Das Hochfest Allerheiligen ist eine gute Gelegenheit, den Blick von den irdischen Dingen, die dem Rhythmus der Zeit unterworfen sind, zur Dimension Gottes zu erheben, der Dimension der Ewigkeit und der Heiligkeit. Die Liturgie ruft uns heute in Erinnerung, daß die Heiligkeit die ursprüngliche Berufung jedes Getauften ist (vgl. Lumen gentium 40). Tatsächlich hat Christus, der mit dem Vater und dem Heiligen Geist allein heilig ist (vgl. Offb 15,4), die Kirche als seine Braut geliebt und sich selbst für sie hingegeben, um sie zu heiligen (vgl. Eph 5,25–26). Aus diesem Grund sind alle Glieder des Gottesvolkes dazu gerufen, heilig zu werden, dem Wort des hl. Paulus entsprechend: »Das ist es, was Gott will: eure Heiligung« (1 Thess 4,3). Wir sind also aufgefordert, die Kirche nicht nur unter ihrem zeitlichen und menschlichen Aspekt zu betrachten, der von Schwäche gezeichnet ist, sondern wie Christus sie gewollt hat, das heißt als »Gemeinschaft der Heiligen« (Katechismus der Katholischen Kirche, 946). Im Credo bekennen wir die Kirche als »heilig«, heilig, insofern sie der Leib Christi ist sowie Werkzeug der Teilhabe an den heiligen Geheimnissen – an erster Stelle der Eucharistie – und Familie der Heiligen, deren Obhut wir am Tag der Taufe empfohlen werden. Heute verehren wir diese zahllose Gemeinschaft aller Heiligen, die uns durch ihre unterschiedlichen Lebenswege verschiedene Wege zur Heiligkeit aufzeigen, die alle einen gemeinsamen Nenner haben: Christus nachfolgen und ihm, dem letzten Ziel unseres menschlichen Daseins, ähnlich werden. Alle Lebensstände können in der Tat durch das Wirken der Gnade sowie durch den Einsatz und die Beharrlichkeit eines jeden Wege der Heiligung werden. Der Gedenktag aller verstorbenen Gläubigen, denen der morgige Allerseelentag, der 2. November, gewidmet ist, hilft uns, unserer Lieben zu gedenken, die von uns gegangen sind, sowie aller Seelen, die zur Fülle des Lebens unterwegs sind, besonders im Horizont der himmlischen Kirche, zu dem uns das heutige Hochfest erhoben hat.
Von den Anfängen des christlichen Glaubens an hat die Kirche auf Erden in Anerkennung der Gemeinschaft des ganzen mystischen Leibes Jesu Christi das Gedächtnis der Verstorbenen mit großer Ehrfurcht gepflegt und das Fürbittgebet für sie dargebracht. Unser Gebet für die Verstorbenen ist also nicht nur nützlich, sondern notwendig, da es nicht nur ihnen helfen kann, sondern gleichzeitig deren Fürbitte für uns wirksam werden läßt (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 958). Auch der Besuch der Friedhöfe, durch den wir die Bande der Zuneigung mit denen bewahren, die uns in diesem Leben geliebt haben, ruft uns zudem in Erinnerung, daß wir alle einem anderen Leben jenseits des Todes zustreben. Die Tränen, die mit dem irdischen Abschied verbunden sind, sollen daher nicht die Gewißheit der Auferstehung besiegen, die Hoffnung, zur ewigen Seligkeit zu gelangen, »[dem erfüllten] Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das Ganze umfangen« (Spe salvi, 12). Gegenstand unserer Hoffnung nämlich ist es, uns in der Ewigkeit der Gegenwart Gottes zu erfreuen. Jesus hat dies seinen Jüngern verheißen mit den Worten: »Ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch eure Freude« (Joh 16,22). Der Jungfrau Maria, Königin aller Heiligen, empfehlen wir unsere Pilgerschaft zur himmlischen Heimat, während wir um ihre mütterliche Fürsprache für die verstorbenen Brüder und Schwestern bitten.
Der heutige Sonntag fällt auf das Hochfest Allerheiligen, das die auf Erden pilgernde Kirche einlädt, im voraus das ewige Fest der himmlischen Gemeinschaft zu genießen und die Hoffnung auf das ewige Leben zu stärken. In diesem Jahr sind es 14 Jahrhunderte, seitdem das Pantheon – eines der ältesten und berühmtesten römischen Monumente – für den christlichen Kult bestimmt und auf den Namen der Jungfrau Maria und aller Märtyrer geweiht wurde: »Sancta Maria ad Martyres«. Der Tempel aller heidnischen Gottheiten erfuhr so eine neue Bestimmung zum Gedenken all derer, die, wie das Buch der Offenbarung des Johannes sagt, »aus der großen Bedrängnis kommen; sie haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht« (Offb 7,14).
Später wurde die Feier aller Märtyrer auf alle Heiligen erweitert, »eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen« (Offb 7,9) – wie es ebenfalls der hl. Johannes zum Ausdruck bringt. In diesem Priester-Jahr möchte ich mit besonderer Verehrung der heiligen Priester gedenken, sowohl derer, die die Kirche heiliggesprochen hat und damit als Vorbild geistlicher und seelsorglicher Tugenden vorstellt, als auch jener, die bei weitem zahlreicher und allein dem Herr bekannt sind. Jeder von uns bewahrt die dankbare Erinnerung an einen von ihnen, der uns geholfen hat, im Glauben zu wachsen, und uns die Güte und Nähe Gottes verspüren ließ.
Morgen erwartet uns dann das alljährliche Gedächtnis Allerseelen. Ich möchte dazu einladen, diesen Gedenktag in einem wahren christlichen Geist zu leben, das heißt in dem Licht, das vom Ostergeheimnis herrührt. Christus ist gestorben und auferstanden und hat uns den Übergang zum Haus des Vaters eröffnet, zum Reich des Lebens und des Friedens. Wer Jesus in diesem Leben nachfolgt, wird dort aufgenommen werden, wohin er uns vorausgegangen ist. Wenn wir also die Friedhöfe besuchen, wollen wir uns ins Gedächtnis rufen, daß dort, in den Gräbern, nur die sterblichen Überreste unserer Lieben in Erwartung der endgültigen Auferstehung ruhen. Ihre Seelen – so sagt die Schrift – sind bereits »in Gottes Hand« (Weish 3,1). Daher besteht die ihnen angemessenste und wirksamste Weise der Ehrung darin, für sie zu beten und Werke des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe darzubringen. Verbunden mit dem eucharistischen Opfer können wir für ihr ewiges Heil Fürbitte einlegen und die Erfahrung der tiefen Gemeinschaft mit ihnen machen, in der Erwartung, erneut zusammenzusein und für immer in den Genuß jener Liebe zu kommen, die uns erschaffen und erlöst hat.
Liebe Freunde, wie schön und tröstlich ist doch die Gemeinschaft der Heiligen! Sie ist eine Wirklichkeit, die unserem Leben eine neue Dimension verleiht. Wir sind nie allein! Wir sind Teil einer geistlichen »Gesellschaft«, in der tiefe Solidarität herrscht: das Wohl eines jeden einzelnen gereicht allen zum Vorteil, und umgekehrt strahlt das gemeinsame Glück auf die einzelnen aus. Dies ist ein Geheimnis, das wir in gewissem Maße bereits in dieser Welt, in der Familie, in der Freundschaft und besonders in der geistlichen Gemeinschaft der Kirche erfahren dürfen. Die allerseligste Jungfrau Maria helfe uns, eilenden Schrittes auf dem Weg der Heiligkeit zu gehen, und sie möge sich für die Seelen der Verstorbenen als Mutter der Barmherzigkeit erweisen.
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