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DAS GEHEIMNIS VON PORTIUNCULA

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Von Pater Eugen Mederlet OFM

Das Leben des heiligen Franziskus ist ein Kunst­werk Gottes, vergleichbar mit dem Johannes-Evangelium, wo jedes Wort und jedes Ereignis wun­derbare Zusammenmhänge, welche die ganze Schöpfung weben, dem Ohr des Jüngers kundtun. Franziskus hat die Ereignisse und Erfahrungen sei­nes Lebens kaum in Worten gedeu­tet. Die Wunder seines Herzens sind fast wortlos geschehen, wie eben das Leben geschieht. Um sie zu deuten, müßten wir in derselben Anbetung knien, in der sie ihm geschehen sind.

Die Sendung, die Franziskus vom Kreuze her erhielt: „Siehe, mein Haus zerfällt, geh’, bau es wieder auf.”, ist ein göttliches Offenbarungswort, in dem das ganze Geheimnis des heili­gen Franziskus enthalten ist. Dieses Geheimnis empfängt er in San Damiano noch verschlossen wie die Knospe einer kostbaren Blüte. Im Kirchlein von Portiuncula wird sich ihm die Blüte erschließen.

Der Name „Portiuncula” bedeutet „das kleine Teilchen”, „die kleine Portion”. Die Legende sagt, ein Pil­ger habe Erde vom Heiligen Land mitgebracht und mit dieser Erde eine Fläche im Wald vor Assisi umstreut, so weit die Erde ausreichte. Diese Fläche habe er Maria geweiht und ihr darauf eine Kapelle gebaut: „ein Teilchen” des Heiligen Landes nach Italien gebracht; oder „ein Teilchen” Erde Maria geweiht. Es mag beides bedeuten. Es sprach sich im Volk herum, die Engel sängen dort das Marienlob, man habe es oft gehört. Die Kirche war Eigentum der Benediktiner-Abtei von Monte Subasio und diente wohl vor Zeiten als Einsiedelei, in der solche Mönche lebten, die „wohlgerüstet aus der Reihe der Brüder herausgetreten waren und den Einzelkampf in der Wüste aufgenommen haben” (vgl. Regel des heiligen Benedikt, Kap. 1). Zur Zeit des heiligen Franziskus waren diese Einsiedeleien schon lan­ge nicht mehr bewohnt. An verborge­nen Orten Umbriens gab es aber da und dort noch eine zerfallene Kapel­le, ein Häuschen, eine Höhle. Man­che dieser Orte erbat sich später der heilige Franziskus von der zuständi­gen Abtei als einsamen Ort des Ge­betes. Ein solcher Ort war die kleine Kirche von Portiuncula.

Sie war verlassen und von nieman­dem betreut. Wie sie der Heilige Got­tes so verfallen sah, wurde er von frommem Mitleid gerührt, und weil er glühende Verehrung für die Mutter aller Güte hegte, nahm er daselbst seinen dauernden Aufenthalt (1 Cel. 21). Die zerfallene Kirche, die nach Maria genannt ist, gewann der Heili­ge vor allen anderen lieb; sie befahl er den Brüdern in besonderer Ehrfurcht zu halten. Er erzählte, ihm sei von Gott geoffenbart worden, daß die seli­ge Jungfrau unter den anderen ihr zu Ehren auf der Welt erbauten Kirchen diese Kirche mit besonderer Liebe lie­be, daher liebte sie auch der Heilige mehr als alle anderen (2 Cel. 18-19).

Wir wollen versuchen, einen Ein­blick in das Geheimnis der eigenarti­gen Verbundenheit des heiligen Franziskus mit diesem Marien-Hei­ligtum zu gewinnen.

Eines Tages — es war am Fest des heiligen Apostels Matthias im Jahre 1209 — wurde in eben dieser Kirche das Evangelium verlesen, wie der Herr seine Jünger zum Predigen aus­sandte, und der Heilige Gottes war zugegen. Wie er die Worte des Evan­geliums vernommen hatte, bat er gleich nach Beendigung der Meßfeier inständig den Priester, ihm das Evan­gelium auszulegen. Dieser erklärte ihm alles der Reihe nach. Als der heilige Franziskus hörte, daß die Jünger Christi nicht Gold noch Sil­ber noch Geld besitzen, noch Beutel, noch Reisetasche, noch Brot, noch einen Stab auf den Weg mitnehmen, noch Schuhe, noch zwei Röcke haben dürfen, sondern nur das Reich Gottes und Buße predigen sollen, frohlockte er sogleich im Geiste Gottes und sprach: „Das ist, was ich will, das ist, was ich suche, das verlange ich aus Herzensgrund zu tun. (1 Cel. 22, vgl. Mt 10,5-16)

Die Sendung, die in San Damiano bis in seinen Lebensgrund eingesenkt wurde, steigt hier in Portiuncula aus dem geheimnisvollen Dunkel in die Klarheit und nimmt von ihm völlig Besitz. Jetzt weiß er es in hellem Licht: Er soll nicht nur Häuser aus Stein aufbauen; die lebendige Kirche Jesu soll er zur Reinheit und Kraft zurückführen, in der sie die Apostel gegründet haben. Darum muß er selbst so leben wie die Apostel. „Das ist, was ich will!” Was er schon im­mer „aus Herzensgrund” suchte, er­hält jetzt die Gestalt der verheißenen Braut. Er hat sie gefunden, „adeliger und schöner als ihr je eine gesehen habt” (3 Gef. 7). Es ist die Braut Christi, die Kirche. Jesus vertraut ihm sein Größtes und Heiligstes an: die Kirche, Seine Braut. Haus, Stadt, Jerusalem, Zion, Kirche, es sind al­les Namen der Braut (vgl. Offb 21,2). Franziskus soll sie so lieben, wie Christus sie geliebt hat: in ihren Sünden und Wunden. „Siehe, sie zer­fällt.” Dieses Wort ruft die ganze Seele des heiligen Franziskus an. Christus lebt in ihm Sein Leben als Bräutigam und nimmt ihn ganz zu Sich ans Kreuz. Jesus verwundet ihn mit der Wunde Seiner eigenen Liebe; er soll es „sehen”, mit welchem Aus­satz die Braut, die ganze verlorene Schöpfung, geschlagen ist, welche Wunden sie im Leibe Christi auf­reißt und mit welcher Liebe ihr Bräu­tigam in ihre Armut hinabsteigt, um ihren Aussatz zu küssen und sie zu dem Adel zurückzuführen, in dem Franziskus sie in jener Braut-Vision geschaut hatte. Darum mußte Franziskus die Aussätzigen küssen. Er mußte bereit sein, das zu werden, was er von Kindheit an so entschie­den von sich weggestoßen hatte: aus­sätzig. Er muß in die gleiche Armut hinabsteigen wie Christus am Kreuz und in die gleiche Kreuzigung des Fleisches, damit er in der keuschen Liebe Christi die Braut lieben kann; sein Fleisch darf daran nicht den geringsten Anteil haben. Nur wenn Franziskus gekreuzigt ist, kann Jesus ihm offenbaren, was Er selber getan hat, um Seine Braut rein und makellos darzustellen (vgl. Eph 5,27). „Von dieser Stunde an durchbohrte das Mitleid mit dem Gekreuzigten seine heilige Seele. Hier werden sei­nem Herzen die Male des verehrungs­würdigen Leidens tief eingedrückt” (2 Cel. 10-11). Er empfängt es aus dem Herzen Jesu, sich ganz zu ver­zehren, um die Braut heimzuführen ins Brautgemach am Kreuz und sie wieder aufzurichten in ihrer vollen­deten Schönheit. Die Liebe zu Chri­stus wird seine Liebe zur Kirche.

Alsogleich löst er die Schuhe von den Füßen, legt den Stab aus der Hand und vertauscht den Ledergürtel mit einem Strick. Darauf richtet er sich den Habit in Form des Kreuzes zurecht, damit er in ihm alle teufli­schen Trugbilder abwehre; er macht ihn aus dem rauhesten Stoff, um in ihm das Fleisch mit seinen Lastern und Sünden zu kreuzigen; er macht ihn schließlich recht armselig und schmucklos, daß er der Welt in keiner Weise begehrenswert erscheinen kön­ne (1 Cel. 22). Er wird mit seinen Brüdern zufrieden sein mit einem Habit, einem Strick und den Hosen. „Mehr wollen wir nicht haben.” (Schriften S. 214)

Hier entdeckt er die Armut als Geheimnis der Brautschaft. Er kann die Kirche nur dann in die Arme Christi, des Gekreuzigten, zurück­führen, wenn er so arm ist wie der Bräutigam selber. Die Armut ist das Brautgeheimnis; darum wird er entflammt von der Liebe zur Armut. Er will ihr „aus ganzer Seele anhangen und um des Namens unse­res Herrn Jesu Christi willen auf immer nichts anderes unter dem Himmel zu haben trachten” als die heilige Armut (Schriften S. 165). Um die Braut, die Kirche, aus der Sünde zu retten, steigt er mit Christus im­mer tiefer hinab in Armut und Schmerz. Er will nichts mehr ken­nen als Jesus, den in Sehnsucht nach Seiner Braut Gekreuzigten (vgl. 1 Kor 2,2). Darum darf er nichts für sich haben, auch nicht sich selbst, und nichts darf er an der Braut begehren. Nicht er hat die Braut; er ist der Freund des Bräutigams (Joh 3,29), der die Braut suchen und schmücken und in die Arme Jesu zurückführen muß.

Das ist die Wunde, die er in San Damiano aus dem Herzen des Gekreuzigten empfangen hat; jetzt, in Portiuncula, erhält sie ihren Na­men; sie heißt: Liebe zur Kirche, der von Gott so schmerzlich und glühend geliebten Braut. Diese Liebe des hei­ligen Franziskus zur Kirche ist nicht verschieden von seiner Liebe zu Chri­stus und zum Vater; sie ist diese Liebe selber, die Liebe des Heiligen Geistes aus dem Einen Herzen Got­tes.

So kommen wir hier auf die Spur seiner besonderen Hinneigung zum Kirchlein von Portiuncula: Hier emp­fing er die Offenbarung des Braut­geheimnisses, und hier ist der Ur­sprung der franziskanischen Armut.

Aber Franziskus erlebt die Bedeu­tung von Portiuncula noch tiefer. Daß Maria „diese Kirche mit besonderer Liebe liebte” (2 Cel. 19), wäre schon Grund genug, daß auch „der Heilige sie mehr liebte als alle anderen” (2 Cel. 19). Aber es ist kein Zweifel, daß sein reines Herz den Zusammenhang erfaßte: Maria ist selber die Braut. Das ganze Geheimnis der Kirche geht von ihr aus, weil es in ihr enthalten ist.

Sie umfing er mit unsagbarer Lie­be; er widmete ihr Lobpreisungen, an sie richtete er Bittgebete, ihr weihte er Herzensanmutungen, so zahlreich und so innig, wie sie eine menschliche Zunge gar nicht auszusprechen ver­möchte… Er bestellte sie zur Schutz­herrin des Ordens und vertraute ih­rem Schutzmantel seine Söhne an. (2 Cel. 198)

Portiuncula wurde für immer zur Heimat des Ordens. Hier hat Franziskus zuerst gewohnt mit sei­nen ersten zwei Gefährten (3 Gef. 32), nicht weit vom Heim der Aussätzigen. Wenn er diese „christli­chen Brüder” (Spiegel 104) gepflegt hatte, kam er wieder nach Portiun­cula zum Gebet. Und als er dann nach dem Vorbild der Apostel auf der Straße der Armut ging, kehrte er doch immer wieder in diese Heimat zurück. Hier sammelten sich die Gefährten um ihn; von hier aus sand­te er sie zu zweien auf ihre ersten Missionsfahrten, und hier trafen sich alle wieder. Als Franziskus mit den ersten elf Gefährten aus Rom zu­rückkam, erkannte er, daß das apo­stolische Wanderleben Orte der Sammlung braucht. Der Abt von Monte Subasio übergab ihm und sei­nen Brüdern Portiuncula als ersten dieser Orte. Franziskus wollte kein Eigentum; so wurde vereinbart, daß die Brüder jedes Jahr dem Abt ein Körbchen voll Fische als Zins brin­gen sollten (L.a.8).

Portiuncula sollte als Spiegel des Ordens in Demut und höchster Ar­mut gehütet bleiben… Hier sollten die Brüder in allem die strengste Zucht bewahren. Franziskus selbst rief sie von überall her dorthin und verlang­te, daß sie Gott in Wahrheit hingege­ben und in jeder Hinsicht vollkom­men seien. Allen Weltleuten war un­ter allen Umständen jeder Zutritt verschlossen. Der Heilige wollte nicht, daß die Brüder den Erzählungen der Weltleute lauschten, damit sie nicht in der Betrachtung himmlischer Din­ge gestört und in niedrige Händel gezogen würden. Keinem war es dort erlaubt, müßige Worte zu sprechen. Ohne Unterbrechung, Tag und Nacht, waren sie an dem Ort mit dem Lobe Gottes beschäftigt. Wunderbaren Duft verbreitete ihr engelgleiches Leben.
(2 Cel. 18-19)

Franziskus sagte oft: Seht zu, mei­ne Söhne, daß ihr diesen Ort niemals verlaßt: Wenn ihr auf der einen Seite hinausgetrieben werdet, geht auf der anderen wieder hinein; denn dieser Ort ist wahrhaft heilig und eine Wohn­stätte Gottes. Hier hat uns der Aller­höchste vermehrt, als wir noch weni­ge waren; hier hat Er mit dem Lichte Seiner Weisheit die Herzen Seiner Armen erleuchtet, hier hat Er mit dem Feuer Seiner Liebe unseren Wil­len entzündet. Hier erhält jeder, der demütigen Herzens bittet, was er be­gehrt, und wer hier fehlt, wird schwe­rer bestraft. Deshalb, meine Söhne, haltet aller Ehre würdig den Ort der Wohnung Gottes und preist hier Gott aus eurem ganzen Herzen mit Jubel und Lobgesang! (1 Cel. 106)

Das Brautgeheimnis von Portiuncula wird uns noch tiefer enthüllt im Portiuncula-Ablaß.

Es wird erzählt: In einer Winternacht war Franziskus von heftigsten Versuchungen gegen die Keuschheit befallen. Wir wissen von vielen solchen Versuchungen des Heiligen; hier in Portiuncula erkennen wir ihren Sinn. Die Versuchung war so heftig, so andauernd, daß Franziskus in die kalte Nacht hinaustrat, sich nackt auszog, sich in die Dornen eines Rosenstrauches warf und sich hin und her wälzte. So wurde er der Versuchung Herr. Auf diesen Sieg der Treue erschienen ihm zwei Engel, die ihn einluden, mit ihnen zur Portiuncula-Kapelle zu kommen, durch deren kleine Fensterchen hel­les Licht strahlte. Als er eintrat, sah er über dem Altar Christus und Ma­ria, umgeben von den Chören der Engel. Er wirft sich nieder auf die Knie, und Jesus bietet ihm an, er könne einen Wunsch aussprechen und diesen Maria übergeben. Was Franziskus nun erbittet, wird jeden enttäuschen, der es nicht auf dem Goldgrund des Brautgeheimnisses schaut. Er erfleht, daß jeder, der das Kirchlein von Portiuncula gläubig betritt, Nachlaß aller Sünden und Sündenstrafen erhalte. Das ist in der Kirchensprache ein „vollkommener Ablaß”. Und Maria nimmt die Bitte auf und bringt sie in ihrem eigenen bräutlichen Herzen Jesus dar. Jesus gewährt sie ihr mit dem Hinweis an Franziskus, diesen Ablaß von sei­nem Stellvertreter auf Erden, dem Papst, bestätigen zu lassen. Papst Honorius weilte zu der Zeit in Perugia und gewährte den Ablaß (vgl. Luciano Canonici, La Porziuncola nei piu antichi documenti francescani, S. 87 ff.).

Was ist hier geschehen? Und zu­erst: Was bedeutet jene Versuchung und jener Sieg in den Dornen des Rosenstrauches? Als Franziskus in die Zelle zurückkehrte, hatte der Rosenstrauch alle Dornen verloren und stand statt dessen mitten im Winter voller Blüten. Noch heute wächst hier — und nur hier — die „Rosa canina assisiensis” — ohne Dor­nen.

Franziskus soll die Kirche aus der Sünde zur bräutlichen Blüte zurück­führen; herrlich, „ohne Flecken oder Runzeln oder dergleichen, heilig und makellos soll sie sein” (Eph 5,27). Wie kann er diesen Auftrag ausfüh­ren, wenn er nicht selber auch in den heftigsten Versuchungen sich rein bewahrt, wenn er mit dem kleinsten Schatten des Begehrens die ihm an­vertraute Braut verletzt?

In diesem „nichts begehren” aber ist die höchste Liebe verborgen. Es ist die Wiederherstellung des Para­dieses, wo in der Liebe von Mann und Frau nichts, gar nichts war, dessen sie sich schämen mußten; nichts ist in ihnen als die aus dem Herzen Gottes ihnen zuströmende gott­menschlich-gewordene Liebe. Fran­ziskus hat in den Dornen die Nackt­heit wiedergefunden. Aber jetzt ist es die Nacktheit des Gekreuzigten.

Im Leben des heiligen Franziskus stehen alle die harten Züchtigungen seines Leibes und seines Gemütes im Dienste dieser Liebe. So erklären sich die über das Maß eines einzelnen Menschen weit hinausgehende Hef­tigkeit und Häufigkeit der Versu­chungen zur Unkeuschheit. Wenn es der Schlange gelingen könnte, die­sen Erwählten zu verführen, dann würde ihm die Braut entzogen, er hätte keine Vollmacht mehr, sie zu heiligen.

Wir können nicht ausdenken, was geschehen wäre, wenn Franziskus versagt hätte. Darum hat der Teufel so gewütet. Er ist der Hasser und Vernichter der Vermählung Gottes mit der Schöpfung.

Ist Luzifer nicht am Geheimnis Marias, die das Kind in ihrem Schoß trägt, zum feuerroten Drachen ge­worden (Offb 12,1 ff.)? Gott hat im Paradies die Urfeindschaft zwischen der Schlange und der das Kind gebä­renden Frau aufgedeckt (Gen 3,15). In dieser Urfeindschaft wütet der Teufel gegen den aus allen anderen auserwählten Brautführer Franzis­kus. Es sind weltgeschichtliche Schlachten, die dieser in seinem Fleisch mit dem Teufel austrägt und gewinnt. Er ist der Drachentöter, der die Jungfrau befreit. Er weiß, aus welcher Gefahr er sie retten muß. Immer wieder klingt es in seinen Schriften wie ein Schrei aus seinem Herzen: „Hassen sollen wir unseren Leib mit seinen Lastern und Sün­den, weil er fleischlich leben und uns dadurch die Liebe unseres Herrn Jesus Christus und das ewige Leben rauben und sich selbst mit allem in die Hölle stürzen will; denn durch unsere Schuld sind wir abscheulich, elend und dem Guten zuwider, zum Bösen aber bereit” (Schriften 193, vgl. Röm 7,15-18).

Es sind die Tränen Jesu über Jerusalem, die in den wunden Augen des heiligen Franziskus blutig wer­den: „Wenn du doch heute erkennen würdest, was dir zum Frieden dient” (Lk 19,42)! Hier! Hier, im Kirchlein von Portiuncula sollen die Menschen erkennen und umkehren! Wenn Franziskus unzählige Menschen durch alle Jahrhunderte hindurch zum christlichen Leben führt, ist es die Frucht seines Büßens und Weinens.

Nun wird auch klar, warum bei Franziskus das Wort „Reinheit” und die Ermahnung, stets reinen Her­zens zu Gott zu beten, so leuchtend ist, so tief gefüllt mit Kraft und Innigkeit. Bruder Ägidius, einer sei­ner vertrautesten Gefährten, sagt: „Keuschheit nenne ich, alle Sinne für die Gnade Gottes bewahren” (Ägidius S. 76). Nichts darf in den Sinnen des Leibes und der Seele verbleiben als nur die Liebe des Bräutigams zu seiner Braut und der Braut zu ihrem gekreuzigten Herrn und Gott.

Daß seine Keuschheit der Heili­gung der Braut geweiht ist, leuchtet in folgender Begebenheit auf:

Als er infolge des Fastens seinen Weg nicht weitergehen konnte, brachte ihm eine Mutter mit ihrer Tochter, einer gottgeweihten Jungfrau, Brot und Wein.

Kaum hatte der Heilige gespeist und sich ein wenig gestärkt, erquickte er seinerseits mit dem Worte Gottes Mutter und Tochter. Und während er ihnen predigte, schaute er keiner ins Antlitz. Als die Frauen wieder fortge­gangen waren, sagte sein Gefährte zu ihm: Bruder, warum hast du die heiligmäßige Jungfrau nicht angese­hen, da sie doch mit solcher Ergebenheit zu dir kam? Der Vater antwortete ihm: Wer müßte sich nicht scheuen, eine Braut Christi anzublic­ken? (2 Cel. 114).

Dazu erzählte er ein Gleichnis: Ein sehr mächtiger König schickt nach­einander zwei Boten zur Königin. Der erste kehrt zurück und überbringt nur ihre Worte mit seinen Worten. Er hatte die Augen eines Weisen im Kopf die nirgendwo umherschweifen. Da kehrt der andere zurück, und nach einem kurzen Bericht erzählt er eine lange Geschichte über die Schönheit der Herrin: Fürwahr, Herr, ich habe eine wunderschöne Frau gesehen. Glücklich, wer sich ihrer freuen darf! Doch darauf der König:

Nichtsnutziger Knecht! Auf meine Braut hast du deine schamlosen Au­gen geheftet! Klar, daß du die Sache, die du so ganz genau dir angeschaut hast, auch gern kaufen möchtest. Darauf läßt er den ersten zurück­rufen und spricht: Was hast du für eine Ansicht von der Königin? Nur die beste, denn schweigsam hörte sie zu und antwortete scharfsinnig. Hat sie nichts von körperlicher Anmut an sich? Dies zu prüfen ist deine Sache; die meine war nur, Worte zu über­bringen. Da fällt der König das Ur­teil: Du hast züchtige Augen, umsomehr einen keuschen Körper. Bleib im Haus als Kammerdiener! Der aber soll mir aus dem Hause gehen, damit er nicht das Brautgemach beflecke! (2 Cel. 113)

Wie selbstverständlich geht aus dem heißen Kampf um die Braut die Bitte von Portiuncula hervor. Es soll hier ein Ort der Wiederherstellung aller Heiligkeit sein. Franziskus sieht „Nachlaß von Sünde und Strafe” nicht juristisch-materiell; er sieht den Schmerz des an seiner Kirche ver­wundeten Gottessohnes, er sieht Blut und Wasser aus der Herzwunde des Bräutigams hervorquellen, der seine im Aussatz der Sünde entstellte Braut im Wasserbad der Taufe rein-wäscht und sie mit dem Hochzeits­wein seines Blutes tränkt (vgl. Hil­degard von Bingen, Scivias, S. 192 ff.).

Und diese Braut ist ihm, Fran­ziskus, anvertraut. Er hat in San Damiano die Herzwunde des Bräuti­gams empfangen. Dort ist er zur Kreuzigung geweiht worden, zu al­len Wunden der Geißelung und Dornenkrönung, bis zur Verlassen­heit am Kreuz. Hier in Portiuncula, wo er die Keuschheit in der Opferung seines Leibes gerettet hat, hier im Ursprung der franziskanischen Ar­mut und jungfräulichen Liebe, hier im Heiligtum der Braut soll die Kir­che den Gnadenschatz öffnen: das ist die kühne Bitte des kleinen, armen Franziskus. Und Maria, die Braut, die Mutter der Kirche, nimmt diese Bitte in ihr Herz und öffnet den Schatz.

Es ist von tiefster Bedeutung, daß sie, Maria, die demütige Bitte des heiligen Franziskus vorträgt. Maria umfaßt ja die ganze Brautschaft. Als sich das Wort Gottes mit ihr ver­mählte, hat sie in ihrem magdlichen Ja-Wort die ganze Schöpfung mit-vermählt. Jede bräutliche Zustim­mung in der Kirche ist umfangen vom Brautwort im Herzen Marias: „Ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort!” Wenn schon Eva in ihrem Nein die ganze Schöpfung sündig machen konnte, weil sie als „Mutter aller Lebendi­gen” die Verantwortung für alle trug, dann vermag Maria noch mehr: Ma­ria, die Mutter nicht nur aller Leben­digen, sondern die Mutter des Le­bens selbst, weiht mit ihrem Ja-Wort die Schöpfung aufs neue der Ver­mählung.

Sie, Maria, die Ur-Kirche, nimmt die Bitte des Brautführers auf und trägt sie dem Bräutigam vor. Laß die Kirche hier heilig werden, wie ich dir heilig vermählt bin! Es ist die Lehre der Kirche, daß ein Ablaß immer so weit wirkt, als der Empfangende in Bekehrung und Reue für die Liebe Gottes offen ist. Darum ist der „voll­kommene Ablaß” das Angebot der vollkommmenen Liebe. Hier in Portiucula sollen sich die Herzen endlich zur Umkehr bewegen lassen, damit sie diese Liebe empfangen kön­nen. Die Kirche soll hier so heilig werden, daß endlich die Hochzeit des Lammes mit der vollendeten Braut gefeiert werden kann Die Fülle der Heiligkeit der Immaculata soll ge­schichtlich in der Kirche Wirklich­keit werden. So reicht die Bitte des heiligen Franziskus bis in die Voll­endung der Zeit. „Der Geist und die Braut rufen: Komm! Und wer es hört, rufe: Komm! Wer dürstet, komme, und wer will, empfange Wasser des Lebens umsonst” (Offb 22,17). In der Tat, in welchem Marienheiligtum wurde so tief das Geheimnmis der keuschen Brautschaft enthüllt?

 



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