Dezember 1974
Lieber Jesus!
Mit meinen Briefen habe ich mir manche Kritik eingehandelt. „Er ist Bischof und Kardinal”, haben sie gesagt, „er hat sich Hände und Füße ausgerissen und an alle Welt geschrieben: an Mark Twain, Péguy, Casella, Penelope, Dickens, Marlowe, Goldoni usw. Aber keine einzige Zeile an Jesus!”
Du weißt, wie sehr ich mich bemühe, ständig mit Dir im Gespräch zu sein. Aber in einem Brief mit Dir zu sprechen, fällt mir schwer. Es sind einerseits zu persönliche Dinge, andererseits zu unbedeutende. Was soll ich an oder über Dich schreiben, nach all den Büchern, die schon über Dich geschrieben wurden?
Außerdem gibt es ja das Evangelium. So wie der Blitz heller ist als das Feuer, und das Radium alle Metalle übertrifft, so wie die Rakete schneller ist als der Pfeil eines Urwaldbewohners, so übertrifft das Evangelium alle anderen Bücher. Und dennoch will ich versuchen, Dir zu schreiben — unbeholfen wie ein Taubstummer, der sich nur mit großer Mühe verständlich machen kann. Mein Seelenzustand ist wie der des Propheten Jeremia, der auf Deine Aufforderung zu predigen, mit Widerstreben antwortet: „Ich bin doch nur ein Kind, Herr, ich kann mich nicht ausdrücken!”
Pilatus hat Dich dem Volk vorgeführt: „Seht diesen Menschen!” Er glaubte, Dich zu kennen, kannte aber nicht einmal ein kleines Stück Deines Herzens, obwohl Du so oft und auf tausenderlei Arten Deine Güte und Barmherzigkeit gezeigt hast.
Deine Mutter: Du wolltest diese Erde nicht verlassen, ohne für sie einen anderen Sohn zu finden, der für sie Sorge tragen konnte. So hast Du vom Kreuz herab zu Johannes gesagt: „Sieh da, deine Mutter!”
Die Apostel: Tag und Nacht warst Du mit ihnen zusammen, Du hast sie als wahre Freunde behandelt und ihre Schwächen ertragen. Mit unerschöpflicher Geduld hast Du sie gelehrt. Da die Mutter zweier von ihnen Dich um einen bevorzugten Platz für ihre Söhne bittet, gibst Du ihr zur Antwort: „Ich habe keine Ehrenplätze zu vergeben, sondern nur das Kreuz.”
Auch den anderen, die nach den ersten Plätzen streben, antwortest Du: „Man muß klein werden, den letzten Platz einnehmen und den anderen dienen.”
Im Abendmahlsaal hast Du die Apostel gewarnt: „Ihr werdet Angst bekommen und davonlaufen.” Sie protestierten; als erster und lauter als alle Petrus, der Dich dann auch prompt dreimal verleugnet hat. Du hast dem Petrus verziehen und dreimal zu ihm gesagt: „Weide meine Schafe!”
Wie Du den anderen Aposteln verziehen hast, steht bei Johannes im 21. Kapitel. Die Jünger sind im Boot, Du, der Auferstandene, bist die ganze Nacht am Ufer, kochst für sie, bedienst sie, bereitest ihnen das Mahl, gerösteten Fisch mit Brot.
Die Sünder: Der Hirte, der auf der Suche nach dem verlorenen Schaf ist, voll Freude, wenn er es findet und es glücklich in den Stall heimbringen kann, das bist Du. Dann bist Du der gute Vater, der den verlorenen Sohn bei seiner Heimkehr freudig umarmt. Auf jeder Seite des Evangeliums findet man diese vertrauten Szenen: Du hast Umgang mit Sündern, ißt an ihrem Tisch, Du lädst Dich selber ein, wenn sie es nicht zu tun wagen. Ich habe den Eindruck, Du kümmerst Dich mehr um das Leid, das durch die Sünde entsteht, als um die Beleidigung, die Gott damit angetan wird. Du vermittelst die Hoffnung auf Vergebung, wie wenn Du sagen wolltest: „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wieviel Freude mir eure Umkehr bereitet!”
Neben der Güte Deines Herzens kennzeichnet Dich ein gesunder Menschenverstand.
Dir ging es vor allem um das Innere des Menschen. Die Gesichter der Pharisäer waren abgezehrt vom langen Fasten, und Du meintest: „Ihre Gesichter gefallen mir nicht. Ihr Herz ist weit weg von Gott. Auf das Innere kommt es an, das Herz ist der Maßstab, nach dem geurteilt wird. Von innen her, aus dem Herzen der Menschen, kommen nämlich die bösen Gedanken: Ausschweifung, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Begierde, Stolz, Torheit usw.”
Unnütze Worte gefielen Dir überhaupt nicht: „Euer Reden sei ja, ja, nein, nein, was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen. Wenn ihr betet, macht nicht zu viele Worte!”
Du wolltest nicht, daß man alles an die große Glocke hängt: „Wenn du fastest, salbe dein Haar und wasche dir das Gesicht. Wenn du Almosen gibst, dann soll deine Linke nicht wissen, was die Rechte tut.” Dem geheilten Leprakranken hast Du aufgetragen: „Sag es keinem weiter!” Den Eltern des von den Toten auferweckten Mädchens befahlst Du mit energischer Stimme, daß sie das Wunder nicht von den Dächern posaunen sollen. Du pflegtest zu sagen: „Ich suche nicht meinen eigenen Ruhm. Meine Nahrung ist es, den Willen meines Vaters zu tun.”
Auf dem Kreuz hast Du Dein Leben beendet mit den Worten: „Alles ist vollbracht.” Übrigens hast Du immer darauf geachtet, die Dinge nicht halb zu tun. Einmal haben Dir die Apostel vorgeschlagen: „Die Leute folgen uns schon seit geraumer Zeit, schicken wir sie zum Essen nach Hause.” Doch Du meintest: „Warum geben wir ihnen nicht zu essen?” Als das Mahl mit den wunderbar vermehrten Broten und Fischen zu Ende war, sagtest Du: „Sammelt die Überreste, es soll nichts verderben.”
Du wolltest, daß man das Gute bis ins Detail ausführt. Als die Tochter des Jairus auferweckt worden war, kümmertest Du Dich darum, daß das Mädchen sogleich zu essen bekam. Die Leute sagten von Dir: „Er hat alle Dinge gut gemacht.”
Wieviel Weisheit spricht aus Deinen Worten! Einmal schickten die Gegner die Tempelwache zu Dir, um Dich zu verhaften. Sie kamen mit leeren Händen zurück. „Warum habt ihr ihn denn nicht festgenommen?” wurden sie gefragt. Ihre Antwort: „Kein Mensch hat je so gesprochen wie dieser!”
Du hast die Leute begeistert. Vom ersten Tag an sagten sie von Dir: „Dieser spricht mit Autorität! Nicht so wie unsere Schriftgelehrten.”
Die armen Schriftgelehrten: Gekettet an die 634 Vorschriften des Gesetzes, behaupteten sie, daß selbst Gott jeden Tag eine gewisse Zeit dem Studium des Gesetzes widme und sich vom Himmel aus mit den Meinungen der Schriftgelehrten beschäftige, um ja auf dem laufenden zu sein.
Du jedoch: „Ihr habt gehört, daß geschrieben steht . . . ich aber sage euch . . . !” Du bist der Herr über das Gesetz und nahmst für Dich das Recht und die Macht in Anspruch, es zu vervollkommnen. Mit großartigem Mut behauptetest Du: „Ich bin größer als der Tempel Salomos; Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.”
Nie wurdest Du müde zu lehren: In den Synagogen, im Tempel, auf Plätzen und Wiesen sitzend, auf den Straßen wandernd, in den Häusern, selbst bei Tisch.
Heute wollen alle den Dialog. Ich habe einmal die Dialoge in Deinem Evangelium gezählt, es sind 86: 37 davon mit Deinen Jüngern, 22 mit Leuten aus dem Volk, 27 mit Deinen Gegnern. Heute fordert die Pädagogik, daß alle an den brennenden Problemen Anteil nehmen sollen. Johannes der Täufer schickte vom Gefängnis aus einige Männer zu Dir, um Dich zu fragen: “Wer bist Du eigentlich?” Du hast keine Zeit mit Geschwätz verloren, Du heiltest die Kranken, die man Dir brachte und sagtest: „Geht und sagt dem Johannes, was ihr gesehen und gehört habt!” Für die Juden Deiner Zeit waren Salomo, David und Jona das, was für uns heute Dante, Garibaldi und Mazzini sind. Du hast ständig von David, Salomo und Jona gesprochen, aber auch von anderen volkstümlichen Persönlichkeiten. Immer mit großem Mut.
Als Du damals lehrtest: „Selig die Armen, selig die Verfolgten”, da war ich nicht dabei. Wenn ich dabeigewesen wäre, hätte ich Dir ins Ohr geflüstert: „Um Himmels willen, rede doch von etwas anderem, Herr, wenn Du willst, daß Dir jemand nachfolgt. Siehst Du denn nicht, wie alle nach Reichtum und Bequemlichkeit streben? Cato hat seinen Soldaten Feigen aus Afrika versprochen, Cäsar die Reichtümer Galliens, und — gut oder schlecht — sie hatten Erfolg damit. Nun kommst Du und versprichst Armut, Verfolgungen. Was meinst Du, wer Dir da folgen wird?”
Doch Du läßt Dich nicht abbringen. Ich höre, wie Du fortfährst zu sagen: „Ich bin das Weizenkorn, das sterben muß, damit es Frucht bringt. Es ist notwendig, daß ich auf dem Kreuz erhöht werde; denn von dort werde ich die ganze Welt an mich ziehen.” Und so ist es geschehen: Sie haben Dich ans Kreuz geschlagen, und Du hast das ausgenutzt, um die Arme auszubreiten und die Leute an Dich zu ziehen. Wer kann je die Menschen zählen, die bei Deinem Kreuz Zuflucht gefunden haben?
Seit Jahrhunderten strömen Menschen von überall her zu einem Gekreuzigten. Vor diesem Schauspiel stellt sich die Frage: Handelt es sich nur um einen bedeutenden und wohltätigen Menschen oder um einen Gott? Du hast selbst die Antwort gegeben, und wer nicht durch Vorurteile blockiert oder durch seinen Verstand geblendet ist, wird sie annehmen.
Als Petrus bekannte: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes”, hast Du diesem Bekenntnis nicht nur zugestimmt, sondern es auch belohnt. Du nahmst für Dich in Anspruch, was die Juden eigentlich nur Gott zuerkannten. Zu ihrem Ärgernis hast Du Sünden vergeben, hast Dich als Herr über den Sabbat bezeichnet, hast mit höchster Autorität gelehrt und Dich dem Vater gleichgestellt. Mehrfach wollten sie Dich wegen Gotteslästerung steinigen, denn Du sagtest, Du seiest Gott. Als sie Dich schließlich verhaftet und vor den Hohen Rat geschleppt hatten, fragte Dich der Hohepriester feierlich: „Bist du nun der Sohn Gottes oder bist du es nicht?” Du gabst ihm zur Antwort: „Ich bin es, ihr werdet mich zur Rechten des Vaters sehen!” Um Dein göttliches Wesen nicht zu verleugnen, hast Du sogar den Tod auf Dich genommen.
Das ist also der Brief. Aber nie war ich so unzufrieden mit dem Ergebnis wie diesmal. Ich habe den Eindruck, daß ich das Wesentliche über Dich nicht gesagt habe, und daß ich das, was ich gesagt habe, besser hätte formulieren müssen. Doch etwas tröstet mich: Es kommt nämlich nicht darauf an, daß jemand über Christus schreibt, sondern daß viele Menschen Christus lieben und ihm nachfolgen.
Und das geschieht — trotz allem — immer noch.
