II
DIE VIELFALT DER STAATEN, VÖLKER UND
KULTUREN
IN DER EINHEIT DER MENSCHHEIT
Die Einheit der Menschheit ist, wie wir im ersten Abschnitt feststellten, in der Geschichte niemals vollendet und auch nicht vollendbar; ihre Verwirklichung ist eine geschichtliche Aufgabe des Menschen, die verschiedene Stadien durchläuft, wobei zu beachten ist, daß dieser Lauf durchaus nicht im Sinne eines geradlinigen “Fortschritts” zu geschehen braucht, sondern Stillstand, Rückschläge und Scheitern in reichem Maße kennt. In jedem Stadium ist die Einheit der Menschheit jedoch als Wirklichkeit in der Anerkennung eines allgemeingültigen Sittengesetzes und allgemein verbindlicher Rechtsnormen für den Verkehr der Völker untereinander tatsächlich schon mehr oder weniger deutlich erfahrbar vorhanden. Im ganzen geht aus den Äußerungen Pius’ XII. hervor, daß er in der Entwicklung der Geschichte doch ein Wachstum, ein Reiferwerden der Möglichkeit zur Verwirklichung der Menschheitsgemeinschaft in organisierter Form annimmt und diese Entwicklung an einem Punkte angekommen sieht, wo das zur konkreten Aufgabe geworden ist.
Dieser Geschichtstendenz zur Verwirklichung der Einheit wirkt eine andere scheinbar entgegen: nämlich die zur Verwirklichung des Eigenlebens der Menschen und Völker in Einzelstaaten und in der Entfaltung vielfältiger Kulturen, die die Geschichte jedenfalls bisher viel sichtbarer beherrschte als das Einheitsstreben. Auch sie ist nach der Lehre der Kirche gottgewollt, sie entspricht der Natur, die die Einzelnen wie die Völker zur Entwicklung und Ausreifung aller ihnen gegebenen guten Anlagen drängt. In der gefallenen Natur mit ihrer Störung der Ober- und Unterordnung der verschiedenen Antriebe freilich herrscht eine Neigung zur Überwucherung des Dranges zur Selbstverwirklichung, so daß er seine durch das Recht des anderen und die Pflicht zur Gemeinschaft gesetzten Grenzen eigen- und machtsüchtig überschreitet. In dem Plane Gottes sind Einheit und Vielfalt der Selbstverwirklichung jedoch kein Widerspruch, sondern bedeuten einen Reichtum; er will Ordnung, in der alles an seinem Orte ist.
In der Geschichte freilich ist Einheit häufig der Feind der Vielfalt. Denn Einheit ist in der geschichtlichen Wirklichkeit auch losgelöst vom Plane Gottes ein wirksames Prinzip. Einmal drängt alle Macht zur Vereinheitlichung, um ihre Ausübung zu vereinfachen und ihre Verfügungsgewalt über die ihr Unterworfenen zu erleichtern. Diese Vereinheitlichung durch Unterwerfung muß Uniformierung und Mißachtung der Eigenständigkeit aller Sonderart bedeuten. Dafür sind die verschiedenen “Imperialismen” und “Totalitarismen” früher und heute Zeugnis. Diese Tendenz aber hat noch einen tieferen Aspekt als den der Zweckmäßigkeit: der Widersacher, der der “Affe Gottes” ist, versucht immerdar, sich seiner Pläne zu bemächtigen, um sie zu verderben und ihren eigentlichen Inhalt ins Gegenteil zu verkehren. So wie er das Prinzip der Selbstverwirklichung zu Selbstsucht und Maßlosigkeit zu steigern versucht und dadurch zum Scheitern bringt, so verkehrt er das Prinzip der Einheit zu dem der Gleichmacherei und Selbstentmächtigung der Menschen, um sie seiner bösen Macht desto wirksamer zu unterwerfen und sie ins Nichts zu führen. Einheit als Einerleiheit und Versklavung und Entwürdigung des Menschen ist ein sicheres Zeichen des Reiches des Antichristen, das ja nach der Offenbarung am Ende der Geschichte für kurze Zeit die Welt beherrschen wird. Aber auch alle Reiche, die ihren Untertanen solche Einheit aufzwingen, sind geschichtliche Vorformen seiner Herrschaft, denn seine Politik ist ja in der ganzen Zeit zwischen Christi Auferstehung und Wiederkunft gegenwärtig — sie ist in gewissem Sinne ja schon die “Endzeit”.
Deshalb betont die Kirche und betont Pius XII. so nachdrücklich, daß die Entfaltung des Eigenlebens der Völker im gottgewollten Plane der Schöpfung liegt und die Achtung und Bewahrung der so entstehenden Vielfalt ein Kennzeichen des wahren und echten Einheitsstrebens ist.
Im Lichte der rechtlichen und tatsächlichen Einheit des Ganzen der Menschheit fügen sich die Einzelnen nicht bindungslos aneinander wie Sandkörner; vielmehr einen sie sich in organischen, harmonischen und wechselseitigen Beziehungen (die mit dem Wandel der Zeiten verschiedenartige Formen annehmen können) entsprechend ihrem natürlichen und übernatürlichen Ziel und Antrieb. Daß die Völker sich entfalten und sich unterscheiden gemäß der Verschiedenheit von Lebens- und Kulturbedingungen, ist nicht auf Spaltung der Einheit des Menschengeschlechts hingerichtet; die Völker sollen diese vielmehr durch die Mitteilung ihrer besonderen Gaben und durch den gegenseitigen Austausch ihrer Werte reicher und schöner gestalten; dies kann aber nur geschehen und im ganzen wirksam sein, wenn eine wechselseitige Liebe und eine lebendig gefühlte Zuneigung alle Kinder desselben Vaters und alle durch dasselbe Gottesblut Erlösten eint.1
Die Kirche fühlt sich deshalb gebunden und verpflichtet, die Eigenart der Völker aufs genaueste zu respektieren und beansprucht, darin ein Vorbild für die Staatsmänner zu sein. Die nachfolgenden Ausführungen Pius’ XII. aber wollen sicher nicht nur eine Beschreibung der Haltung der Kirche gegenüber den Völkern in ihrer Geschichte sein, sondern auch ein Programm für ihre missionarische Tätigkeit, die — nach manchen Fehlern in der Vergangenheit — schon seit langem immer bewußter und klarer von diesen Einsichten geleitet wird.
Die Kirche bewahrt mit größter Treue die erzieherische Weisheit Gottes. Daher kann sie nicht daran denken und denkt nicht daran, die für jedes Volk eigentümlichen Sonderwerte anzutasten oder minder zu achten, die von jedem mit empfindsamer Anhänglichkeit und mit begreiflichem Stolz gehegt und als kostbares Vätergut betrachtet werden. Das Ziel der Kirche ist die Einheit im Übernatürlichen und in umfassender Liebe durch Gesinnung und Tat, nicht die Einerleiheit, die nur äußerlich und oberflächlich ist und gerade darum kraftlos macht. Die Kirche begrüßt freudig und begleitet mit mütterlichem Wohlwollen jede Einstellung und Bemühung für eine verständige und geordnete Entfaltung solcher eigengearteter Kräfte und Strebungen, die im innersten Eigensein jedes Volkstums wurzeln; Voraussetzung dabei ist nur, daß sie mit den Verpflichtungen nicht in Widerspruch stehen, die sich der Menschheit durch ihren einheitlichen Ursprung und durch die Einheitlichkeit ihrer gemeinsamen Aufgaben auferlegen.2
Nun besteht freilich die Sonderart der Völker und Kulturen nicht nur in ihren starken, sondern auch in ihren schwachen Seiten; häufig bedingen sich beide gegenseitig, so daß eine bestimmte Schwäche die Kehrseite einer bestimmten Stärke ist und umgekehrt. Pius XII. sieht diese Schwierigkeit der Verwirklichung der Vielheit in der Einheit mit sehr realistischem Blick, der geschärft ist durch die langen Erfahrungen der weltumspannenden katholischen Kirche. Er gibt ein sehr anschauliches Bild von der Kompliziertheit der Aufgaben, denen sich der Politiker bei seinen Bemühungen um die Verwirklichung einer Gemeinschaft der Völker und Staaten gegenübersieht, und wenn er ein relativ einfaches Grundprinzip für ihre Lösung angibt, so ist er sich doch nach seinen eigenen Worten bewußt, daß die Schwierigkeit seiner Anwendung bestehen bleibt. Aber es ist auch schon ein Schritt vorwärts, ein solches theoretisches Grundprinzip überhaupt zu besitzen.
Der Jurist, der Politiker, der einzelne Staat wie auch die Gemeinschaft der Staaten müssen alle naturgegebenen Tendenzen der Einzelnen wie der Gemeinschaften in ihren Berührungspunkten und wechselseitigen Beziehungen in Rechnung stellen. so die Tendenz zur Anpassung und Assimilation, die oft bis zum Versuch des Aufgesaugtwerdens geht, oder umgekehrt die Tendenz zum Ausschluß und zur Vernichtung alles dessen, was nicht assimilierbar erscheint; die Tendenz zur Ausdehnung, und wieder umgekehrt die Tendenz, sich abzuschließen und abzusondern; die Tendenz, sich ganz hinzugeben und auf sich selbst zu verzichten, und umgekehrt das Haften an sich selbst und die Ablehnung jeder Hingabe an andere; das Verlangen nach Macht, die Gier, andere in Abhängigkeit zu halten usw. Alle diese Dynamismen des Vordrängens oder der Verteidigung liegen in der natürlichen Anlage der Einzelnen, der Völker, der Rassen und der Gemeinschaften in ihren Schranken und Grenzen, in denen sich nie alles zusammenfindet, was gut und gerecht ist, verwurzelt. Gott allein, der Ursprung alles Seins, umfaßt durch seine Unendlichkeit alles in sich, was gut ist.
Auf Grund dieser Unserer Darlegungen ist es leicht, das theoretische Grundprinzip für die Behandlung dieser Schwierigkeiten und Tendenzen aufzustellen: in den Grenzen des Möglichen und Erlaubten alles zu fördern, was die Einheit erleichtert und wirksamer macht; einzudämmen, was sie stört; manchmal zu ertragen, was sich nicht aus dem Wege räumen läßt und um dessentwillen doch die Gemeinschaft der Völker nicht scheitern darf wegen des höheren Gutes, das man von ihr erwarten kann.3
Bei all dem aber muß man sich bewußt sein, daß auch die Sonderart der Kulturen nicht Ewiges und Beständiges ist und auch kein letzter Wert. Sie stehen im Fluß der Geschichte und sind dem Gesetz des Werdens und Wandels unterworfen. Sie können aber auch erstarren, so daß sie nur dadurch zu neuem Leben kommen, daß sie sich mit anderen vermischen oder in anderen aufgehen. Das höhere Gut der größeren Gemeinschaft kann also auch einen Verzicht, ein Opfer, zum mindesten bestimmter Züge oder historischer Formen, des Eigendaseins verlangen. Das Christentum ist den Kulturen gegenüber in der Geschichte oft ein Anstoß zu solchem Wachstum gewesen, wenn es auch ihren bleibenden Werten gleichzeitig Festigkeit verleihen mochte. Aber es weiß, daß die Geschichte in irdischen Formen nicht vollendbar ist und daß die letzte vollkommene Einheit jenseits der Geschichte liegt.
Keine Aufgabe zeitlicher Art gelangt zum Ziel, ohne andere heraufzubeschwören, ohne eben durch ihre Verwirklichung neue Bedürfnisse, neue Ziele zu erzeugen. Die menschlichen Gemeinschaften bleiben immer im Werden, immer auf der Suche nach einer besseren Organisation, und oft kommen sie nur dadurch über sich selber hinaus, daß sie verschwinden und damit glänzenderen und fruchtbareren Zivilisationen zum Durchbruch verhelfen. Jeder von ihnen verleiht das Christentum ein Element des Wachstums und der Festigkeit; vor allem lenkt es ihren Vormarsch auf ein ganz bestimmtes Ziel hin und verleiht ihnen die unumstößliche Gewißheit eines Vaterlandes, das nicht von dieser Welt ist und das allein eine vollkommene Einheit kennen wird, weil es aus der Kraft und dem Lichte Gottes selber hervorgeht.4
Für die politische Organisation der Staatengemeinschaft, die der Papst bejaht und fördern möchte (und für die die heutige Organisation der Vereinten Nationen nur eine Vorform sein kann) ergibt sich daraus, daß sie eine föderative Struktur haben muß. In einer Ansprache an den Kongreß des “Mouvement universel pour une Confédération mondiale” hat Pius XII. einen solchen föderativen Charakter einer kommenden Weltorganisation ausdrücklich als eine Forderung der katholischen Soziallehre bezeichnet.
Sie sind der Meinung, daß diese Weltorganisation, um wirksam zu sein, föderativen Charakters sein müsse. Wenn Sie darunter verstehen, daß sie von dem Automatismus einer mechanischen Gleichmacherei befreit werden müsse, so sind Sie auch damit in Übereinstimmung mit den Prinzipien des sozialen und politischen Lebens, die die Kirche mit Entschiedenheit aufstellt und vertritt. In der Tat wäre keine Weltorganisation brauchbar, die nicht mit der Vielfalt der natürlichen Beziehungen, mit der normalen organischen Ordnung übereinstimmte, die die besonderen Verhältnisse der Menschen und der verschiedenen Völker regelt. Andernfalls würde es ihr, wie immer sie aufgebaut wäre, unmöglich sein, Bestand und Dauer zu haben …
Solange man die universale politische Organisation nicht auf diese unerläßliche föderative Grundlage gestellt hat, läuft man Gefahr, den ‘Todeskeim der mechanischen Gleichmacherei in sie selber hineinzulegen. Wir möchten alle, die daran denken, sie zu verwirklichen, einladen, darüber, zumal auch vom föderalistischen Standpunkt aus, nachzudenken. Andernfalls würden sie die zersetzenden Kräfte fördern, unter denen die politische Ordnung nur allzusehr gelitten hat. Sie würden nur noch einen weiteren gesetzlichen Automatismus zu allen anderen hinzufügen, die. die Nationen zu ersticken und den Menschen zu einem passiven Werkzeug herabzuwürdigen drohen.5
Was für eine künftige Gemeinschaft der Staaten gilt: daß in ihr kein Glied in wesentlichen Fragen seines Eigenlebens unterdrückt oder ungerecht behindert wird, das gilt — auch abgesehen von der Frage einer organisierten Weltgemeinschaft — prinzipiell für jedes friedliche und geordnete Zusammenleben der Völker.
In verschiedenen Äußerungen hat Pius XII. die Vorbedingungen einer solchen Friedensordnung aufgezählt, deren Erfüllung im letzten Grunde eine Aufgabe der sittlichen Einsicht und des sittlichen Willens ist. In einer dieser Äußerungen wird dabei der Ausdruck “Soziale Frage”, die gewöhnlich nur auf das Verhältnis der Klassen in der Industriegesellschaft angewandt wurde; auch für die Frage des Verhältnisses zwischen den Völkern gebraucht. Das trifft genau den Kern der heutigen Weltsituation: auch die Völker unterscheiden sich nach “Besitzenden” und “Habenichtsen”, gleichsam “proletarischen” Völkern, und eine der Vorbedingungen des Klassenkampfes zwischen den gesellschaftlichen Schichten: nämlich das Erwachen eines scharfen und leidenschaftlichen Bewußtseins von der Ungerechtigkeit eines solchen Zustandes, ist auch unter den Völkern da und wird vom Kommunismus eifrig gefördert. Die Spannungen der Weltlage drohen also unter das Zeichen des Klassenkampfes zu geraten. Der Papst bezeichnet den entscheidenden Punkt: diese Völker haben das Gefühl, daß sie nur Objekte des internationalen Lebens sind — sie leiden unter dem, was Marx die “Selbstentfremdung” nannte —; es gilt, ihnen das Selbstbewußtsein zurückzugeben, daß auch sie vielmehr Subjekte, d. h. verantwortliche Teilnehmer an der Gestaltung dieses Lebens sind.
Die grundlegende Vorbedingung eines gerechten und ehrenhaften Friedens ist die Sicherung des Rechtes auf Leben und Unabhängigkeit für alle Nationen, ob groß oder klein, ob mächtig oder schwach. Der Lebenswille einer Nation darf niemals zum Todesurteil für eine andere führen. Ist diese Rechtsgleichheit vernichtet, verletzt oder gefährdet worden, so fordert die Rechtsordnung eine Wiedergutmachung, deren Ausmaß nicht durch das Schwert oder selbstsüchtige Willkür, sondern durch die Grundsätze der Gerechtigkeit und in gegenseitigem Entgegenkommen festgesetzt werden sollte.6
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Gerechtigkeit, die auf beiden Seiten mit gleichem Maß mißt. Was eine Nation, ein Staat aus elementarem Rechtsgefühl verlangt, worauf er nie verzichten würde, das möge er auch bedingungslos dem anderen Staat, der anderen Nation zugestehen. Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? Ja, aber die nationale Leidenschaft ist zu sehr und fast unbewußt geneigt, mit doppeltem Maß zu messen. Es bedarf der Übung im Denken und Wollen, um auf dem heiklen Boden der nationalen Auseinandersetzung immer sachlich zu bleiben.
Gegenseitige Achtung in doppeltem Sinne: keine Verachtung der anderen Nation, etwa deshalb, weil sie weniger leistungsfähig erscheint als die eigene. Verachtung aus diesem Grunde ist ein Zeichen von Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit. Ein Vergleich der nationalen Leistungsfähigkeiten muß die verschiedensten Gebiete berücksichtigen, und es bedarf reicher Kenntnisse und langer Erfahrung, um jenen Vergleich wagen zu können.
Sodann Achtung des Rechts eines jeden Volkes, seine Leistung zu tätigen. Es wäre ein Unrecht, sie durch Zwangsmaßnahmen künstlich einzuengen oder zu drosseln.7
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Im Rahmen einer sittlich begründeten neuen Ordnung ist kein Platz für die Antastung der Freiheit, Unverletzlichkeit und Sicherheit anderer Nationen, gleichviel welcher Ausdehnung oder Wehrhaftigkeit sie sein mögen. So unvermeidlich es ist, daß die überragende Leistungsfähigkeit und Macht von Großstaaten der wirtschaftlichen Gruppenbildung zwischen ihnen selbst und den kleineren und schwächeren Staaten die Wege weist, so muß doch, wie für alle — im Rahmen des Allgemeinwohles — so auch für die kleineren Staaten unbestritten bleiben das Recht auf die Achtung vor ihrer politischen Freiheit, auf die wirksame Wahrung jener Neutralität, die ihnen nach Natur- und Völkerrecht bei politischen Verwicklungen zusteht, auf den Schutz ihrer wirtschaftlichen Entfaltung. Denn nur so werden sie das Gemeinwohl, den materiellen und geistig-sittlichen Wohlstand ihres eigenen Volkes entsprechend erreichen können.8
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Die soziale Frage ist zweifellos auch eine wirtschaftliche Frage, aber doch viel mehr noch eine Frage, die die geregelte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens betrifft, und im tiefsten Grunde eine moralische und darum religiöse Frage.
Als solche kann man sie so stellen: besitzen die Menschen vom Einzelnen über das Volk bis zur Gemeinschaft der Völker — die moralische Kraft, solche öffentlichen Verhältnisse zu schaffen, daß im sozialen Leben kein Einzelner und kein Volk nur Objekt ist, das heißt ohne jedes Recht und der Ausbeutung durch andere ausgeliefert, sondern daß vielmehr alle auch Subjekt sind, das heißt rechtmäßig teilnehmen an der Gestaltung der sozialen Ordnung, und daß alle entsprechend ihrem Handwerk oder ihrem Beruf ruhig und glücklich leben können mit hinreichenden Mitteln zum Unterhalt, wirksam geschützt gegen die Übergriffe einer egoistischen Wirtschaft, in einer nur vom Gemeinwohl begrenzten Freiheit und in einer menschlichen Würde, die jeder beim Anderen ebenso achtet wie bei sich selbst.9
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Im Rahmen einer sittlich begründeten neuen Ordnung ist kein Platz für enge, selbstsüchtige Berechnungen, die auf eine derartige Aneignung der gemeinnützigen wirtschaftlichen Hilfsquellen und Rohstoffe abzielen, daß die von der Natur weniger begünstigten Nationen davon ausgeschlossen bleiben. Es ist Uns ein großer Trost zu beobachten, daß dieser Grundsatz auch bei solchen Nationen sich Geltung zu verschaffen beginnt, die bei seiner Anwendung zu den “gebenden”, nicht zu den “nehmenden” gehören. Aber es ist billig, daß die Lösung dieser weltwirtschaftlich entscheidenden Frage in planvollem Fortschritt und unter den nötigen Sicherungen vor sich gehe und aus den Mängeln und Versäumnissen der Vergangenheit ihre Lehren ziehe. Wollte man im kommenden Friedenswerk diesen Punkt nicht entschlossen ins Auge fassen, so würde in den Beziehungen der Völker ein tiefgehender und weitausgreifender Wurzelstock zurückbleiben, aus dem bittere Spannungen, neidgeladene Gegensätze und schließlich neue Konflikte hervorsprießen müßten.10
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Es gibt einen Punkt, auf den man nie genug hinweisen kann: das ist der Mißbrauch einer politischen Überlegenheit in der Nachkriegszeit, um wirtschaftliche Konkurrenz auszuschalten. Nichts könnte das Werk der gegenseitigen Annäherung und des gegenseitigen Verständnisses unheilvoller vergiften.11
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Vor allem ist es notwendig, daß der Sieg über das verhängnisvolle Prinzip des Nutzens als Basis und Regel des Rechts, der Sieg über jene Konfliktkeime, die in zu schreienden und gelegentlich absichtlich fixierten Gegensätzen im Bereich der Weltwirtschaft bestehen, der Sieg über den Geist eines kalten Egoismus jene aufrichtige rechtliche und wirtschaftliche Gemeinschaft herbeiführt, die nach den Vorschriften des göttlichen Gesetzes die brüderliche Zusammenarbeit der ihrer Autonomie und Unabhängigkeit sicheren Völker miteinander zustande bringt.12
Auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens ist die dem Volk und dem Staat als kultureller und politischer Einheit entsprechende Größe die Nationalwirtschaft. Der Papst bezeichnet sie sogar als “natürliche Einheit”, d. h. nach dem Sprachgebrauch der katholischen Sozialphilosophie als etwas aus der Natur der Sache notwendiges und nicht beliebig verfügbares. Er fordert dementsprechend auch für sie volle Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeit all ihrer Produktionsquellen. Er sieht diese Forderung gefährdet, wenn man sie dem freien Spiel der Weltwirtschaft und ihrem Mechanismus aussetzt. Dabei hat er offenbar solche Fälle wie die der kolonialen Ausbeutung von Rohstoffquellen oder auch der Entwicklung von Monokulturen in bestimmten Gebieten im Auge, deren Wirtschafts- und Sozialleben bei jeder Konjunkturkrise aufs schwerste erschüttert wurden. Keinesfalls ist mit einer solchen Forderung eine völlige Autarkie der Nationalwirtschaften gemeint, die einen strengen staatlichen Dirigismus voraussetzt und in einem auf Austausch und Ausgleich angewiesenen Zusammenleben der Völker die Herrschaft des Prinzips der Selbstsucht und des engen Eigennutzes bedeuten muß.
Die Forderung nach harmonischer Entwicklung der Nationalwirtschaften entspringt vielmehr dem Prinzip einer möglichst reichgegliederten Gemeinschaftsordnung, die deshalb subsidiäre Ordnung sein muß — d. h. eine Ordnung, in der jedes Glied die ihm zustehende und mögliche Entfaltung und Regelung seiner Verhältnisse selber überlassen bleibt und die Gebilde der jeweils höheren Ordnung nur eine ergänzende und regelnde Funktion haben. Diesem Prinzip der organischen stufenweisen Gliederung entspricht auch der Vorschlag des Papstes auf regionale Zusammenfassung verschiedener nationaler Wirtschaftseinheiten — wie sie etwa in der Montanunion, dem gemeinsamen Europäischen Markt, Euratom, verwirklicht oder in der Verwirklichung sind.
Die Nationalwirtschaft ist als Wirtschaft eines in einer staatlichen Einheit zusammengefaßten Volkes selber eine natürliche Einheit, die die möglichst harmonische Entfaltung aller ihrer Produktionsmittel im gesamten, von dem Volke bewohnten Gebiet verlangt. Infolgedessen haben die internationalen Wirtschaftsbeziehungen eine zwar positive und notwendige, jedoch zweitrangige Funktion. Die Umkehrung dieses Verhältnisses ist einer der großen Irrtümer der Vergangenheit gewesen, dessen Wiederkehr die Verhältnisse, in denen eine große Anzahl von Völkern heute zwangsweise leben müssen, leicht begünstigen könnten. Unter diesen Umständen wäre es vielleicht wichtig zu untersuchen, ob eine regionale Zusammenfassung mehrerer nationaler Wirtschaftseinheiten es ermöglichen könnte, die besonderen Produktionskräfte wirksamer als früher zu entwickeln.13
Zur Erläuterung dieser Forderung sei hier eine wichtige Äußerung Pius’ XII. über die Funktion der Wirtschaft angefügt. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern dient den Zwecken des sozialen Lebens, dem Gemeinwohl. Sie kann also nicht bloß ihrer Eigengesetzlichkeit — dem Mechanismus der Wirtschaftsgesetze — folgen, sondern ist den Forderungen des Soziallebens unterworfen. Die katholische Lehre sucht einen Mittelweg zwischen einer schrankenlos freien, selbstgesetzlichen Wirtschaft und einem staatlichen Dirigismus, der sich mit der Freiheit, die eines der wichtigsten Prinzipien des Soziallebens und ein Lebensexistential des Menschen ist, nicht verträgt. Das Grundprinzip dabei muß bleiben: Der Mensch darf niemals Objekt der Wirtschaft werden.
Wer Wirtschaftsleben sagt, sagt Sozialleben. Das Ziel, dem es seiner Natur nach zustrebt und dem zu dienen die einzelnen gleichermaßen in den verschiedenen Formen ihrer Tätigkeit verpflichtet sind, besteht darin, allen Gliedern der Gesellschaft die materiellen Grundlagen, die zur Entfaltung ihres kulturellen und geistigen Lebens notwendig sind, in einer stabilen Weise zugänglich zu machen. Es ist hier also nicht möglich, irgend ein Resultat zu erzielen ohne äußere Ordnung, ohne soziale Normen, die auf eine dauerhafte Erreichung dieses Zieles abzielen; und sich auf einen Automatismus zu verlassen, ist im Wirtschaftsleben eine nicht minder eitle Chimäre als auf jedem anderen Lebensgebiet überhaupt.
Das Wirtschaftsleben ist als soziales Leben Leben von Menschen und kann daher nicht ohne Freiheit begriffen werden. Aber diese Freiheit kann nicht die faszinierende, aber trügerische Formel von vor hundert Jahren sein, d. h. eine rein negative Freiheit von dem regelnden Willen des Staates; ebenso wenig die Pseudo-Freiheit unserer Tage, die darin besteht, sich dem Kommando riesiger Organisationen zu unterwerfen. Die echte und gesunde Freiheit kann nur die Freiheit von Menschen sein, die sich gemeinsam dem objektiven Ziel der Volkswirtschaft verbunden fühlen, aber das Recht haben zu verlangen, daß die soziale Regelung der Wirtschaft in keiner Weise ihre Freiheit in der Wahl der Mittel zu diesem Ziele bedroht, sondern sie vielmehr garantiert und schützt. Das gilt gleicherweise, ob es sich um unabhängige oder abhängige Arbeit handelt, denn im Hinblick auf das Ziel der Sozialwirtschaft ist jedes produzierende Glied Subjekt und nicht Objekt des Wirtschaftslebens.14
Nicht minder wichtig für eine Friedensordnung der Völker erscheint dem Papst die Sicherung des Rechtes der Minderheiten in geschlossenen Nationalstaaten, deren Behandlung gerade in Europa immer eine Quelle von Störungen und Konflikten gewesen ist. Es ist bedeutsam, daß der Papst über das strenge Recht hinaus die Anwendung des Prinzips der Billigkeit (vgl. auch S. 39) gegenüber ihren Ansprüchen fordert, das ja in einer demokratischen Politik in einer pluralistischen Gesellschaft überhaupt ein Schlüsselprinzip ist.
Besonders einem Punkt muß Aufmerksamkeit geschenkt werden, wenn man eine bessere Ordnung in Europa anstrebt. Er betrifft die wahren Bedürfnisse und die gerechten Forderungen der Nationen und Völker wie der völkischen Minderheiten. Wenn diese Forderungen auch nicht immer auf ein strenges Recht sich berufen können, sofern schon anerkannte Verträge oder andere entgegenstehende Rechtstitel vorliegen, so verdienen sie doch wohlwollende Berücksichtigung. Man sollte ihnen auf friedlichem Wege entgegenzukommen oder selbst, wenn nötig, durch eine billige, weise und einmütige Abänderung der Verträge sie zu erfüllen trachten. Würde so ein wahres Gleichgewicht zwischen den Nationen hergestellt und die Grundlagen eines gegenseitigen Vertrauens geschaffen, so wären viele Zündstoffe zur Anwendung von Gewalt beseitigt.15
Im Rahmen einer sittlich begründeten neuen Ordnung ist kein Platz für die offene oder getarnte Unterdrückung der den nationalen Minderheiten zustehenden kulturellen und sprachlichen Eigenart, für Verhinderung oder Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten, für die Beschränkung oder Verhinderung ihrer natürlichen Fruchtbarkeit. Je gewissenhafter die verantwortliche Staatsmacht die Rechte der Minderheit achtet, um so sicherer und wirksamer kann sie von deren Angehörigen die gesetzliche Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten verlangen, die ihnen mit allen übrigen Staatsbürgern gemeinsam obliegen.16
Als Modell einer friedlich geordneten und in der Gesinnung geeinten politischen Gemeinschaft verschiedener Bestandteile empfiehlt der Papst den Völkern und Politikern die Schweiz.
Heutzutage, da der Gedanke der Einheit von Staat und Nation, der oft bis zur Verwechslung der beiden Begriffe übertrieben wird, dogmatische Gültigkeit beansprucht, muß der Sonderfall der Schweiz in den Augen gewisser Leute geradezu als paradox erscheinen. Er sollte jedoch eher nachdenklich machen. Die Schweiz befindet sich geographisch gesehen am Schnittpunkt dreier mächtiger nationaler Kulturen, und sie vereinigt alle diese drei in der Einheit eines einzigen Volkes. In einer Zeit, wo der Nationalismus überall zu herrschen scheint, genießt sie, die mehr eine übergreifende politische Gemeinschaft als ein nationaler Staat ist, die Früchte des Friedens und der Kraft, welche aus der Einigkeit der Bürger erwachsen. Es gibt vielleicht kein Volk, das größere Liebe zu Heimstätte und Vaterland hat als das schweizerische, und selten findet man anderswo ein lebendigeres und tieferes Bewußtsein von der Pflicht des Bürgers. Die Kraft und die schöpferischen Fähigkeiten, welche andere in der nationalen Idee zu finden glauben, findet die Schweiz mindestens ebensosehr im herzlichen Wetteifer und in der Zusammenarbeit ihrer verschiedenen nationalen Bestandteile.17
Die Schweiz wird also hier als der glückliche Gegensatz zu jenem falschen Staatstyp hingestellt, der nach mannigfachen Äußerungen Pius’ XII. die Quelle von unendlich viel Zwietracht und Unglück gewesen ist: dem Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Er kann als instruktiver Fall für das Streben der Macht nach falscher und ungerechter Vereinheitlichung gelten, die die Vielfalt von Lebensformen als Hemmnis ihrer Verfügungsgewalt nicht erträgt. Die Stelle ist ebenfalls instruktiv für die Fassung des Staatsbegriffes der katholischen Soziallehre, die, bei aller Betonung und Hervorhebung der staatlichen Autorität, sie eben darum so hoch erheben kann, weil sie auch ihre Grenzen anzugeben vermag. So wird hier ausdrücklich festgestellt, daß das kulturelle Eigenleben der im Staat lebenden Vergemeinschaftungen seiner Verfügungsgewalt entzogen ist.
“Das Wesen dieses Irrtums [des Nationalstaates] besteht in der Verwechslung nationalen Lebens im eigentlichen Sinn mit nationalistischer Politik: das erste, Recht und Ehre eines Volkes, kann und soll gefördert werden; die zweite, die Keim unendlichen Übels ist, wird man nie genugsam abweisen. Das nationale Leben ist an sich die Gesamtheit aller jener Kulturwerte, die eigentümlich und charakteristisch für eine bestimmte Gruppe sind und das Band ihrer geistigen Einheit bilden. Gleichzeitig bereichert es als ein besonderer Beitrag die Kultur der ganzen Menschheit. Seinem Wesen nach ist das nationale Leben also etwas Unpolitisches, ja wie Geschichte und praktische Erfahrung beweisen, kann das nationale Leben sich neben anderen im Bereich desselben Staates entwickeln, sich aber auch über dessen politische Grenzen hinaus erstrecken. Das nationale Leben wurde zum Prinzip der Auflösung der Völkergemeinschaft erst dann, als man anfing, es als Mittel zu politischen Zwecken auszunützen, das heißt also, als der zentral organisierte Machtstaat das Nationale zur Grundlage seiner Expansion, seines Ausbreitungsdranges machte. Damit haben wir den nationalistischen Staat, Keim von Rivalitäten und Zündstoff für Zwietracht”.18
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II
1 Enzyklika “Summi pontificatus” vom 20. 10. 1939; U.-G. Nr. 34. 35, S. 18 f.
2 wie 1; U.-G. Nr. 35, S. 19.
3 Ansprache vom 6. 12. 1953 an den 5. Nationalkongreß des katholischen Juristenverbandes Italiens; HK 8. Jhg., S. 174; U.-G. Nr. 3969, 3970, S. 2046.
4 Ansprache vom 13. 6. 1957 an den Europakongreß; HK 11. Jhg., S. 522.
5 Ansprache vom 6. 4. 1951 an die Mitglieder des „Mouvement universel pour une Confédération mondiale”; HK 5. Jhg., S. 352 f.; U.-G. Nr. 3196, 4000, S. 2059 f.
6 Ansprache vom 24. 12. 1939 an das Kardinalskollegium (Weihnachtsbotschaft 1939); U.-G. Nr. 3659, S. 1876.
7 Ansprache vom 13. 9. 1952 an das Internationale Treffen der „Pax Christi”-Bewegung; HK 7. Jhg., S. 77; U.-G. Nr. 3880, 3881, 3882, S. 1997 f.
8 Rundfunkansprache vom 24. 12. 1941 (Weihnachtsbotschaft 1941); U.-G. Nr. 3792, S. 1953.
9 Ansprache vom 12. 9. 1948 an die italienische Jugend der Katholischen Aktion; HK 3. Jhg., S. 73; U.-G. Nr. 341, S. 145.
10 wie 8; U.-G. Nr. 3794, S. 1954. 11
11 Ansprache vom 11. 11. 1948 an den Internationalen Kongreß der Europäischen Föderalistenvereinigung; HK 3. Jhg., S. 167; U.-G. Nr. 3863, S. 1989.
12 Ansprache vom 7. 3. 1948 an die Tagung für internationale Handelspolitik; HK 2. Jhg., S. 304; U.-G, Nr. 3434, S. 1754.
13 wie 12; HK 2. Jhg., S. 304; U.-G. Nr. 3433, S. 1754.
14 wie 12; HK 2. Jhg., S. 304; U.-G. Nr. 3431, 3432, S. 1753 f.
15 wie 6; U.-G. Nr. 3662, S. 1878.
16 wie 8; U.-G. Nr. 3793, S. 1953.
17 Rundfunkansprache vom 21. 9. 1946 an das Schweizervolk zum Schweizer Bettag; HK 1. Jhg., S. 172; U.-G. Nr. 3512, S. 1789.
18 Weihnachtsbotschaft 1954 (wegen der Krankheit des Papstes am 3. 1. 1955 im “Osservatore Romano” veröffentlicht); HK 9. Jhg., S. 215.
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Quelle: Herder-Bücherei Band 8
