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Wie Unsere Liebe Frau von Einsiedeln einen stummen Knaben heilte

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Im Stiftsarchiv von Einsiedeln wird ein handgeschriebe­nes sogenanntes Mirakelbuch gehütet. Der Bericht über die Heilung des stummen Knaben befindet sich im III. Teil desselben, Seite 62 bis 69. Dieser III. Teil wurde am 1. August 1619 vom apostolischen Protonotar Jakob Hauser, Dekan und Pfarrer von Zug, revidiert und rich­tig befunden unter Beihilfe des öffentlichen geschwore­nen Notars Leonhard Zinkh.

Am 31. Oktober 1618 bemerkte der Sakristan in der Gnadenkapelle einen ungefähr 14 oder 15jährigen Kna­ben. Dieser kniete, in tiefe Andacht versunken, vor dem Gnadenbild, neben sich auf dem Boden eine Schelle. Der Bruder löschte die Kerzen und schickte sich an, die Kapelle zu schließen, aber der Knabe schien dies nicht zu bemerken. Da zupfte ihn der Bruder und hieß ihn aufstehen. Dieser folgte nur ungern der Bitte, so sehr schien ihn die Mutter Gottes zu fesseln. Mit feuchten, glänzenden Augen schaute er nochmals zu ihr auf, als der Sakristan den Schlüssel ins Schloß steckte, nahm die Schelle und verließ das Heiligtum. Ob er stumm sei, fragte der Klosterbruder. Es war nämlich Brauch, daß Stumme eine Schelle mit sich trugen, die sogenannte Stummenschelle. Der Knabe schüttelte den Kopf und sag­te: «Jetzt nicht mehr.» Erstaunt forschte der Bruder wei­ter, und erfuhr das wunderbare Erlebnis des armen Buben Kaspar Hiltbrunner. Er nahm ihn mit sich in die Pforten­stube. Kaspar wollte aber zuerst beichten. Also führte der Bruder ihn zum Beichtvater Pater Benedikt Ammann. Erschüttert über das Wunder, welches die Gnadenmutter an dem Knaben gewirkt, wollte Pater Benedikt, daß der Geheilte es vor mehreren Zeugen außerhalb des Beicht­stuhles berichte, und führte ihn zur Pfortenstube. Hier versammelten sich rasch einige angesehene Personen. Und nun fragte ihn der gelehrte und ehrwürdige Pater Benedikt nach Herkunft und Namen und nach seinem Erlebnis. Es wurde still wie in der Kirche, als der arme Knabe erzählte, denn er konnte wirklich zum erstenmal in seinem Leben reden wie jeder normale Mensch. Von Geburt an war er stumm gewesen bis zur letzten Nacht. In Einfalt und Aufrichtigkeit antwortete Kaspar auf alle Fragen, die Pater Benedikt an ihn richtete. Man ver­nahm, daß er ein Waisenknabe war aus dem Luzerner-biet, vom Kleinkind an stumm gewesen und seine guten, aber armen Eltern beide verloren hatte. In Ettiswil war er getauft worden. Als Vater und Mutter gestorben wa­ren, mußte das arme Kind, um leben zu können, Almosen sammeln. Und so zog Kaspar mit seiner Stummenschelle von Hof zu Hof. Er fand viele mitleidige Menschen; überall liefen die Kinder zusammen, wenn seine Schelle zu hören war. Aber wie sehr der gute Knabe unter sei­nem Gebrechen litt, konnte er niemandem klagen. Nur im Kirchlein von Ettiswil, wo das heiligste Sakrament durch ein Wunder sich kundgetan, kniete Kaspar oft und betete in der Sprache seines Herzens und flehte auch zur lieben Mutter Gottes, daß sie für ihn sorge. Wie mag er ihre Mutterliebe gespürt haben in all seiner Einsamkeit! Sie, die beste aller Mütter, wandte ihr Auge nicht ab von ihm und ließ es geschehen, daß ihm einige fromme Leute rieten, nach Einsiedeln zu pilgern. Ihr Glaube an die Macht der Gottesmutter war unbegrenzt. Einsiedeln war der große Anziehungspunkt all jener, die ein besonders schweres Kreuz trugen. Unsere Liebe Frau von Einsie­deln hatte schon Unzähligen geholfen. «Kaspar», so rie­ten jene von Ettiswil, «mach dich auf den Weg zur Gna­denmutter. Sie kann dir die Rede erbitten. Glaub es nur!» Der schüchterne stumme Knabe faßte Mut, denn es brauchte wirklich Mut für ihn, den «Redelosen» und Armen, eine so weite Pilgerschaft zu unternehmen. Als er wieder in der Kapelle zu Ettiswil betete, drängte es ihn mächtig, eine Wallfahrt «zu Unseren Lieben Frauen gen Einsiedeln» zu geloben. Nicht lange nachher machte er sich mit seiner Stummenschelle auf den Weg. Wenn es ihn hungerte, schüttelte er seine Schelle vor einem Bauernhof. So kam er gegen Luzern und verließ die Stadt, als bald der Abend hereinbrach. Eine Stunde mochte er gelaufen sein, als es anfing zu dunkeln. Da sah er sich in Unter-Meggen nach einem Stall um für die Nachtherberge. Er machte sich in einer Ecke auf einem Strohhaufen sein Lager zurecht und ließ sich müde darauf nieder. Da vermeinte er, jemanden zu hören und stand wieder auf. Licht hatte er keines. Aber auf einmal stand vor ihm ein schneeweißer Mann. Er erschrak. Der schneeweiße Mann trat auf ihn zu und berührte seinen Mund. Da sei ihm gewesen, als ob in seinem Herzen eine Büchse abgeschossen worden wäre, erklärte er. Pa­ter Benedikt und die Anwesenden schauten sich gegen­seitig an, als errate einer die Gedanken des andern. «Und dann, was geschah dann?» – Kaspars Gesicht leuchtete auf. «Ich lief gegen die Türe, um den Mann genau an­schauen zu können. Plötzlich war er aber verschwunden. Ich spürte, wie meine Zunge sich löste. Ich konnte als erste Worte die Namen Jesus und Maria aussprechen. Ich betete das Ave Maria. Vor Freude konnte ich lange nicht einschlafen. Und jetzt bin ich da, um Unserer Lieben Frau zu danken und die Stummenschelle als Zeichen hier zu lassen.»

Manchem der Anwesenden klopfte das Herz rascher, manchem würgte es im Hals, als er diesem Bericht lauschte und in das unschuldige Gesicht des Buben schaute. «Wer meinst du, daß der weiße Mann gewesen sei», fragte Pater Benedikt. «Ich weiß es nicht, aber sicher hat ihn die Mutter Gottes geschickt», antwortete Kaspar. «Es war wohl ein Engel, vielleicht der Erzengel Raphael, dieser himmlische Arzt, der einst Tobias von seiner Blindheit geheilt. Alle Engel sind ihrer Königin untertan und folgen ihr aufs Wort», erklärte der Pater mit ernster Miene und forderte die Anwesenden auf, den Knaben in die Gnadenkapelle zu begleiten und mit ihm der gütigsten, weisesten, mächtigsten Mutter zu danken.

Sie zogen durch die Kirche hin zum kleinen Heiligtum, das ihnen heute wie der Himmel vorkam. Und sie sangen noch einmal das Salve Regina. Kaspar Hiltbrunner durfte seine Schelle auf den Altar legen, er brauchte sie ja nim­mermehr. Er war so glücklich, unaussprechlich glücklich, umfangen von der zärtlichsten aller Mütter. Was bedeu­tete für ihn irdische Armut, da er vom Reichtum des Himmels zu kosten bekam?

Und so blieb es auch, als er nach einigen Tagen ohne Stummenschelle heimzu nach Ettiswil wanderte. Und manch einer, der ihm begegnete und ihn pfeifen und singen hörte, sagte zu ihm: «Du hast gut lachen, bist noch so jung und gesund.» Wenn dann aber Kaspar von seiner Stummheit und der Befreiung davon erzählte, wurden sie still und staunten und konnten es kaum fassen. Und als er erst seiner Heimat nahte, wo die Leute ihn kann­ten, kehrte die Freude von Haus zu Haus ein, wo er vor­überging. «Wißt ihr’s schon, der Kaspar Hiltbrunner kann reden? Unsere Liebe Frau zu Einsiedeln hat ihn geheilt!»

Die größte Freude aber erfüllte den Pfarrherrn, daß ein solches Wunder an seinem Pfarrkind geschehen. In der Chronik steht der Bericht darüber wie folgt:

«Damit nun aber hieran kein Zweifel niemand hätte, so hat der ehrwürdige und wohlgelehrte Herr Martinus Reber, Pfarrherr zu Ettiswil, auf unser Anhalten (auf Wunsch des Klosters Einsiedeln) den Knaben berufen, vor einem ehrwürdigen Kapitel vieler geistlicher, andäch­tiger Herren, im Beisein auch mehrerer anderer, welt­licher und glaubwürdiger Personen, zu Willisau exami­niert und nach eigener Aussage desselben, alles in ein Schreiben verfaßt an ein ehrwürdiges Gotteshaus Einsie­deln geschickt, welches dann auch schier gänzlich von Wort zu Wort mit demjenigen, was er, der Knabe, hier angezeigt übereingestimmt Trat auch hinzu, daß dieser Knabe von Kindheit auf ein Stummer gewesen, werde dessen ein ganz christlicher Kirchgang zu Ettiswil Zeug­nis und Kundschaft sein.»

Der Rationalismus hatte die Leute noch nicht angesteckt. Sie glaubten und dankten für Dinge, die sie nicht mit dem Verstand begreifen konnten.

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Quelle: Ida Lüthold-Minder: “Madonna im finstern Wald”, Wendelinsverlag Einsiedeln, 2. Auflage 1976, S. 72-75



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