zu benutzen? Das ist niemals weder die Lehre noch das Tun der Kirche gewesen. Daher muss genauer gesagt werden, auf welche Weise das christliche Denkvermögen sich um die Glaubensgegebenheiten bemühen muss. Dies führt uns dazu, zunächst die Rolle der Theologie (Lehre von Gott) zu untersuchen, d. h.: das Erforschen der geoffenbarten Wahrheit.
Die Theologie in der Kirche
Wir wollen hier nicht all das wiederholen, was in einem vorausgegangenen Beitrag35 über die Beziehungen zwischen dem Verstand und dem Glauben gesagt worden ist. Dennoch wird man sich erinnern, dass der Verstand in der Annahme selbst des Glaubens eine Rolle spielt, dessen natürliche Grundlage er darstellt: Man glaubt, weil man es mit der Gnade Gottes für vernünftig hält zu glauben, gemäss diesen «sehr sicheren und dem Erkenntnisvermögen aller angemessenen Zeichen» 36, welche die äusseren Beweise der Offenbarung sind.
Aber die Rolle des Verstandes endet damit nicht. Das Vatikanische Konzil hat in seiner Konstitution (gesetzl. Anordnung) über den katholischen Glauben in einigen Worten zusammengefasst, was ihm noch möglich ist, und zeigt seine Grenzen auf: «Wenn der Verstand, vom Glauben erleuchtet, mit Sorgfalt, Ehrfurcht und Mässigung sucht, gelangt er mit der Gnade Gottes zu einer sicheren, sehr fruchtbringenden Erkenntnis der Geheimnisse, sei es dank der Entsprechung mit den Dingen, die er natürlicherweise kennt, sei es dank den Verbindungen, welche die Geheimnisse unter sich und mit dem letzten Ziel des Menschen verbinden. Dennoch wird er nie fähig, sie zu durchdringen wie die Wahrheiten, die seinen eigentlichen Gegenstand darstellen …» (Dz. 1796).
Auf diese Weise können wir fortschreiten in der Kenntnis der göttlichen Dinge. Mit Ehrfurcht; denn die heilige Lehre ist nicht dazu bestimmt, eine eitle Neugier zu nähren, sondern uns mit Gott zu vereinen. Mit Sorgfalt; denn man behandelt das Wort Gottes nicht leichtfertig. Mit Mässigung; denn wir werden die Glaubenswahrheiten nur in der beseligenden Anschauung wahrhaft durchdringen. Und dennoch werden wir von ihnen eine «sehr fruchtbringende Erkenntnis» erlangen können: dieses Forschen ist nicht nutzlos, erlaubt uns aber, mit Gottes Hilfe im Glauben zu wachsen, in einem lebendigen und handelnden Glauben, durch den wir sicherer dem Heile entgegengehen. In der Tat, indem wir tiefer in die Geheimnisse eindringen, ersehen wir daraus besser z. B. alle Folgen für uns, wir wappnen uns gegen die Zweifel und die verschiedenartigen Versuchungen, die uns überkommen können werden, wir bereiten uns darauf vor, die christliche Lehre anderen besser auszulegen und sie der Bekehrung zuzuführen.
Auf diese Weise auch ist vor uns die ganze Kirche im Glauben fortgeschritten. Die Kirche hat niemals den menschlichen Verstand missachtet; sie hat im Gegenteil immer die geehrt, die, indem sie mit Demut (Dienmut!) die Wahrheit annehmen, die sie ihnen zu glauben vorstellt, ihren Verstand in ihren Dienst stellen und so ihre Gaben und Fähigkeiten dazu benutzen, die Kenntnis der heiligen Lehre zu mehren und sie gegen die Angriffe ihrer Feinde zu verteidigen zum grösseren Wohle aller. «Die Kirche hat immer nicht nur die ersten Väter und Gelehrten, sondern auch die Schriftsteller aller Zeiten geehrt, die geforscht und Bücher veröffentlicht haben, um die Wahrheit zu verbreiten, um sie zu verteidigen gegen Angriffe der Ungläubigen und die volle Übereinstimmung des Glaubens und des Verstandes zur Geltung zu bringen.»37
Treu zur Überlieferung und Fortschreiten des Dogmas
Es könnte scheinen, dass es einen Widerspruch gebe zwischen einesteils der Demuthaltung, die darin besteht, vom Lehramt das Glaubensgut zu empfangen und es unversehrt zu bewahren, und anderenteils in dem Willen, in der Kenntnis der Wahrheit fortzuschreiten.
Dennoch gibt es einen Schritt, entsprechend dem des Gelehrten, der, um die Gesetze der Wirklichkeit, die er erforscht, zu entdecken, zuerst diese Wirklichkeit so, wie sie ist, annehmen muss ohne die Absicht, ihr hinzuzufügen oder von ihr abzutrennen, was auch immer es sei. Man wird nie genug begreifen, dass für den Theologen vom Fach wie für den ernsthaften Christen die Treue zur Überlieferung das Gleichwertige der Wirklichkeitstreue in den weltlichen Dingen ist: Man schreitet in der Kenntnis der Angelegenheiten Gottes nicht vorwärts, indem man mit seinem Wort handelt oder es ablehnt, wie man in der wissenschaftlichen Kenntnis nicht fortschreitet, indem man die Beobachtung und den Versuch verwirft.
Das Wort Gottes ist nicht mehr zu entdecken oder zu bestätigen, aber, wenn man es ganz und gar angenommen hat, bleibt immer alles zu erforschen, was darin eingeschlossen ist: nicht, um etwas hinzuzufügen, weil mit dem Tode der Apostel die Offenbarung ja abgeschlossen und alles, was zu glauben ist, in der Lehre eingeschlossen ist, die sie der Kirche gegeben haben — «Der Glaube ist den Heiligen ein- für allemal übergeben worden» (Jud. 3) — nicht einmal, um darin Wahrheiten wiederzufinden, die sich seither verdunkelt hätten, denn die Kirche kann niemals in ihrem Auftrag versagt haben, und der göttliche Beistand, der ihr versprochen worden ist (Mt. 28, 18-20), kann ihr nicht gefehlt haben; auch nicht, um den Glaubenssätzen einen anderen Sinn zuzulegen als denjenigen, den die Kirche immer verstanden hat; auch nicht mit der Anmassung, dem einfachen Verstand die unergründbaren Glaubensgeheimnisse einsichtig zu machen. Alle diese Versuche sind durch die Kirche Christi verurteilt worden, die «als sorgsame und aufmerksame Hüterin der Glaubenslehren, die ihr anvertraut sind, niemals etwas daran ändert, nichts davon wegnimmt, niemals etwas hinzufügt ».38 Worin also kann dieses Vertiefen des Glaubensschatzes bestehen? Darin, alles, was er immer in sich schloss, zu verdeutlichen und zur Geltung zu bringen, Folgerungen zu ziehen aus den Grundsätzen, die er enthält. Auf diese Weise, aus schlichter Liebe zur Wahrheit, um wesentlich die Ehrfurcht zu nähren oder um diese oder jene wirkliche Schwierigkeit zu lösen, oder auch noch, um auf diesen oder jenen Einwand zu antworten, durchforschen die Christen, und insbesondere die Theologen, den Glaubenslehrsatz und gewinnen dadurch eine immer tiefere Kenntnis von ihm Aber, vergessen wir das nicht, da ist noch das Lehramt, das dieser geistigen Arbeit seine Zustimmung gibt, indem es ihre Ergebnisse zu den seinigen macht und zum Gegenstand von feierlichen Entscheidungen des Papstes (Definitionen), die den Gläubigen ausdrücklich zu glauben unterbreitet werden.
Der hl. Vinzenz von Lerins hat diese Lehreentfaltung in prächtigen Ausdrücken in Worte gefasst, welche die Kirche übernommen hat: «Es ist demnach nötig, dass das Einsichtvermögen und die Weisheit eines jeden der Christen und aller, für einen einzelnen Menschen wie für die ganze Kirche, breit und kraftvoll wachsen und fortschreiten mit dem jedem Alter und jeder Zeit eigenen Mass, vorausgesetzt, dass sie ihrer Ordnung gemäss wachsen, d. h.: im selben Sinn, im selben Glauben und im selben Geist.»39
Die Treue zur Überlieferung ist also nicht ein Veraltetsein, ein unfruchtbares Starrsein, wie sie es bei den morgenländischen Abgespaltenen geworden ist. Sie entfaltet sich in einem kraftvollen Wachsen, d. h.: in einem reichen und starken, das nichts zu fürchten hat, sich den Schwierigkeiten der Zeit zu stellen — ganz im Gegenteil, denn «es ist gut, dass es Irrlehren gebe» (1. Kor. 11, 19) —, denn dies ist das Wachsen des Wortes Gottes in seiner Kirche.
Aber vielleicht wird man noch besser begreifen, was die geistige Haltung des Christen in bezug auf den Glauben sein muss, indem man mehrere Arten von Abweichungen überprüft.
Die befreite Theologie
Der hl. Pius X. hat sehr gut in seinem Rundschreiben «Pascendi» beschrieben, was die Modernisten verstehen unter der Entwicklung des Dogmas (des Glaubenslehrsatzes), die völlig der katholischen Lehre entgegensteht, an die wir soeben erinnert haben. Für sie handelt es sich nicht mehr um ein Fortschreiten des Dogmas, sondern um ein Entwickeln: «entwickeln und ändern, das kann das Dogma nicht nur, das muss es …». Und diese Entwicklung, geboren aus dem «Bedürfnis, sich den geschichtlichen Umständen anzupassen, sich auszugleichen mit den bestehenden Formen der bürgerlichen Gesellschaften, entstammt dem Widerstreit zweier Kräfte, deren eine zum Fortschreiten drängt, wogegen die andere zum Bewahren strebt. Die bewahrende Kraft in der Kirche ist die Überlieferung, und die Überlieferung wird vergegenwärtigt durch die religiöse Obrigkeit, die, indem sie die Lebensbereiche überblickt, nicht oder nur sehr wenig die Anreize zum Fortschritt spürt. Die fortschrittliche Kraft demgegenüber, die diejenige ist, die auf die Bedürfnisse antwortet, nistet und gärt in den persönlichen Bewusstseinshaltungen, und in denen vor allem, die in enger Berührung mit dem Leben stehen … Nun, aufgrund einer Art von Vergleich und von Übereinkommen zwischen der bewahrenden Kraft und der fortschreitenden verwirklichen sich die Veränderungen und die Fortschritte. Es kommt dazu, dass die persönlichen Gewissen, zumindest gewisse, auf das Massengewissen hin handeln: dieses seinerseits übt Druck aus auf die Treuhänder der Amtsgewalt, bis sie schliesslich zu einem Vergleich kommen; und nach Vertragsabschluss wacht es über seine Einhaltung.» Die Wahrheit kommt also nicht mehr von oben, sondern entsteht unten. Unterstreichen wir mit dem hl. Pius X., dass diese Auffassung das planvolle Vorgehen der Modernisten erklärt: in der Kirche bleiben und sie verändern!
Dieses planmässige Vorgehen haben sie angewendet mit dem Erfolg, den man kennt. Und jetzt ist die Freiheit des Theologen ein bevorzugter Leitsatz der derzeitigen Modernisten, die Rechtfertigung ihrer herablassenden Verachtung für die Hierarchie (kirchliche Rangordnung). Der «Theologe in Freiheit»,40 als welchen sich z. B. P. Chenu ausgibt, glaubt sich «geeigneter für das reine, freie Zeugnis als der Mensch mit Macht», d.h.: geeigneter für das Zeugnis als der Zeuge, den ihm unser Herr Jesus Christus vorsetzt. Er zögert nicht, den Sendungsauftrag völlig umzukehren, der den Nachfolgern der Apostel anvertraut worden ist: Für ihn ist der Theologe der Mensch, der «in einer Unabhängigkeit vom Lehramt das Gewissen der Gemeinschaft ist (…), das prüfende Gewissen der Welt in Glaubensarbeit (…). Der Theologe beobachtet das Wort Gottes bei der Arbeit in der Gemeinschaft.» Er ist, er «muss sein Prophet durch eine Art von Abtasten der Welt in Bewegung». Die Arbeit der Hierarchie ist nur ein Überbau: «Ich entdecke das Wort Gottes nicht in Reihen von durch ein Lehramt gelehrten Aussagen, sondern, wäre es auch quer durch die Verschlüsselung durch dieses Lehramt, ich lese es im Handeln, im Aufbrausen in einem Volk (…); die Theologie zieht ihre Kraft aus ihr selber und nicht von einer Einrichtung», versteht sich: von der bischöflichen Gesamtheit.
Es ist zwecklos, auf dem Verwerfen des wahren Glaubens zu verharren, das ungestraft so ausgesprochen wurde durch einen der «Lehrer» des konziliaren Denkens. 41 Zwecklos auch, zu beharren auf dem Verwerfen seiner Sendung durch die solchen «Fachleuten» unterworfene Bischofschaft.
Demgegenüber muss man die Wurzel dieser Abtrünnigkeit unterstreichen: die Widerstreitspitzfindigkeit zwischen dem theologischen Wissen und der hierarchischen Macht macht es dem Theologen leicht: Die Macht, dargestellt als ein Zügel, ein Verzögerer, ist insgesamt nur ein notwendiges Übel, um in dem allgemeinen Gären ein wenig Ordnung zu schaffen; das Wissen hingegen, wesensgemäss frei, vorgehend auf die Entwicklung, ist das edle Werkzeug. Selbst wenn er von der Hierarchie verurteilt, von dem unwissenden Volk wie ein Ausgestossener behandelt wird, der Theologe weiss, und weiss, dass er recht hat gegen alle! Eine schmeichelhafte Lage für einen Intellektuellen (Verstandes’ menschen) und gar nicht so unangenehm im schlimmsten der Fälle! Denn der Verstandesmensch, selbst nebenbei, der sich gegen die Macht erhebt, behält die Wertschätzung der ihm Gleichwertigen. Es gibt in der neuen Kirche eine Partei von Theologen, wie es in unserem Lande eine Klasse von Verstandesmenschen gibt, welche die gleiche Rolle spielt wie jene: herrschen, ohne die Wechselfälle der Machtausübung zu kennen! Wieso wäre diese Partei nicht vor allem die des Stolzes?
Aber der Stolz ist nicht das Erbvorrecht der Modernisten. Er lauert auf alle diejenigen, die, indem sie zu sehr ihrer Geschicklichkeit vertrauen, die wahre Stellung des Verstandes, des Dieners des Glaubens, vergessen, der sich dem Lehramt unterstellen muss, dem einzigen Bürgen seiner Echtheit. So sieht man die sogenannten Traditionalisten sich in nützliche theologische Zurechtmachungen verirren, die jedoch ohne Grundlage in der Offenbarung sind. Indem sie sich der vom hl. Vinzenz von Lerins ausgesprochenen Glaubensregel: «Man muss für wahr halten, was überall, immer und von allen geglaubt worden ist» 42 bemächtigen, zögern sie nicht, diese anzurufen gegen das Lehramt im Namen der Überlieferung, wie wenn das Lehramt nicht deren einziger beglaubigter Zeuge wäre! Der Richtsatz des hl. Vinzenz von Lerins, sicherlich sehr nützlich, um sich vor neuen Irrlehren zu bewahren, die auftreten und vom Lehramt noch nicht verurteilt worden sind, kann nicht gegen das Lehramt selber gelten, dessen Tätigkeit eben genau die ist, weiterzugeben, und zwar unfehlbar weiterzugeben, «was überall, immer und von allen geglaubt worden ist». 43 Es ist völlig unmöglich, wie gewisse, es zu tun, nicht zögern, «die Kirche eines Tages» der «Kirche von immer» entgegenzustellen! Die Kirche eines Tages, die mit der Kirche von immer gebrochen hat, ist nicht mehr die Kirche! Es ist unsinnig und gotteslästerlich, zu behaupten, ihre Führer als die Nachfolger der Apostel verehren zu wollen, vor allem, wenn man ihre behauptete Machtbefugnis täglich lächerlich macht!
Angst vor dem Verstand, erstarrte Geisteshaltung undfreie Gewissensforschung
Die «freie Theologie», oder vielmehr die anarchistische (gesetzlose), findet ihr Gegenstück in den Haltungen, die trotz dem Anschein genau so gefährlich für den Glauben sind. Man muss hier wohl einen bei den Traditionalisten sehr verbreiteten Geisteszustand aufzeigen. Einen Geisteszustand, den man als talmudisch bezeichnen könnte, denn er drückt sich zuerst durch ein ungezähmtes Kleben am Buchstaben aus, diesem Buchstaben, der tötet, wenn man eifrig betreibt, ihn vom Geist zu trennen, wenn man eifrig seinen Sinn nicht zu beachten strebt. Einen Geisteszustand, der an den der Pharisäer erinnert, die sich vor allen Dingen zu rechtfertigen suchten, indem sie ihre Haltung peinlich genau auf die unbedeutendsten Gesetzesvorschriften ausrichteten. Auch unsere heutigen Pharisäer schränken ihre Religion auf Ausübungen ein, die sie für sie selber fruchtlos und für die anderen verabscheuungswürdig machen, «indem sie die wichtigsten Punkte des Gesetzes vernachlässigen: die Gerechtigkeit, die Barmherzigkeit und den guten Glauben» (Mt. 23, 23); indem sie ganz überlegt das nicht beachten, nach dem alles eingerichtet werden muss: die Gottes- und die Nächstenliebe (Mt. 22, 34-40).
Sagen wir es deutlich! Die Glaubenssätze der hl. Kirche, unserer Mutter, sind nicht leere Redewendungen, die zu wiederholen genügt; wir müssen auch den Sinn ergründen, um darin unser Handeln zu befestigen, und nicht den lügnerischen Worten derer trauen, die sich damit begnügen, wie die Zeitgenossen des Jeremias zu sägen: «Hier ist das Haus Gottes, das Haus Gottes, das Haus Gottes!» (Jer. 7, 4). Wir müssen uns hierfür unseres Verstandes bedienen! Wir können das, was heute geschieht, nicht verstehen und ihm zufolge handeln ohne ein Geringstes an Erforschen unserer Religion und der Welt, die uns umgibt, und ohne eine unseren Fähigkeiten entsprechende geistige Anstrengung! Die talmudische Geisteshaltung aber behindert diese Anstrengung! Sie führt in die Bequemlichkeit stets gleichbleibender Handlungsweisen ein, um der Pflicht zu entkommen, sich des Verstandes zu bedienen! Noch schlimmer: Heuchlerisch stellt sie den Glauben dem Verstande entgegen, stolz die behandelnd, die sich nicht an seine Moral ohne Grundlage halten wollen!
Man vergisst zu oft, dass die Unterwerfung des Verstandes unter den Glauben «nicht die eines Sklaven ist, der keinerlei Recht noch Macht behielte. Die Unterwerfung ist selbst die nicht eines gewöhnlichen Hausknechtes, sie ist die eines bevorrechteten und für den Dienst seines Herrn geadelten Untertans … Nirgendwo verwirklicht sich besser die Wahrheit dieses Wortes: «Servire Deo regnare est.»44 Ist nicht wahr, dass viele sich davor fürchten, der Verstand herrsche im Dienste Gottes? Ist es nicht wahr, dass viele sich gefallen im Nichtwissen, gedrängt von gewissen Priestern, von jeder persönlichen verstandesmässigen Anstrengung abzurücken? Heisst so zu handeln, nicht, das Talent vergraben, und mehr als ein einziges Talent: den ganzen Reichtum des Glaubensschatzes, der bestimmt ist, in den Seelen Früchte zu tragen?
Diese Geisteshaltung wird, wenn nicht geschaffen, in der Tat zum mindesten unterhalten und ausgenutzt durch viele «Anführer», um zu beginnen mit Mgr. Lefebvre, der z. B. diese unglaubliche Losung ausgab: «Ohne uns um alles zu sorgen, was heute um uns herum geschieht, sollten wir die Augen verschliessen vor den Schrecken des Dramas, das wir erleben, die Augen schliessen, unser Credo bejahen, unsere Zehn Gebote, nachsinnen über die Bergpredigt, die gleicherweise unser Gesetz ist, uns dem hl. Messopfer anschliessen, uns den Sakramenten anschliessen in der Erwartung, dass das Licht um uns herum von neuem aufleuchte. Das ist alles ! »45 Die Augen schliessen! Das ist alles! Man kann sagen, dass diese Weisung weithin befolgt worden ist von anderen freiwillig Blinden, miteinander unterwegs auf die Grube zu (Mt. 15, 14), unfähig, irgendjemandem den Grund für ihren Widerstand anzugeben. Einige Schlagwörter dienen als Verstandesersatz: «die Religion unserer Kindheit», «die Messe meiner Priesterweihe» usw. Aber was versteht man darunter? Wenn man nicht klar sagt, gegen wen und gegen was man sich schlägt, wenn man zögert, die häretische Eigenart der neuen Religion zu bestätigen, den Abfall ihrer Leiter aufzuzeigen, wenn man darauf beharrt, ihnen die Amtsgewalt von Nachfolgern der Apostel zuzuerkennen, gibt man zu verstehen, dass man die vergangenen Praktiken (Ausübungen) nur beWahrbewahrt eine Art von Altertumskunde, durch «diese übertriebene und gefährliche Leidenschaft für alte Dinge», die Pius XII. aufzeigte.46 Man gibt zu verstehen, dass man «sich so die Freiheit anmasst, sich selber Richtlinien zu geben und wie sein eigener Herr anderen aufzuerlegen»47 in einem Bereich, in dem allein der Papst das Recht hat, einzugreifen. Und so führt der Fixismus, die talmudische Geisteshaltung, zum freien Erforschen, führt er unmerklich der Spaltung zu.
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Weniger als je kann heute jemand sich zufriedengeben mit dem, was man gemeinhin den Köhlerglauben nennt. Diese abscheuliche Bezeichnung verbirgt am häufigsten eine schuldhafte Faulheit; denn es heisst schwer sündigen, im unklaren zu bleiben über die christlichen Wahrheiten, wenn ihr ruhiger Besitz täglich in Frage gestellt wird durch die wirklichkeitsfremde Herabsetzung mittels der Nachrichtenmittel oder ganz einfach durch den umgebenden Lebenskreis, Eltern und «Freunde» eingeschlossen.
Unermesslich ist in dieser Hinsicht das durch so viele untadelige Priester unwissentlich begangene Übel, die Veröffentlichungen voller guter Absichten, d. h. guter Ratschläge, verbreiten, aber den Gläubigen abraten, die schwerwiegenden Fragen beantworten zu wollen, denen sie gegenübergestellt werden. «Wir sind keine Theologen!» sagen sie ihnen, «entzweien wir uns nicht wegen zweitrangiger Fragen!» Die Früchte dieser Geisteshaltung sind rings um uns sichtbar. Man leistet Widerstand, ohne zu wissen, gegen was und warum! Man verbleibt bei schlecht untermauerten persönlichen Meinungen über Punkte, wo die allereinfachste Gewissenhaftigkeit das Suchen nach einer wahrhaften Sicherheit fordert! Man gleitet unbemerkt der Spaltung und der Irrlehre zu, mangels des Wissens dessen, was die Kirche zu glauben auferlegt, mangels des Wissens, welchen Gehorsam sie von den Christen verlangt! Es braucht dann nur eine stärkere Versuchung zu kommen in Gestalt einer persönlichen Prüfung oder des Abfalls, des Versagens eines «Führers », dem man blindlings folgte, und der Sturz ist da: man ist aus der Kirche draussen! Der Glaube geht durch nur ein einziges Handeln gegen den Glauben verloren! Aber diesem Handeln sind ungezählte Verfehlungen vorausgegangen durch eine schuldhafte Faulheit im Erforschen der christlichen Lehre, was das Einsichtvermögen ohne Verteidigung gegen die Vorspiegelung lässt.
Demgegenüber muss die Intelligenz wieder zu Ehren gebracht werden. Nicht die ihren Kräften allein überlassene menschliche Intelligenz, sondern die christliche, durch den Glaubensgehorsam unvergleichbar überhöhte, durch die Gnade Gottes eines immer wachsenden Fortschreitens in der Kenntnis der Glaubensgeheimnisse fähige! Von diesem Fortschreiten zeugt die ganze Geschichte der Kirche. An diesem Fortschreiten teilzunehmen gemäss dem Geschenk Gottes, jedoch nicht ohne einige Anstrengung unsererseits, lädt sie uns alle ein, um seine Erleuchtungen zu empfangen.
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21 Leo XII., Enzyklika “Satis Cognitum”.
22 Adv. Haeres., lib.III, c. XII, n.12.
23 In Evang. Joan…. tract. XVIII, c. V, n. I.
24 Leo XIII. loc. cit.
25 In Matth., HV, c. XXVIII, v. 20.
26 Leo XIII, loc. cit.
27 siehe Fortes in Fide Nr. 16, S. 82, «Zeichen für die Völker», wo wir klar gezeigt haben, dass die Kennzeichen der Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität sich nicht in der neuen Kirche fanden, sondern in dem weiterbestehen, was von der kath. Kirche übrigbleibt.
28 Hl. Augustinus, Serm. CCLXVII, n. 4.
29 Hl. Cyprian, De Cath. Eccl. unitate, n. 6.
30 Leo XIII. loc. cit.
31 Leo XIII., loc. cit.
32 Dekret über den Ökumenismus.
33 Konstitution «Lumen gentium». Noch neueren Datums, Joh. Paul II.: «In unserem Dialog mit dem lutherischen Weltbund haben wir begonnen, die tiefen Bande wiederzuentdecken, die uns im Glauben einen und die verdeckt waren durch die Polemiken (Streitereien) der Vergangenheit.» (8. Febr. 1980). Der hl. Robert Bellarmin, der hl. Franz von Sales hätten also durch ihre Polemiken (unfruchtbar, wie jeder weiss) die tiefe Einheit verdeckt, die immer zwischen der kath. Wahrheit und den häretischen Ausgeburten des Geistes bestehen!
34 Dekret über den Ökumenismus.
35 «Zeugnis geben von der Wahrheit», Forts dans la Foi, No 3 N.S.
36 Denz. 1790.
37 Hl. Pius X., Rede beim Universalkongress, 10. Mai 1909.
38 St. Vinzenz von Lerins, Commonitorium, 16.
39 Vatikankonzil, 3. Sess., Konstitution De Fide, Kap. 4.
40 Die folgenden Zeilen sind Auszüge von P. Chenu: «Ein Theologe in Freiheit», Centurion 1975.
41 P. Chenu schrieb jüngst das Vorwort zu einer französischen Ausgabe der letzten Enzyklika von Johannes Paul II. «Laborem exercens».
42 Commonitorium II, Kap. 23.
43 Unsere ecönischen Leser mögen sich daran erinnern, dass der Modernist Brunetière wie sie den lerinischen Kanon anrief gegen das Lehramt (Vorwort zur Ausgabe des Commonitorium von de Labriolle, S. 41).
44 «Gott dienen, heisst herrschen»; M.J. Scheeben: Die Geheimnisse des Christentums; D. D. B. 1947.
45 Predigt S.E.Mgr. Marcel Lefebvre gelegentlich des 30. Jahrestages seiner Weihe zum Bischof, 1. September 1977.
46 Enzyklika «Mediator Dei».
47 Ebenda.
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Quelle: “FORTES IN FIDE”, Nr. 19, Jahrgang 1982, Seiten 16-33
