ANSPRACHE PAPST PIUS’ XII.
an die Schweizer Pilger
Vatikan-Basilika – Freitag, 16. Mai 1947
Mit tiefer Ergriffenheit haben Wir gestern Nikolaus von Flüe der Schar der Heiligen beigesellt, und mit tiefer Ergriffenheit habt ihr, geliebte Söhne und Töchter, Landsleute des neuen Heiligen, der erhabenen Handlung beigewohnt. Mit ihr wurde der einzigartigen Gestalt aus dem 15. Jahrhundert, die ihr als die Verkörperung des Besten von dem empfindet, was an gesunder Natur und christlicher Frömmigkeit in eurem Wesen lebt, eine Ehrung zuteil, wie sie höher auf Erden und in der Kirche Christi niemandem widerfahren kann. Uns selbst war es eine grosse Genugtuung, eurem Volke, mit dem Uns so viele angenehme Beziehungen verknüpfen, die Freude der Heiligsprechung dieses echten Schweizers zu bereiten.
Wenn auch das Lob, ein echter Sohn des Schweizer Volks zu sein, im Vollsinn des Wortes ganz gewiss einer stattlichen Reihe eurer um das Vaterland verdienten Männer gebührt, so doch sicher keinem mehr als Nikolaus von Flüe.
Er stammt aus dem Herzen der Eidgenossenschaft, aus einem der Urkantone, einem «gläubigen und frommen Land», wie seine Obwaldner Heimat noch in unserer Zeit ehrend genannt wurde. Den Ruf seines Geschlechts, rechtschaffen und gottesfürchtig zu sein, zurückhaltender Natur, mässig, ganz dem Beruf, der Feldarbeit lebend, umgänglich und immer gewohnt, den Mitmenschen Gutes zu tun, eifrig im Gebet und in Einhaltung der kirchlichen Lebensordnung (Robert Durrer, Bruder Klaus, Die ältesten Quellen über den seligen Nikolaus von Flüe, sein Leben und seinen Einfluss [2 Bände, Samen 1917-1921] B. II, S. 671), diesen Ruf hat jedenfalls Nikolaus vollkommen wahr gemacht: Einen züchtigen, gütigen, einen tugendhaften, frommen und wahrhaften Menschen nennt ihn ein Zeuge, der ihm von seiner frühen Jugend bis zu seinem Abschied von der Welt immer sehr nahe stand (Durrer, B. I, S. 462).
Mit 14 Jahren nimmt Nikolaus an der Landsgemeinde teil (Durrer, B. I, S. XII). Er ist Kriegsmann im Dienst des Vaterlandes und steigt zum Fähnrich, Rottmeister und Hauptmann auf (Durrer, B. I, S. 428). In zwanzigjähriger Ehe mit Dorothea Wyss ersteht ihm eine blühende Familie von zehn Kindern. Heute, in dieser feiervollen Stunde, verdient auch der Name seiner Gattin in Ehren genannt zu werden. Sie hat durch den freiwilligen Verzicht auf den Gemahl, einen Verzicht, der ihr nicht leicht wurde, und durch ihre feinfühlige, echt christliche Haltung in den Jahren der Trennung mitgewirkt, um euch den Retter des Vaterlandes und den Heiligen zu schenken.
Mit Umsicht und Fleiss waltet Nikd1aus des elterlichen Erbes. Er ist ein angesehener Bürger, Ratsherr, Richter und Tagsatzungsgesandter, und dass er nicht Landammann wurde, ist nur an seinem eigenen Widerstreben gescheitert (Durrer, B. I, S. 463; dazu S. XII).
Erst fünfzigjährig zieht er sich zurück von der Welt, von der eigenen Familie und den öffentlichen Geschäften, um noch an die zwanzig Jahre in äusserster Entsagung, in strengster Busse nur dem Verkehr mit Gott zu leben.
Allein gerade in dieser Abgeschiedenheit wird Nikolaus zum grossen Segen für sein Volk. Mehr und mehr kommen sie von nah und fern zu ihm, um sich seinem Gebet zu empfehlen, an seinem Beispiel aufzurichten, von ihm Trost und Rat zu erholen. Bischöfe und Grafen, Beauftragte in Sachen der Eidgenossenschaft wie Gesandte auswärtiger Städte und Mächte suchen bei ihm Antwort, Weisung oder Vermittlung in Fragen des öffentlichen Wohls, des inneren und äusseren Friedens (Durrer, B. I, S. XXV-XXVI, 584-585). In jenen entscheidungsvollen Dezembertagen des Jahres 1481, da der Gegensatz politischer Interessen die Entfremdung zwischen den Land-und Stadtkantonen so sehr vertieft hatte, dass sie in offener Feindschaft und in Bruderkrieg zu enden drohte, in einem Bruderkrieg, der wohl den Untergang der Eidgenossenschaft bedeutet hätte, ist Nikolaus von Flüe, über die engen Grenzen der Kantone hinweg auf das Wohl des Ganzen schauend, durch seinen Rat und die damals schon überirdische Kraft seiner Persönlichkeit der Retter des Vaterlands geworden. Sein Name wird mit dem Stanser Vorkommnis, einem der Eckpfeiler und grossen Marksteine in der Geschichte eurer Heimat, auf immer verbunden bleiben. Bruder Klaus ist nicht zu Unrecht als « der erste eidgenössische Patriot » bezeichnet worden. Er ist ganz einer von euch; er ist euer Heiliger (Durrer, B. I, S. XXIX, 115-170).
Das Vorbild christlicher Tugend und Vollkommenheit, das im hl. Nikolaus aufleuchtet, ist so einfach natürlich, so entzükkend schön, inhaltsvoll und vielgestaltig wie der Farbenreichtum einer in ihrer Blumenpracht daliegenden Alpenwiese. Aber nicht der Mannigfaltigkeit seines Vorbilds wollen Wir in dieser Stunde nachgehen. Was Wir aufzeigen möchten, sind bestimmte Brennpunkte im Strahlenfeld seiner Heiligkeit, und zwar jene Brennpunkte, die gleichzeitig die Kraftquellen angeben, aus denen euer Volk in der Vergangenheit seine Stärke geschöpft hat und deren es auch in der Zukunft nicht wird entbehren können. Solcher Brennpunkte glauben Wir drei nennen zu sollen : seine beherrschte Lebensweise, seine Gottesfurcht und sein Beten.
Die Lebensweise des Heiligen ist beherrscht, auf Verzicht und Abtötung eingestellt, nicht nur wenn wir sie mit unseren heutigen Daseinsverhältnissen vergleichen, sondern schon für die viel einfacheren seiner Zeit und seiner Heimat, ganz abgesehen davon, dass man auch damals das Leben zu geniessen wusste. Wo immer ihr Nikolaus betrachten möget, stets ist bei ihm der Geist Herr über den Leib. Diese Beherrschtheit gab auch seinem Aeusseren jene Ehrfurcht weckende Würde und herbe Schönheit, die uns aus seinen Bildern so wohltuend ansprechen. Nikolaus hat früh, schon als Junge, sehr ernst damit begonnen, sich Opfer aufzuerlegen, und er ist darin beharrlich vorangeschritten (Durrer, B. 1, S. 462). Durch sein überaus strenges Leben in der Klause gehört er zu den grossen Büssergestalten der katholischen Kirche, und wenn er in jenen zwanzig Jahren sich ausschliesslich vom Brot der Engel nährte, so war dieses Charisma die Vollendung und der Lohn eines langen Lebens der Selbstbeherrschung und Abtötung aus Liebe zu Christus.
Versteht ihr die Mahnung, die der Heilige durch sein Beispiel an unsere Zeit richtet? Ein wahrhaft christliches Leben ist undenkbar ohne Selbstbeherrschung und Entsagung; aber auch Volksgesundheit und Volkskraft können ihrer auf die Dauer nicht entbehren. In der Strenge der christlichen Lebensordnung liegen zugleich unersetzliche soziale Werte. Sie ist das wirksamste Gegengift gegen die Sittenverderbnis in allen ihren Erscheinungen.
Wenn — gewiss auch auf die Fürbitte des hl. Nikolaus — Gottes barmherzige Vorsehung eure Heimat vor der Verelendung bewahrt hat, wie sie als Folge zweier Weltkriege in grauenvollen Formen über andere Länder gekommen ist, so stattet ihr euren Dank dafür durch grossmütige Werke der Caritas ab; Wir benützen gerne auch diese Gelegenheit, um es anzuerkennen. Erweist euch jedoch darüber hinaus dankbar dadurch, dass ihr im Geist und in der Tat um Christi willen ein einfaches und beherrschtes Leben führt, auch in Wohlhabenheit und Reichtum.
Der Büsser vom Ranft mag einmalig sein. Auch Franz von Assisi war es; aber ganzen Schichten der Christenheit wurde sein heldenhaftes Beispiel zum Ansporn, ihr Erdendasein weniger auf Wohlleben und Macht, als vielmehr auf Sichbescheiden und auf die ewigen Güter auszurichten. Folgt ihr ebenso Nikolaus von Flüe nach! Dann erst könnt ihr in Wahrheit sagen, dass er euer Heiliger ist.
Wo Nikolaus von Flüe uns entgegentritt, ist er der gottesfürchtige Mensch. Auch als Kriegsmann, wie uns seine Kameraden eindrucksvoll berichten (Durrer, B. I, S. 464). Ueber sein Eheleben kann man die Eingangsworte der Eheenzyklika Unseres hochseligen Vorgängers Pius XI., setzen : « Der reinen Ehe Hoheit und Würde ». Von seiner öffentlichen Tätigkeit konnte Nikolaus selbst bezeugen : « Ich war mächtig in Gericht und Rat und in den Regierungsgeschäften meines Vaterlandes. Dennoch erinnere ich mich nicht, mich jemandes so angenommen zu haben, dass ich vom Pfade der Gerechtigkeit abgewichen wäre» (Durrer, B. I, S. 39). « Wer Gott fürchtet, wird ganz gross sein », sagt die Schrift (Judith 16, i9). Das gilt von eurem Heiligen.
Aufstieg und Niedergang der Völker entscheiden sich danach, ob ihr Eheleben und ihre öffentliche Sittlichkeit sich auf der Normallinie der Gottesgebote halten oder unter sie hinunter-gleiten.
Klingt nicht auch diese Feststellung wie ein Notruf in unsere Zeit hinein? Die Zahl der guten Christen ist heute nicht gering, die der Helden und Heiligen in der Kirche vielleicht grösser als zuvor. Aber die öffentlichen Verhältnisse sind weithin zerrüttet. Und das ist die Aufgabe der Kinder der Kirche, aller guten Christen, sich dieser Abwärtsbewegung entgegenzustemmen und durch Bekenntnis wie Tat, im Beruf wie in der Handhabung der Bürgerrecte, in Handel und Wandel des täglichen Daseins dem Gebot Gottes und Gesetz Christi wieder den Weg in alle Bereiche des menschlichen Lebens zu bahnen. Christliche, katholische Schweizer! Hier liegt auch eure Aufgabe für euer Vaterland. Führt sie durch im Geist und in der Kraft von Bruder Klaus! Dann erst könnt ihr in Wahrheit sagen, dass er euer Heiliger ist.
Nicolaus von Flüe war endlich ein Mann des Gebetes, sein Leben ein Leben aus dem Glauben. Die Aeusserung, die er in seinem Selbstbekenntnis über den Priester, den « Engel Gottes », und das « heiligste Sakrament des Leibes und Blutes Jesu Christi » (ebenda) getan, würde genügen, um zu zeigen, wie erfüllt von katholischen Glauben er war. Es ist bezeichnend, wie gerne er schon seit den Knabenjahren sich zu stundenlanger Versenkung ins Gebet zurückzog. Sein Leben im Ranft war ein Leben der Entsagung, um zur Vereinigung mit Gott zu kommen, das Ruhen in Gott der Sinn dieses Lebens. Auch seine Tat zur Rettung der Eidgenossenschaft Weihnachten 1481 war der Sieg eines Titanen des Gebetes über den Ungeist der Selbstsucht und Zwietracht.
Liegt nicht ein Fingerzeig Gottes darin, wenn Er eurer Heimat einen Volksheiligen schenkt, der so ausgesprochen ein Mann des Gebetes war wie Bruder Klaus? Die Kurve der Zerrüttung des öffentliches Lebens geht parallel mit der Kurve seiner Säkularisierung, seiner Loslösung vom Gottesglauben und Gottesdienst. Solcher Verweltlichung können aber — Land für Land und Volk für Volk — Einhalt tun nur Menschen und Gemeinschaften, die glauben und beten. Deshalb rufen Wir euch zu: « Betet, freie Schweizer, betet! », wie Nikolaus von Flüe gebetet hat. Dann könnt ihr mit Recht und in Wahrheit sagen, dass er euer Heiliger ist.
Schiller lässt im Wilhelm Teil den alten Attinghausen ein Wort sprechen, das ihr in jungen Jahren mit Begeisterung aufgenommen habt, das Wort (2. Aufzug, I. Szene):
Ans Vaterland, ans teure, schliess dich an,
Das halte fest mit deinem ganzen Herzen!
Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft.
Wenn ihr aber nunmehr fragt, wo im Vaterland die starken Wurzeln eurer Kraft liegen, so lautet die Antwort: sie liegen — nicht allein, aber vor allem anderen — in dem christlichen Unterbau, der das Gemeinwesen, seine Verfassung, seine soziale Ordnung, sein Riecht und seine gesamte Kultur trägt, und dieser christliche Unterbau ist durch nichts zu ersetzen, nicht durch Macht und nicht durch politische Höchstleistung. Die Stürme, die seit Jahren wie ein Weltgericht über die Kontinente dahingehen, haben dies mit Donnerstimme kundgetan. Auf Schweizer Boden hat jener christliche Unterbau in Nikolaus von Flüe Leben und Gestalt gewonnen wie wohl in keinem anderen eures Volkes. Schliesst euch ihm an, dann wird es gut bestellt sein um das Schicksal eures Vaterlandes.
Ihr seid stolz auf eure Freiheit. Ueberseht aber nicht, dass irdische Freiheit nur dann zum Guten ist, wenn sie aufgeht in einer höheren Freiheit, wenn ihr frei seid in Gott, frei euch selbst gegenüber, wenn ihr die Seele frei und offen bewahrt für das Einströmen der Liebe und Gnade Jesu Christi, des Ewigen Lebens, das Er selber ist. Nikolaus von Flüe verkörpert in wundersamer Vollkommenheit den Einklang von irdischer und himmlischer Freiheit. Folgt ihm nach! Er sei euer Vorbild, euer Fürbitter, euer und eures ganzen Volkes hundert-und tausendfältiger Segen.
PASTORALBESUCH IN DER SCHWEIZ
EUCHARISTIEFEIER AUF DER WIESE VOR DEM HAUS
DES “HL. BRUDERS KLAUS”
PREDIGT VON JOHANNES PAUL II.
Flüeli – Donnerstag, 14. Juni 1984
Liebe Brüder und Schwestern!
”Der Name Jesus sei euer Gruß!“
Mit diesem Grußwort eures Landesvaters darf ich hier im Flüeli in eure Mitte treten. Hier hat der heilige Bruder Klaus gelebt und gewirkt. Hier hat er mit seiner Frau Dorothea 23 Jahre lang ein glückliches Familienleben geführt und seine zehn Kinder großgezogen. Hier hat er in schwerem inneren Ringen den Entschluß gefaßt, um des Namens Christi willen Brüder, Schwestern, Frau und Kinder, Äcker und Haus zu verlassen (Mt 19, 29), um Gott allein zu dienen. Hier hat er im Ranft, auf eigenem Grund und Boden, zwanzig Jahre lang ein Einsiedlerleben geführt, weltabgeschieden und doch offen für die Nöte der Welt und seiner Heimat.
Im Namen Jesu grüße ich die Schweizer Bürger, die heute in diesen Gemeinden wohnen und das kostbare Andenken dieses außergewöhnlichen Heiligen hüten; ebenso alle Gläubigen, die sich von nah und fern mit uns, mit ihren Bischöfen und Priestern zu dieser Eucharistiefeier versammelt haben. Einen ehrerbietigen Gruß richte ich auch an die anwesenden Vertreter aus Staat und Gesellschaft, denen die Sorge für das Wohl der Bürger in den Kantonen anvertraut ist und für die das Wirken des hl. Nikolaus von der Flüe für Frieden und Gerechtigkeit heute in einer besonderen Weise Vorbild und Verpflichtung sein kann.
1. ”Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14, 17), so hörten wir eben in der Lesung aus dem Römerbrief. Der Apostel Paulus hat diese Worte der Gemeinde von Rom in einem damaligen konkreten Kontext geschrieben. Wir möchten sie heute im Blick auf dieses Land und diesen Heiligen auslegen, der ein Symbol für das Land und Volk ist: Nikolaus von der Flüe und die Schweiz.
Diese Wahrheit vom Reich Gottes ist im Leben des Nikolaus zur äußersten Konsequenz gekommen, weit über normale menschliche Maßstäbe hinaus. Er ist ein Mann, der viele Jahre seines Lebens hindurch auf Speise und Trank verzichtet hat, um das Reich Gottes zu bezeugen.
Im Leben und Wirken von Bruder Klaus in der Schweiz hat sich das Reich Gottes als ”Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ erwiesen. Vor über fünfhundert Jahren erging von diesem Ort aus, aus der Stille des Gebetes und der Gottverbundenheit im Ranft, seine Friedensbotschaft, die die entzweiten und zerstrittenen Eidgenossen auf der Tagsatzung zu Stans wieder zur Einheit gebracht und einen neuen Abschnitt eurer Geschichte eingeleitet hat. Hier im Flüeli, wo uns die Gestalt von Bruder Klaus immer noch lebendig vor Augen steht, glauben wir auch heute noch seine Stimme zu hören, die uns zum Frieden mahnt, zum Frieden in eurem eigenen Land, zur Verantwortung für den Frieden in der Welt, zum Frieden im eigenen Herzen.
2. Euer Landesvater mahnt auch heute noch zum Frieden im eigenen Land. ”Mein Rat ist auch, daß ihr in diesen Sachen gütlich seiet, denn ein Gutes bringt das andere. Wenn es aber nicht in Freundschaft möchte geschlichtet werden, so laßt doch das Recht das beste sein“, so schrieb Bruder Klaus im Jahre 1482 an Bürgermeister und Rat von Konstanz.
Güte und Wohlwollen sind die erste und grundlegende Bedingung für den Frieden, im Leben einer Gemeinschaft wie im Leben jedes einzelnen. ”Bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch und vergebt einander, wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat“, so ermahnt der heilige Paulus die Getauften (Kol 3, 12-14). Damit diese Mahnung in der harten politischen und sozialen Wirklichkeit eines Landes nicht bloß ein frommes Ideal bleibt, müssen wir sehen, wie sie sich ins öffentliche Leben umsetzen läßt. Die Geschichte des Stanser Ereignisses kann uns zeigen: Es gilt, einander anzunehmen bei aller Verschiedenheit und dafür verzichten zu können auf die Durchsetzung mancher sogar berechtigter Ansprüche.
3. Heute sind diesem Einander-Annehmen neue Aufgaben gestellt. Die Kluft zwischen den Generationen ist größer geworden. Die Jugendlichen müssen die Erwachsenen, die Erwachsenen die Jugendlichen, und beide zusammen müssen die ältere Generation annehmen. Gerade da braucht es heute viel ”Güte und Freundlichkeit“ : in Freundschaft die Probleme der anderen Generation verstehen, ihre berechtigten Anliegen anerkennen, in gemeinsamen Bemühen nach neuen Lösungen suchen. Laßt euch in eurem Bemühen um gegenseitiges Verstehen nicht entmutigen!
Bisher habt ihr euch in eurem Land als Mit-Eidgenossen verschiedener Sprache, verschiedener Kultur und verschiedenen Bekenntnissen gegenseitig angenommen; heute muß sich dieses Einander-Annehmen ausweiten auf Menschen ganz anderer Denk- und Lebensweise und vielleicht auch ganz anderer Religion, die bei euch Arbeit und Schutz suchen, indem sie euch ihre Dienste – und ihre Menschlichkeit! – anbieten. Gewiß eine schwierige Aufgabe, aber nicht schwieriger als das bisher erreichte Zusammenwachsen der Eidgenossenschaft und ihrer vielfältigen Menschengruppen. Seht in euren Gästen zuallererst Menschen, die mit euch in den grundlegenden Freuden und Sorgen, Wünschen und Hoffnungen zuinnerst verbunden sind und euer eigenes menschliches Los teilen!
4. Nicht immer kann jedoch das Einander-Annehmen in lauter ”Güte und Freundschaft“ geschehen; oft fehlt das Verständnis, oft fehlt der gegenseitige Kontakt. Darum gilt der weitere Rat des heiligen Bruders Klaus: ”Wenn es aber nicht in Freundschaft möchte geschlichtet werden, so laßt das Recht das beste sein“. Frieden beruht auf der Freundschaft, aber noch grundlegender auf der Gerechtigkeit. Der Schutz der Menschenrechte und der Einsatz für den Frieden gehören notwendig zusammen. Euer Staat rühmt sich, ein Rechtsstaat zu sein. Ein Rechtsstaat aber kann sich heute nicht bloß auf das bisher formulierte Recht stützen; den rasch sich wandelnden Verhältnissen entsprechend muß auch neues Recht geschaffen werden, ein Recht, das vor allem die Ungeschützten und Zurückgestellten verteidigt: das ungeborene Leben, die Jungen und die Alten, die Ausländer, die ausgebeutete Natur. Nehmt diese vordringlichen Aufgaben mutig in die Hand und versucht sie mit jener Weisheit zu lösen, von der Bruder Klaus sagt: ”Weisheit ist das allerliebste deswegen, weil sie alle Dinge zum besten anfängt“.
5. Brüder und Schwestern! Nikolaus von der Flüe erinnert uns auch an unsere Verantwortung für den Frieden in der Welt. Es gehört bereits zum Grundauftrag der Kirche, das Reich Gottes zu verkünden, das ein Reich von ”Gerechtigkeit, Frieden und Freude“ ist. Dieses Evangelium des Friedens verkündigt die Kirche heute mit besonderem Nachdruck, angesichts der weltweiten Bedrohungen unserer Tage.
Politisch-ideologische Spannungen, Hunger und Verelendung, Überschuldung vieler Staaten, vielfältige Verletzung der Menschenrechte: diese Quellen von Angst bis hin zur Verzweiflung wirken sich heute weltweit aus und lassen auch die besser gestellten Völker nicht unbeeinflußt. Alle Völker müssen sich heute gemeinsam diesen Herausforderungen stellen und menschenwürdige, gerechte Auswege suchen. In den Botschaften zum jährlichen Weltfriedenstag, in vielfältigen Friedensinitiativen und Kontakten mit Politikern, Diplomaten und Wissenschaftlern sucht sie unermüdlich dafür zu werben, daß es in der heutigen Lage keine Alternative zu Dialog, Interessenausgleich und gerechten Vereinbarungen gibt.
6. Was die Schweiz und ihre Beziehungen zu anderen Staaten betrifft, so hat Bruder Klaus damals seinen Mitbürgern nach der Überlieferung diesen Rat gegeben: ”Macht den Zaun nicht zu weit . . . Mischt euch nicht in fremde Händel“. Dieses Prinzip hat schließlich zu eurer anerkannten und sicher verdienstvollen Neutralität geführt. In ihrem Schutz ist die kleine Schweiz heute zu einer Wirtschafts- und Finanzmacht geworden. Wacht als demokratisch verfaßte Gemeinschaft aufmerksam über alle Vorgänge in dieser mächtigen Welt des Geldes! Auch die Finanzwelt ist Menschenwelt, unsere Welt, unser aller Gewissen unterworfen; auch zu ihr gehören ethische Grundsätze. Wacht vor allem darüber, daß ihr mit eurer Wirtschaft und eurem Bankwesen der Welt Friedensdienste leistet und nicht – vielleicht indirekt – zu Krieg und Unrecht in der Welt beitragt!
Die schweizerische Neutralität ist ein hohes Gut; nutzt ihre Möglichkeiten weiterhin voll aus, um Flüchtlingen Asyl zu gewähren und um Hilfswerke zu fördern, die nur von einem neutralen Land aus möglich sind. Nicht wenige meiner eigenen Landsleute haben zu verschiedenen Zeiten in eurem Land Zuflucht gefunden – so zum Beispiel in einem Lager hier in Flüeli -, und immer hört man mit Dankbarkeit von der raschen und großzügigen Hilfe der Schweizer in Katastrophenfällen. Ja, ”macht den Zaun nicht zu weit“, aber scheut euch nicht, über den Zaun hinauszuschauen, macht die Sorgen anderer Völker zu euren eigenen und bietet über die Grenzen hinweg eine helfende Hand, und dies auf der Ebene eurer staatlichen Organe und Finanzmittel. Die internationalen Organisationen mit Sitz in Genf bedeuten eine ehrende Verpflichtung für die ganze Schweiz und für jeden einzelnen Schweizer.
7. Liebe Brüder und Schwestern! Nikolaus von der Flüe mahnt uns zum Frieden im eigenen Land und zum Frieden in der Welt, ermahnt uns vor allem zum Frieden im eigenen Herzen. Jesus preist in der Bergpredigt nicht einfach die Friedfertigen, sondern die Friedensstifter, jene, die mit dem Einsatz ihres ganzen Wesens ”Frieden machen“. Der Friede muß erarbeitet, erlitten, erbetet werden.
Ein Mensch aber, der mit sich selbst uneins ist, der im inneren Unfrieden lebt, kann keinen Frieden stiften. Darum weist uns Bruder Klaus auf die tiefste Quelle allen Friedens hin, wenn er an den Rat von Bern schreibt: ”Fried ist allweg in Gott, denn Gott ist der Fried“. Gott in der Einheit seiner drei Personen ist das Urbild und die Quelle allen Friedens; er schenkt uns diesen Frieden als erste Gabe der Erlösung, als Anfang der Herrschaft Gottes auf Erden, als Geschenk des Heiligen Geistes: ”Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, . . . Treue“ (Gal 5, 22). ”Das Reich Gottes . . . ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14, 17). Wir müssen dem Geist für seinen Frieden danken und ihn bitten, sein Wirken in uns noch zu vertiefen. Dann kann der Friede, den Gott in uns wirkt, aus dem Innersten unserer Person ausstrahlen und andere überzeugen. Im Frieden Jesu Christi, den die Welt nicht geben kann (Joh 14, 27), können wir selbst echte Friedensstifter werden.
In dieser Gesinnung sind wir heute zum heiligen Nikolaus von der Flüe gepilgert. Diesen Frieden ”im Heiligen Geist“ wollen wir uns mit seiner Fürsprache erbeten! Am Bruder Klaus haben sich in wunderbarer Weise die Worte der heutigen Liturgie erfüllt: ”Wirf deine Sorge auf den Herrn, er hält dich aufrecht! Er läßt den Gerechten niemals wanken“ (Ps 55, 23). Und im Antwortpsalm hören wir geradezu unseren Heiligen beten: ”Unsere Tage zu zählen, lehre uns (o Gott), damit wir ein weises Herz gewinnen! . . . Laß deine Knechte dein Walten sehen und ihre Kinder dein herrliches Tun!“ (Ps 90, 12. 16). Ja, das ”herrliche Tun“ Gottes erblickt der heilige Mensch überall dort, wo wahrhaft Frieden gestiftet wird. Diese Botschaft brachten die Engel schon in der Nacht der Geburt des Herrn. Auf Schweizer Erde hat Bruder Klaus sie aufgenommen. Sein Friedenswerk hat er mit einem eindrucksvollen Zeugnis für die Ehre Gottes verbunden, die er seinen Landsleuten über Generationen hin bis heute vor Augen stellt.
8. Im heutigen Evangelium spricht Christus zu Petrus und den anderen Aposteln: ”Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Und wer um meines Namens willen Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder, Äcker und Häuser verlassen hat, wird das Hundertfache dafür erhalten und das ewige Leben gewinnen“ (Mt 19, 28. 29).
Seht, das ist Nikolaus von der Flüe, euer Landsmann! Vor 517 Jahren hat er um seiner Berufung willen seine Frau, seine Kinder, sein Haus, seine Äcker verlassen: Er hat die Worte des Evangeliums wörtlich genommen! In den Schweizer Kantonen hat sich sein Name eingeprägt: Er ist ein echter Zeuge Christi! Ein Mensch, der das Evangelium bis zum letzten Wort verwirklicht hat. Ehren wir auch seine Frau Dorothea: In einem durchlittenen Entschluß hat sie den Gatten freigegeben. Zu Recht trägt sie in den Augen vieler das heroische Lebenszeugnis des Bruders Klaus mit.
So bleiben die heiligen Menschen im Volke Gottes wie ein lebendiges Beispiel des Weges, der Wahrheit und des Lebens, das Christus selber ist.
Die Heiligen sind aber auch Richter: ”Ihr werdet die zwölf Stämme Israels richten“, so lautet das Evangelium. Ja, sie richten die Herzen, die Gewissen, unsere Taten. Sie richten die Lebensformen und Sitten. Sie richten die Generationen: vor allem die Generationen jenes Landes, aus dem Christus sie jeweils berufen hat.
Söhne und Töchter der Schweiz! Nehmt das Beispiel des Bruders Klaus an, stellt euch unter sein Urteil! Unter seinem Beispiel und Urteil soll die Geschichte eures Landes vorangehen. Seit so vielen Generationen ist unter euch ein Mensch geistig gegenwärtig, der mit seinem ganzen irdischen Leben die Wirklichkeit des ewigen Lebens in Gott bekräftigt hat. Schaut auf ihn! Und schaut auf diese Wirklichkeit Gottes! Gebt ihr aufs neue Raum in eurem Bewußtsein, in eurem Verhalten, in eurem Gewissen, in eurem Herzen!
”Unsere Tage zu zählen, lehre uns (o Gott), damit wir ein weises Herz gewinnen! . . . Laß deine Knechte dein Walten sehen und ihre Kinder dein herrliches Tun“ : Das gewähre uns der himmlische Vater als ein besonderes Erbe vom heiligen Bruder Klaus, dem Patron eures Vaterlandes. Amen.
SCHREIBEN VON JOHANNES PAUL II.
AN MSGR. JOHANNES VONDERACH
ANLÄSSLICH DES 500. TODESTAGES DES HL. NIKLAUS VON FLÜE
Meinem verehrten Bruder Johannes Vonderach,
Bischof von Chur
”Seit so vielen Generationen ist unter euch ein Mensch geistig gegenwärtig, der mit seinem ganzen irdischen Leben die Wirklichkeit des ewigen Lebens in Gott bekräftigt hat“. Diese Worte, die ich am 14. Juni 1984 bei der heiligen Eucharistiefeier auf dem Flüeli gesprochen habe, kommen mir erneut in den Sinn, wenn ich heute durch Dich, lieber Mitbruder, diese kurze Grussbotschaft an alle richte, die sich hier aus Anlass des 500. Todestages des heiligen Niklaus von Flüe – Bruder Klaus genannt – zum festlichen Gottesdienst versammelt haben oder aus der Ferne mit Euch verbunden sind.
Meine Gedanken sind beim ganzen Schweizervolk, das sich auf jenen 21. März 1487 zurückbesinnt, da der heilige Einsiedler und Friedensstifter im Ranft nach einer schweren Leidenswoche starb. Dieser Gottesfreund, dessen Lebenszeugnis bis in unsere Tage hereinleuchtet, ist geistig gegenwärtig in den Kirchen und Kapellen, die ihm geweiht sind oder sein Andenken bewahren; in Bildern und Schriften, die sein friedvolles und zugleich ernstes Antlitz aufstrahlen lassen; in Liedern und Gebeten, die von seinem Christsein künden. Vielfältige Schöpfungen des Glaubens und der Frömmigkeit wollen dazu einladen, das Leben und Sterben, das Beten und Wirken des Schweizer Landespatrons zu betrachten und seinem Vorbild nachzueifern.
In meiner Predigt vor drei Jahren habe ich Euch die Verantwortung für den Frieden im Kleinen und im Grossen, die ständige Aufgabe des Einanderannehmens, den heilsamen Verzicht auf einen Teil des materiellen Wohlstandes zugunsten der Schwachen und Armen in nah und fern eindringlich ins Bewusstsein gerufen. Dem Rat von Bruder Klaus ”Macht den Zaun nicht zu weit“ habe ich den Aufruf hinzugefügt: ” . . . scheut Euch nicht, über den Zaun hinauszuschauen, macht die Sorgen anderer Völker zu Euren eigenen und bietet über die Grenzen hinweg eine helfende Hand“.
Ich darf Euch heute an diese Worte erinnern und möchte beim Gedenken an den Todestag des heiligen Niklaus von Flüe den Gebetsruf des Psalmisten wiederholen: ”Unsere Tage zu zählen, lehre uns (o Gott), damit wir ein weises Herz gewinnen!“ (Ps 90, 12). Dieses weise Herz, das den Friedensstifter Bruder Klaus auszeichnete, brauchen wir alle, wenn wir Antwort auf die drängenden Fragen des Lebens erhalten wollen, wenn wir Lösungen für alte und neue Probleme suchen, wenn wir Schwierigkeiten im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich zu meistern haben, wenn wir im Auf und Ab der Stimmungen und Meinungen für das Wahre und Gerechte eintreten müssen. Ein weises Herz gewinnt nur, wer die ”Kraft aus der Tiefe“ schöpft, aus der Tiefe des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Ein weises Herz erlangt, wer sich in das unergründliche Geheimnis Gottes versenkt und im Gebet mit dem dreifaltigen Gott verbunden bleibt.
Im Vertrauen auf die Fürsprache der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria bitten wir den gerechten und barmherzigen Gott: ”Lass uns mit Bruder Klaus und seiner heiligmässigen Frau Dorothea immer mehr einsehen, dass echte Versöhnung und dauerhafter Friede allein von dir kommen“. Diese Bitte habe ich hier am Grab des heiligen Niklaus von Flüe ausgesprochen. Ich erneuere sie heute zusammen mit Euch und erteile allen von Herzen meinen besonderen Apostolischen Segen.
Aus dem Vatikan, am 3. September 1987.
IOANNES PAULUS PP. II
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