I.
So spricht der Herr!
Zum Problem der Offenbarungen
Immer wieder lesen wir bei den Propheten des Alten Testamentes den Satz: »So spricht der Herr!« (Vgl. Jerem. 13, 9. 12. 13. etc.).
Beruht diese Aussage der Propheten auf Wahrheit? oder ist sie eine unberechtigte Anmaßung? —
Und darüber hinaus: Spricht Gott überhaupt zu den Menschen? Oder ist Sein Geistwesen so erhaben über alles Menschliche, Sein Wesen so überragend über allem Irdischen, daß Sein Wort uns nie erkennbar wird? -
Die Antworten auf diese Fragen sind von überaus großer Bedeutung. Denn spricht der Herr Selbst zu uns, so ist Sein Wort unendlich wertvoller als alles, was sich je ein menschlicher Verstand ausgedacht hat und noch je ausdenken wird; — dann sind die uns vom Herrn Selbst offenbarten Normen, Gesetze und Richtlinien sicherer und verbindlicher als alle Normen und Gesetze, die je durch menschliche Vernunft diktiert oder durch gleich welche menschliche Institution verkündet worden sind.
Spricht nachweisbar der Herr Selbst zu uns, dann wird uns Sein Wort die volle Wahrheit schenken, die, erhaben über allen menschlichen Philosophien, das zuverlässige Maß jeder Weltanschauung und jeder religiösen und sozialen Einstellung sein muß!
Hierzu stellen sich nun folgende schwerwiegende Fragen:
- Hat der Herr je zu den Menschen gesprochen? -
- Wie spricht der Herr zu uns? -
- Wann spricht der Herr zu uns? — nur »ehedem« oder auch heute? -
- Wie ist die Echtheit der Offenbarung nachweisbar? -
- Sind die Offenbarungen des Herrn verbindlich? —
* * *
I. Hat Gott je zu den Menschen gesprochen ?
Alle Religionen sind irgendwie von einer Offenbarung Gottes an uns Menschen überzeugt. Ja, die Existenz jeder Religionsgemeinschaft steht oder fällt mit ihrem Glauben an eine Offenbarung, welche das Dasein und das Sosein dieser Religionsgemeinschaft rechtfertigt, — oder wenigstens rechtfertigen soll. Die Art der Offenbarung und ihre Echtheit mögen in den verschiedenen Religionen stark von einander abweichen, das Faktum selbst bleibt jedoch das gleiche: »Gott hat Seinen Willen den Menschen, oder wenigstens einem Menschen kundgetan! Gott hat zu uns gesprochen — oder Gott spricht zu uns!«
Die Möglichkeit, daß Gott zu den Menschen sprechen kann und daß wenigstens gewisse Menschen das Wort Gottes vernehmen können, wird von den Gläubigen der einzelnen Religionen grundsätzlich anerkannt. Und dies mit Recht. Denn wenn Gott als reiner Geist auch noch sehr über alles Irdische erhaben ist, so vermag Er doch in Seiner unendlichen Allmacht und Liebe jede Spannweite zu überbrücken, um Sich den Menschen mitzuteilen. Denn »bei Gott ist kein Ding unmöglich!« Die Möglichkeit der Offenbarung leugnen, hieße Gottes Allmacht Selbst leugnen. Wenn jedes Geschöpf ein Wort Gottes ist und Gott Selbst jedes Geschöpf im Dasein erhält, kann Er jedem Geschöpf auch »sprechend« nahe sein, freilich in dem Maße, wie es diesem Geschöpfe entspricht und wie es von diesem Geschöpfe wahrgenommen werden kann.
Die Tatsache göttlicher Offenbarung an uns Menschen wird im Hebräerbrief mit folgenden Worten formuliert:
»Nachdem auf mannigfache Art und Weise dereinst Gott zu unseren Vätern gesprochen hatte in den Propheten, sprach Er am Ende dieser Tage durch Seinen Sohn, Den Er eingesetzt hat zum Erben des Alls, durch Den Er auch schuf die Welten« (Hebr. 1, 1-2).
Und Johannes formuliert noch schärfer:
»Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort … Und das Wort ist Fleisch geworden, und hat unter uns gewohnt … Das Leben offenbarte Sich, und wir haben Es gesehen und legen Zeugnis ab (von dem,) was wir gehört und was wir mit unsern Augen gesehen haben …« (Joh. 1, 1. 14; I. Joh. 1,2. 1.).
Johannes selbst gibt hier seine eigene Erfahrung als Beweis für die Tatsache einer machtvollen, »herrlichen« Offenbarung Gottes an die Menschheit.
Auf dem Wege der Erfahrung also kann der Mensch zur Überzeugung gelangen, daß Gott zu uns gesprochen hat, bzw. heute noch zu uns spricht. Diese Erfahrung ist jedoch nicht nur eine subjektive, sondern ist im höchsten Maße eine objektive, d.h. ein Faktum, das sich auch kritisch, wissenschaftlich nachweisen läßt. Allerdings sind zur kritischen Überprüfung dieses Faktums ehrliche Wahrheitsliebe und eine höchst objektive Untersuchung erfordert.
Die Frage, ob der Herr tatsächlich je zu den Menschen gesprochen hat, muß sich also beantworten lassen durch eine genaue, exakte Untersuchung solcher Werke, die von gläubigen Menschen als Offenbarung vorgelegt werden. Ergibt sich, — wenn auch nur bei einem dieser Werke, — daß es weder durch menschliche Weisheit, noch durch Eingebung jenseitiger Geister bewirkt werden konnte, so haben wir die Tatsache göttlicher Offenbarung als Faktum hinzunehmen und dementsprechend zu werten.
Wie diese Echtheit nachzuprüfen ist, wird im IV. Abschnitt dieser Arbeit dargelegt werden.
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II. Wie spricht der Herr zu uns ?
Da Gott die unendliche Weisheit und Allmacht und Ihm kein Ding unmöglich ist, vermag Er auch auf die verschiedenste Weise zu uns zu sprechen; — und zwar :
A. Zunächst ist jedes Geschöpf schon irgendwie eine »Offenbarung« Gottes.
B. Als » Vorsehung« greift Gott manchmal nachweisbar oder intuitiv faßbar in den Lauf der Geschichte oder in den Lebenslauf eines Menschen ein. Auch dies ist in gewissem Sinne eine Offenbarung Gottes.
C. Oftmals wird in der HI. Schrift behauptet, daß Gott Sich und Seinen Heiligen Willen in Träumen offenbart.
Eigentlich ist jeder Traum ein Wort Gottes an uns, allerdings auf verschiedenste Art.
Meist offenbaren uns die Träume nur den Zustand unserer Seele. Wir können dann durch sinnvolle Deutung der Traumsymbole uns größere Klarheit verschaffen über die Veranlagungen, Begierden, Gefahren und Gnadenerfahrungen unseres Seelenlebens, um aus dieser tieferen Erkenntnis zum Heile unserer Seele und unseres Lebens Nutzen zu ziehen.
Manchmal sind unsere Träume auch Kontakte mit Wesen aus dem Jenseits, die unseren Schlafzustand, unsere »Abschaltung« von der Außenwelt ausnutzen, um uns etwas mitzuteilen, oder wenigstens um uns an ihr Dasein zu erinnern und von uns Gebete zu erflehen.
Bekannt sind auch Träume, in denen wir Ereignisse erleben, die räumlich von uns entfernt sind, sei es die Krankheit eines fernen Familienangehörigen, oder den Tod eines Bekannten. Hierzu gehören auch Zukunftsträume, in denen wir schon jetzt Ereignisse erleben, welche für »uns« Leib-Seele-Wesen noch der Zukunft angehören, für unsern Geist aber (für den es nur Gegenwart gibt !) bereits gegenwärtig sind. Solche Träume dürfen in gewissem Maße schon als Offenbarungen Gottes angesehen werden. Denn als von Gott gefügt, bereiten sie uns vor auf ein großes Geschehen, dem wir entgegengehen und das wir — weil schon vorauserlebt — mit größerer Gelassenheit ertragen werden.
Außerdem aber gibt es auch Offenbarungsträume im wahrsten Sinne. Diese sind durchweg kurz, scharf symbolreich und unvergeßlich. Sie bleiben uns auch nach dem Wachwerden lebendig-gegenwärtig, lassen sich meist nicht sofort deuten, geben uns aber, sobald wir sie erfassen, eine tiefe, klare, richtungsweisende Lehre. Solche Symbolträume finden wir aufgezeichnet, z.B. im Buche der Genesis (Kap. 37 u. 40) und beim Propheten Daniel (Kap. 2 u. 7).
D. Mit »Wahrträumen« verwandt sind die Offenbarungen in den sogen. Schauungen. Schauungen entstehen im Wachzustand eines Menschen, jedoch so, daß der Schauende während seiner Schau meist mit seinen Sinnen seiner Umwelt entrückt ist und das Geschaute als Wirklichkeit erlebt. Schauungen sind entweder unmittelbar von Gott oder von irgendeinem mächtigen Wesen bewirkt, oder sie sind das eidetische Produkt des Schauenden selbst. In letzterem Falle könnten als mitwirkend folgende Faktoren maßgebend sein: göttliche Erleuchtungen, psychometrische, bzw. hellseherische Wahrnehmungen, wiedererwachte Erinnerungen und persönliche Phantasie.
Sich aus Schauungen ergebende Offenbarungen sind zwar hoch zu werten, müssen aber doch kritisch behandelt werden, da nicht immer klar ist, welcher Art diese Offenbarungen sind, bzw. welcher Quelle sie entspringen. Es wäre z.B. zwecklos ein geschichtliches Ereignis, z.B. die Kreuzigung Christi, der geschichtlichen Wahrheit entsprechend zu rekonstruieren auf Grund mehrerer Offenbarungen, bzw. Schauungen z.B. einer hl. Brigitta, einer gottseligen Katharina Emmerich und einer Therese Neumann. — Auch sind Botschaften, welche in einer Schauung vernommen werden, mögen sie noch so erhaben und wertvoll sein, mit einer gewissen Vorsicht aufzunehmen.
E. Weit höher als Schauungen sind »Erscheinungen« zu werten, vor allem wenn der Erscheinende oder die Erscheinenden uns Botschaften mitteilen. Freilich ist es nicht immer leicht, eine Erscheinung von einer Schauung zu unterscheiden.
Erscheinung nennen wir das Offenbarwerden eines Wesens, das bereits im Jenseits lebt, uns aber wieder wie »zeiträumlich« gegenwärtig wird. So spricht man von Erscheinungen des Heilands, Mariens, der Heiligen und selbst der Engel. Auch die Engel können uns erscheinen, indem sie einen verklärten Leib sichtbar werden lassen, den sie zu diesem Zwecke annehmen.
Es hängt vom Willen der Erscheinenden, oder besser vom Willen Gottes ab, wem die Erscheinenden sichtbar oder wahrnehmbar werden. Da die Jenseitigen einer anderen Daseinssphäre angehören, muß den im Diesseits noch Lebenden die »innere Schau« erschlossen werden, um den Durchbruch aus dem Jenseits ins Diesseits wahrnehmen zu können.
Das Gleiche gilt für die Wahrnehmung der Botschaften, welche die Erscheinenden mitteilen.
Es ist übrigens im allgemeinen sehr schwer festzustellen, welcher Art die Botschaften sind. Wörtliche Mitteilungen sind möglich; außerdem aber auch Gedankenübertragungen, welche der Empfänger selbst — bewußt oder unbewußt — in Worten seiner Sprache formuliert. Daß bei dieser Formulierung Ungenauigkeiten oder gar Fehler unterlaufen können, muß bei der Bewertung solcher Botschaften berücksichtigt werden.
F. Weniger auffallend, aber durchweg von größerer Tragweite sind Offenbarungen in Form »geistiger Erleuchtungen«. Solche »Erleuchtungen« vollziehen sich im Geiste des Menschen, wenn der Mensch zur eigentlichen »Wiedergeburt des Geistes« gelangt ist oder sein Geist wenigstens irgendwie »geweckt« worden ist. Sehr oft leuchten diese geistigen Offenbarungen blitzartig im Geiste auf und geben Antwort auf ein aktuelles Problem. Manchmal aber auch sind diese geistigen Offenbarungen äußerst reichhaltig und verleihen den Schauuenden eine neue, weite Einsicht in theologische Fragen oder in jenseitige Welten.
Es ist äußerst schwer, diese geistigen Offenbarungen in menschlicher Sprache auch nur annährend wiederzugeben. Der Geist ist eben himmelhoch erhaben über dem verstandesmäßigen Seelenleben. Um »geistige Worte« wiederzugeben, fehlen meist die verstandesmäßigen Begriffe und erst recht die menschlichen Worte. Deshalb bedienen sich die Mystiker zur Beschreibung dieser geistigen Offenbarungen meist einer überaus bilderreichen Symbolsprache. Diese Überfülle von Symbolen und Bildern in manchen mystischen Schriften ist nicht die Wiedergabe von Schauungen, sondern der Versuch, unfaßbare, reingeistige Erfahrungen in menschlichen Zeichen nahezu-bringen.
Geistige Erleuchtungen sind also einerseits von höchstem Interesse und von überragender Wichtigkeit; andererseits sind sie jedoch für das alltägliche Leben und selbst für theologische Erörterungen und Überlegungen schwer faßbar.
G. Ganz anderer Art sind die sogen. Diktate. Solche kommen zustande, wenn der Mystiker genau und scharf die Worte vernimmt, die er niederschreiben soll. Dieses »Vernehmen«, bzw. dieses »Hören« ist zwar kein Wahrnehmen mit dem natürlichen Hörorgan, sondern ein inneres Hören, das jedoch an Deutlichkeit dem leiblich-sinnfälligen Hören keineswegs nachsteht. Diese Wahrnehmung ist so scharf und klar, daß jedes Wort und jede Silbe aufs Genaueste erfaßt wird.
Aus eigner Erfahrung schrieb hierüber ein Begnadeter: »Bezüglich des inneren Wortes, wie man dasselbe vernimmt, kann ich als von mir selbst sprechend wenig oder nicht viel mehr sagen als nur, daß ich des Herrn heiligstes Wort stets in der Gegend des Herzens wie einen höchst klar ausgesprochenen Gedanken licht und rein wie ausgesprochene Worte vernehme. Niemand, mir noch so nahestehend, kann etwas von irgendeiner Stimme vernehmen; für mich aber erklingt diese Gnadenstimme dennoch heller denn jeder noch so laute Ton.«
Allerdings sind Diktate nicht immer unmittelbare Wort-Diktate des Herrn oder eines höheren Geistes. Es kann geschehen, daß der Herr (bzw. der diktierende Engel oder Heilige) nur die Gedanken eingibt, so daß der Mystiker selbst diese Gedanken in Worten seiner Sprache wiedergeben muß. Dieser Vorgang in der Seele des Mystikers vollzieht sich meist so »natürlich«, daß der Mystiker sehr oft den Eindruck hat, er höre die Worte unmittelbar vom Herrn her.
Um welche Art mystischer Diktate es sich im einzelnen Falle handelt, — um unmittelbare Wort-Diktate oder um Gedanken-Diktate, — muß in jedem Falle, bzw. bei jedem Mystiker, der Diktate erhält, kritisch untersucht werden. Finden sich z.B. in Diktaten eines Mystikers nur Worte aus dem Wortschatz des Mystikers, so liegt nahe, daß der Mystiker nur Gedanken-Diktate empfängt, die er mit seinen Worten ausdrückt; — finden sich dagegen in Diktaten oft Worte, die über den Wortschatz des Mystikers hinausgehen, z.B. Worte aus alten, dem Mystiker unbekannten Sprachen, so dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit die Tatsache unmittelbarer Wort-Diktate angenommen werden.
Daß Wort-Diktate an sich größere Offenbarungsautorität enthalten als Gedanken-Diktate, dürfte wohl einleuchten.
H. Mit mystischen Diktaten verwandt ist das sogen. Automatische Schreiben. Beim automatischen Schreiben wird der Mystiker, bzw. das Schreibmedium gedrängt, die Hand (mit einem Schreibmittel) schreibfertig zu halten und von einer unsichtbaren Macht führen zu lassen. Das automatische Schreiben beginnt meist mit einem »Ziehen« im Arm oder in der Hand, wodurch der »Befehl« zum Schreiben gegeben wird. Die Buchstaben, welche durch automatisches Schreiben entstehen, sind fast immer ganz verschieden von den normalen Schriftzeichen des Mystikers. Oft folgen die Worte laufend ohne Trennung und ohne Satzzeichen.
Meistens fühlt das Schreibmedium, wie ihm die Hand geführt wird. Allerdings ist es dem Schreibmedium nicht immer klar, »wer« der Führende ist. Meistens ergibt sich nur aus dem geschriebenen Text, welcher Geist hier am Werke war.
Obschon das automatische Schreiben den Mystiker oder das Schreibmedium oft unerwartet »überfällt«, kann das automatische Schreiben auch erlernt werden. Die hierzu erforderten Übungen bezwecken eine selbstlose, rein passive Einstellung zu außersinnlichen Mächten, die dann die passive Hand des Mediums ergreifen und sie aktiv bewegen. Freilich sind solche »Übungen« zu automatischem Schreiben äußerst gefährlich, da durch eine unkontrollierte passive Haltung nicht nur guten, sondern auch bösen Geistern die Gelegenheit geboten wird, ihre »Botschaften« mitzuteilen.
Innige, treue Verbindung mit Gott wird den echten Mystiker vor dem »Einbruch« böser Geister behüten. Aber immerhin bleibt die Gefahr bestehen, daß in Stunden seelischer Schwäche oder psychischer Depression unlautere Geister es versuchen, sich der medialen Hand selbst eines Mystikers oder einer Mystikerin zu bedienen, um falsche Lehren oder irreführende Botschaften kundzutun.
Automatisches Schreiben und Diktate schließen nicht einander aus. Es kann geschehen, daß ein Mystiker zugleich die Botschaften »hört« und diese zugleich medial aufzeichnen muß.
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Über alle Arten der Offenbarung Gottes erhaben ist jedoch jene Offenbarung, die uns zuteil geworden ist durch den Gottmenschen Jesus Christus. Diese ist so außergewöhnlich und so einzigartig, daß sie eine eigene Darlegung und Abhandlung erfordern würde.
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III. Wann spricht der Herr zu uns ?
nur »ehedem« oder auch heute ? -
Die Menschwerdung des ewigen Wortes ist als solche ein einmaliges Ereignis, das sich vor etwa 2.000 Jahren in Palästina zugetragen hat. Trotz dieser heilsgeschichtlichen Einmaligkeit ist jedoch die Wortoffenbarung Gottes in ihrem tiefen Wesen eine Jahrtausende umfassende Wirklichkeit. Der Verfasser des Hebräerbriefes bringt sie, wie bereits oben erwähnt, wie folgt zum Ausdruck: »Vielmals und mannigfach hat einst Gott durch die Propheten gesprochen; zuletzt in diesen Tagen hat Er zu uns durch Seinen Sohn geredet, Den Er zum Erben über alles gesetzt hat, durch Den Er auch die Welten geschaffen« (Hebr. 1, 1-2).
Manche Theologen folgern daraus, daß dieser Höhepunkt zugleich der Abschluß der Offenbarung Gottes an die Menschheit sei. So z.B. schreibt Joseph Scheeben (Handbuch der Dogmatik, Herder, Freiburg i. Br. 1873. Bd. I. S. 36): »Obgleich auch nach Christus noch fortwährend neue Ansprachen Gottes an die Menschheit erfolgen können und in der Tat erfolgen, so fordert doch die Würde und Vollkommenheit der durch Christus gegebenen Offenbarung unbedingt, daß nach ihr keine neue, höhere, konstitutive Offenbarung erfolge, d.h. keine solche, durch welche die Menschen auf eine wesentlich höhere Stufe der Erkenntnis erhoben und eine höhere, vollkommenere Ordnung der Dinge eingeführt werden sollte.«
Allerdings räumt Professor Scheeben ein: »Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß spätere Offenbarungen subsidiarisch (= nebenbei mithelfend) zur Ermittlung oder besseren Klarstellung und Einführung gewisser, bereits in der früheren Offenbarung enthaltenen Wahrheiten behufs Regulierung des allgemeinen Glaubens oder einer ihr entsprechenden kirchlichen Disziplin beitragen können und sollen. «
Scheeben rechtfertigt hiermit die zahlreichen sogen. charismatischen Offenbarungen, die im Laufe der 2.000 Jahre der Kirchengeschichte, den Glauben angeregt, in gewissen Punkten erklärt und im Rahmen des kirchlichen Lehramtes bestätigt und bereichert haben.
In diesem Sinne schrieb auch schon Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica II. II. Q. 174. a. 6.:
»Quolibet tempore instructi sunt homines divinitus de agendis, secundum quod erat expediens ad salutem electorum. « Und er fügt hinzu: »et singulis temporibus non defuerunt aliqui prophetiae spiritum habentes, non quidem ad novam doctrinam fidei depromendam, sed ad humanorum actuum directionem.« —
»Zu jeder Zeit haben die Menschen göttliche Unterweisungen erhalten für ihr Handeln, wie es dem Heile der Erwählten dienlich sei, — und zu allen Zeiten hat es Propheten gegeben, die durch Gottes Geist erleuchtet, zwar nicht neue Wahrheiten verkünden sollten, wohl aber Weisungen für das menschliche Handeln geben sollten.«
Übrigens hat schon der hl. Apostel Paulus, — selbst charismatisch reich begnadet, — auf die Bedeutung der charismatischen Offenbarungen sehr oft hingewiesen. Er nennt die Propheten in einem Zuge mit den Aposteln: »Ihr seid (als Kirche, als Gemeinde des Herrn) auferbaut auf dem Grunde der Apostel und der Propheten; Christus Selbst ist der Eckstein« (Eph. 2, 20). »Propheten« werden hier nicht nur Christen genannt, die durch besondere Begnadung zukünftige Ereignisse schauen, sondern begnadete Menschen, die unmittelbar von Gott erwählt, von Gott erleuchtet und von Gott beauftragt wurden, Sein Wort der Gemeinde kundzutun. Die Gnade als Prophet in der Gemeinde wirken zu dürfen, gilt dem hl. Paulus als die hervorragendste Begnadung (I. Kor. 14, 1 u. 39). Und warnend sagt er im I. Thessalonicher Brief (5, 19-20): »Den Geist löschet nicht aus. Prophetengabe verachtet nicht!«
Exegetisch und theologisch ist die Stellung der »charismatischen Offenbarungen« prinzipiell geklärt und genügend gerechtfertigt (Vgl. hierzu u.a. R. Ernst, Offenbarungen heute? Eupen, Markus-Verlag 1957). Unzählige Fälle aus allen Jahrhunderten der Kirchengeschichte und der Geschichte der Mystik illustrieren die Tatsache des »immerfort an die Menschen, bzw. an die Christen ergehenden Wortes Gottes« durch den Mund und die Feder begnadeter Diener und Dienerinnen des Herrn. Eine Auswahl wichtiger Offenbarungen hervorragender Mystiker bietet z.B. in geordneter, über-sichtlicher Schau das zweibändige Werk des Dominikaners Saudreau: Les Divines Paroles. Paris, Ed. Téqui, 1936.
Freilich sind in diesem Werke nur mit Sorgfalt ausgewählte Texte aus den Schriften und Botschaften christlicher Mystiker zusammengestellt. Hätte der »fromme Verfasser« nicht diese »vorsichtige Auswahl« getroffen, die kirchliche Druckerlaubnis wäre ihm gewiß nicht erteilt worden.
Denn dies ist das Erregende bei vielen charismatischen Offenbarungen, daß durch sie der Herr, — genau wie im Alten Testament durch die Prophetenworte, — Mißstände in der Kirche, und zwar nicht nur beim Volke, sondern auch bei den Trägern des Lehr- und Hirtenamtes rügt und tadelt. Daher auch die vielfache Ablehnung »unangenehmer Botschaften« durch manche Amtsträger der Kirche und nicht selten sogar die Verhängung kirchlicher Strafen gegen Träger solcher Offenbarungen. Wir erinnern nur diesbezl. an das sogen. Geheimnis von La Salette, an die Botschaften von Abbé Vachère, an das III. Geheimnis von Fatima und an die Botschaften von Garabandal. Die tragischen Folgen der Nichtbeachtung oder gar Ablehnung charismatischer Offenbarungen behandelt Gillis Lameire in seinem erschütternden Buche: »Le Déluge de Sang. Essai d’explication des faits saillants de l’histoire contemporaine« (Paris, Ed. de l’Etendard, 1951).
Einen weiteren Grund, gewisse Offenbarungen ablehnen zu dürfen, glauben gewisse Kreise der Hl. Kirche darin zu sehen, daß manche Offenbarungen »neue« Wahrheiten enthalten, die über alle theologischen Darlegungen und Summen hinausgehen. Denn »in der Mitteilung der göttlichen Wahrheit an die Menschen,« — schreibt Prof. Jos. Scheeben (a.a.O. S. 259-260), fand (nur) bis auf die Apostel ein substanzielles Wachstum durch neue, die früheren ergänzenden Offenbarungen statt. Dieser Fortschritt hört auf, sobald die Kirche gegründet, und die ein für allemal abgeschlossene Offenbarung ihr als »depositum« anvertraut war. Damit ist in Zukunft jede vollständige Neubildung einer Glaubenslehre ausgeschlossen!« — Und selbst das wegen seiner Aufgeschlossenheit gerühmte II. Vatikanum erklärt: »Das christliche Heilswerk, der neue und endgültige Bund, wird nie vergehen, und keine neue öffentliche Offenbarung ist zu erwarten vor der herrlichen Ankunft unseres Herrn Jesus Christus!« (Vollständige Ausgabe der Konzilsbeschlüsse, zusammengestellt von Konrad W. Kraemer. Verl. Fromm, 1966. S. 217).
Was aber, wenn doch nachweisbar echte Offenbarungen neueren Datums Wahrheiten enthalten, die über das Gesamtsystem der christlichen Theologie hinausgehen? — Könnten diese Werke nicht etwa ein Hinweis sein auf eine bevorstehende oder sich bereits im Vollzug befindende Wiederkunft des Herrn, von der bereits Papst Pius XII. mehrmals gesprochen hat?
Jedenfalls bieten manche neuere Offenbarungswerke, so verschieden sie auch seien durch die Art ihrer Entstehung, — durch das Land, wo sie aufgezeichnet wurden, — durch die Sprache, in der sie abgefaßt wurden, — Wahrheiten, welche der bisherigen Offenbarung zwar nicht widersprechen, sie jedoch erklären, neu begründen und in wunderbar-ungeahnter Fülle ergänzen. Diese Tatsache ist ein Faktum, das die Theologie weder ignorieren noch ablehnen darf. Unwillkürlich denken wir hier an jene Zeit, die der unseren sehr ähnlich war, da der Herr Selbst als das ewige Wort der Welt eine »Neue Botschaft« brachte. Die meisten Schriftgelehrten und jüdischen Priester wollten als Hüter der alttestamentlichen Thora es nicht für wahr halten, daß Gott ihnen durch diesen einfachen Zimmermann aus Nazareth eine »Neue Offenbarung« schenkte. Sie wollten sich nicht verdemütigen, eine Offenbarung anzunehmen, die über ihr gelehrtes Wissen weit hinausging. Zur Wahrung der vermeintlichen Lehramtstreue beschlossen sie, den neuen Gottesboten mundtot zu machen. Die Tragödie endete menschlich auf dem Kalvarienberg; aber die »Sache Gottes« war damit nicht zu Ende. Die Menschen können das Wort Gottes ignorieren und die Träger dieses Wortes in Fesseln legen und sogar töten, aber das Wort Gottes als solches vermag kein Mensch zu erdrosseln. Es setzt sich durch nach überrationalen, nach göttlichen Gesetzen, und es wirkt sich aus nach Gottes Willen.
Mit dem Gottesmord auf Kalvaria endete die Zeit der alttestamentlichen Schriftgelehrten, — und es begann die Zeit der Frohen Botschaft: die Zeit des Evangeliums und der Kirche.
Könnte mit der Ablehnung der neueren und neuesten Offenbarungen und Botschaften Gottes an die Kirche und an die Menschheit nicht auch heute wieder eine Zeitperiode des Gottesreiches zu Ende gehen und eine neue Zeit anbrechen, nämlich die Zeit, da der Herr Selbst als Geist der Wahrheit und Liebe in den Seelen und in den Gemeinschaften gottliebender Menschen erleuchtend und triumphierend wirkt, alles belebend und einend in Sich?! -
In dieser Perspektive dürfen wir die Worte des Herrn an die Apostel verstehen, die er kurz vor seinem Tode sprach: »Noch vieles habe Ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird Er euch hinführen zur vollen Wahrheit … (Joh. 12-13a). Jener Beistand, der Heilige Geist, Den der Vater in Meinem Namen senden wird, Er wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was Ich euch gesagt habe!« (Joh. 14, 26)
Allerdings mag dieses Versprechen für die Apostel am heiligen Pfingsttage in Erfüllung gegangen sein. Für die christliche Gemeinschaft als solche aber dürfen diese Worte des Herrn heute in Erfüllung gehen, da uns in großen Offenbarungen an alles erinnert wird, was der Herr gepredigt und gewirkt hat.
Freilich haben die Christen auf die Erfüllung dieser Heilandsworte lange gewartet, — genau so lange wie sie auf die Wiederkunft des Herrn gewartet haben. Aber bei Gott sind ein Tag wie 1.000 Jahre und 1.000 Jahre wie ein Tag. — Und könnte die erwartete Ausgießung des Heiligen Geistes, die Papst Johannes XXIII. in seinen Ansprachen mehrmals erwähnt hat, — und die geheimnisvolle Wiederkunft des Herrn, auf welche Pius XII. hinwies, nicht ein- und dasselbe Faktum sein?! —
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Quelle: R. Ernst – Offenbarungen und Wunder – Markus-Verlag, Eupen
