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PAPST PIUS XII.: VON DER EINHEIT DER WELT – Das Programm des Papstes für eine internationale Friedensordnung

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IV

DER TECHNISCHE GEIST UND DIE EINHEIT DER MENSCHHEIT

Eine der stärksten vereinheitlichenden und verbindenden Kräfte in der Welt ist die moderne Technik, die überallhin vordringt und durch die Gleichartigkeit der Mittel, mit denen sie ihre Auf­gabe erfüllt — nämlich die Kräfte und Reichtümer der Erde für den Menschen verfügbar zu machen —, überall eine Gleichartig­keit der Lebensformen herzustellen im Begriffe ist. Die Erfül­lung der Aufgabe der Technik liegt durchaus im Schöpfungsplan und also im gottgewollten Sinn der Geschichte. Die Kirche und auch der gegenwärtige Papst betonen das mit größtem Nach­druck, wofür eine Fülle von Bezeugungen vorliegen, von denen wir hier nur einige anführen. Der Drang der Naturwissenschaf­ten, diese Kräfte in sich selbst und in ihrem Zusammenhang zu erkennen, ihre Gesetze zu erforschen und Wege zu ihrer Be­herrschbarkeit zu finden, sowie der Drang der Technik sie zu beherrschen und für den Dienst an der Menschheit verfügbar zu machen, ist geistigen Ursprungs und hat hohen geistigen Rang; die Kirche hat diesen Rang immer sehr hoch eingeschätzt. Das beweist gerade Pius XII. in seinen Ansprachen an die verschie­densten Gruppen von Naturwissenschaftlern, aus denen wir hier leider nicht ausführlicher zitieren können.

Die Erkenntnisse und Methoden der Naturwissenschaften je­doch gelten “nur für den Bereich, in dem sie wirklich zuständig sind, d. h. für den der Sinne” und es gibt “über die physischen Erkenntnisse und Wirklichkeiten hinaus andere Wirklichkeiten, die metaphysischen …, die nicht von den Gegebenheiten der Sinne abhängig sind”, deren Gesetze aber “denen der sinnlichen Natur an Gewißheit keineswegs unterlegen, sondern vielmehr überlegen sind, denn sie gelten für das Sein als solches” (wie der Papst am 15. 6. 1952 gegenüber Studenten und Professoren der Universität Rom ausführte; vgl. HK 6. Jahrg. S. 493, U.-G. Nr. 1828, 1829, S. 919 f.). — Ebenso sind die Verfahren und Ziele der Technik, weil nur auf die materielle Welt bezogen, den höheren Zielen der Menschen untergeordnet und also dienstbar: schon den wirtschaftlichen und noch viel mehr den sozialen, kulturellen, geistig-sittlichen und religiösen — sie kann ihre Würde des geistigen Schöpfertums unbestritten nur bewahren, wenn sie diese Rangordnung einhält.

Die Naturwissenschaften sind also durchaus ein echter Weg zur natürlichen Gotteserkenntnis, ebenso ist die Technik ein Weg zur Erfüllung des Schöpfungsauftrages, zu einer menschlicheren Welt. Die moderne Welt hat jedoch ihre Energien in einer so einseitigen, in der Geschichte noch nicht dagewesenen Weise auf die Erforschung der Sinnenwelt und auf die technische Anwen­dung ihrer Erkenntnisse gewendet, daß darüber die metaphy­sischen Wahrheiten ebenso in Vergessenheit gerieten wie die Rangordnung der Güter und Werte.

Vor allem die unleugbaren Erfolge der Technik und ihrer An­wendung auf die in das industrielle Zeitalter tretende Wirtschaft (die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts, der heute, wie man glaubt; im Zeitalter der Atomkraft und vor allem der Automation die “zweite industrielle Revolution” folgt) ver­setzte die moderne Welt in einen wahren Rausch vermeintlichen “Fortschritts”. Man glaubte, dem technischen und wirtschaftlich industriellen Fortschritt die Zukunft und das Heil der Mensch­heit allein anvertrauen zu können, wenn man ihnen nur unge­hemmt freien Lauf ließe — ungehemmt vor allem von über­kommenen geistig-sittlichen und religiösen Vorstellungen, die man nicht nur in ihrer traditionellen, zeitgebundenen und viel­leicht oft erstarrten Form für veraltete Vorurteile hielt, sondern vielfach auch ihrem unvergänglichen, wesenhaften Gehalte nach. Aus dem neuen Selbstbewußtsein des Menschen, der endlich fä­hig geworden schien, sein und das Schicksal der Welt selbst in die Hand zu nehmen und zu bestimmen, “autonom” d. h. aus seinem eigenen Gesetz zu handeln, erklärte man sie für “Fremd­bestimmungen” (Heteronomien), wobei man unterscheidungslos sowohl die Herkunft dieser Vorstellungen und Wertungen aus der vergangenen Geschichte und aus vergänglichen Gesellschafts­strukturen wie auch ihren Ursprung aus dem Willen Gottes und seiner Offenbarung als solche “Fremdbestimmungen” bezeich­nete. Auch wo man diese Anschauungen nicht teilte, fehlte viel­fach die Kraft oder der Mut, die in der Geschichte und den na­türlichen Gesellschaftsgebilden aufbewahrten unvergänglichen Güter und Werte und den Anspruch Gottes und seiner Offenba­rung neu überdacht und zeitgemäß zu verkünden — wenn man nicht überhaupt sein Leben in zwei getrennte Bereiche teilte: den einen der Teilnahme am “Fortschritt” und einen anderen des Glaubens, der tatenlos und deshalb wirkungslos blieb. Die Tat­sache, daß der Angriff der modernen Anschauungen sich gleich­zeitig gegen die Tradition und die alte Gesellschaftsordnung wie auch gegen Glauben und Offenbarung richtete, lähmte vielfach den Elan der Gläubigen. Es wäre ungerecht, zu leugnen, daß die Stimme gläubiger christlicher Männer und die Stimme der Kir­che sich schon frühzeitig mahnend, warnend und die rechten Wege für die neue Entwicklung weisend erhoben hätte, aber die oben beschriebene Tatsache machte es auch leicht, sie als rück­ständig und dem Alten verhaftet zu diskreditieren.

Nur so ist es zu erklären, daß die neuen Lehren in Philoso­phie, Sozial-, Wirtschafts- und Staatstheorie — bei vielfach in­taktem Glauben — doch die Lebenspraxis der neuen Zeit er­oberten, wenn auch in vergröberter, vereinfachter Form das Be­wußtsein der Menschen immer mehr prägten, kurz den vorherr­schenden “Geist der Zeit” bestimmten. An die Stelle des Glau­bens an die Verantwortung des Menschen gegenüber einem all­gemein gültigen göttlichen Sittengesetz, an seine übernatürliche Bestimmung, an die Verbürgung seines Heils durch die Offen­barung Jesu Christi treten “Ideologien”, die alle etwas gemein­sames haben: sie glauben an die Fähigkeit des Menschen, sein und der Welt Schicksal aus sich selbst zu bestimmen und der Ver­wirklichung dieser Bestimmung durch wachsende Erkenntnis seiner eigenen Gesetze und der Gesetze der Außenwelt in Na­tur und Gesellschaft immer mächtiger zu werden; sie holen das Heil des Menschen radikal in diese Welt zurück und glauben es dort vollenden zu können; sie wenden deshalb die Energien des Menschen einseitig auf die Verbesserung der materiellen Le­bensbedingungen und die Verbesserung der Organisation des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens und erwarten das Heil von der Herrschaft irgendwelcher mechanisch wirksamer Organisationsprinzipien — sei es der “freien Wirtschaft” und des “freien Handels”, oder der “Diktatur des Proletariats” oder des vollkommenen Versorgungsstaates; sie glauben in merkwür­digem Widerspruch zu ihrem starken Freiheits- und Befreiungs­pathos an die Wirksamkeit unpersönlicher Kräfte in der Ent­wicklung der Geschichte, die, wenn man sie nur frei laufen und ihrer “Eigengesetzlichkeit” folgen läßt, in die Richtung eines Fortschrittes wirken. Dieser Fortschrittsglaube überschattet eigentlich alle anderen Erscheinungen des Zeitgeistes. Irgendwie führt er auf den verschlungensten Wegen schließlich zu einer vorwiegend materialistischen Lebenshaltung und Lebenspraxis.

Man kann diesen Vorgang auch von einem anderen Gesichts­punkt beschreiben: Macht hat in der gefallenen Natur die Ten­denz, sich immer mehr auszudehnen und sich alles ohne Rück­sicht auf Eigenwert, Recht und Freiheit anderer zu unterwerfen. Je größer die Macht ist, desto größere geistig-sittliche Kraft ist nötig, sie in ihren Schranken zu halten und recht zu verwalten. Dem ungeheuren Machtzuwachs des Menschen durch die tech­nischen Eroberungen unserer Zeit entsprach nicht ein gleich­zeitiges Wachstum seiner sittlichen und religiösen Kräfte, so daß die Kräfte, die ihm diesen Machtzuwachs schenkten und weiter zu schenken versprechen, sich selbständig machten und er sich ihnen gegenüber mit dem Glauben einzurichten ver­suchen mußte, er könne sich ihrer blinden Wirksamkeit anver­trauen.

Dieser Glaube ist zwar durch die schrecklichen Erfahrungen der Neuzeit ein angstvoller und unsicherer Glaube geworden. Viele haben jedoch nicht die Kraft und den Willen, sich von ihm loszusagen. Die Kirche hält den technischen Fortschritt an sich für ein Geschenk Gottes, das die Menschen falsch gebraucht haben. Die Möglichkeiten, die er für eine neue Geschichtszeit der Menschheit eröffnete und in vielfacher Hinsicht auch ge­schaffen hat, widersprechen an sich also sicherlich nicht dem göttlichen Geschichtsplan. Der Irrweg, den die Geschichte der Neuzeit gegangen ist, hat sie an sich selber bitter büßen müs­sen, und aus dieser Erfahrung sollten die Menschen die Einsicht gewonnen haben, daß eine Umkehr und Umbesinnung nötig ist, um zum Frieden untereinander und mit Gott zu kommen. Sie können die neue Zeit noch zum Guten wenden. Aber dazu ist eine Wiederherstellung der richtigen Werteordnung und ein Neuerwachen und eine Stärkung der sittlich-religiösen Kräfte der Menschheit nötig.

Die Christen und die Kirche sind die Mächte, die ihre sitt­liche Überzeugung und ihren religiösen Glauben intakt gehalten haben. Eben da die Kirche der Technik positiv gegenübersteht und für die Möglichkeiten des technischen Zeitalters offen ist, kann sie der Menschheit den Schatz, den sie in sich bewahrt, für ihren wahren Fortschritt mit Überzeugung zur Verfügung stel­len — ja muß ihn ihr geradezu aufnötigen und aufdrängen.

Das ist im ganzen der Tenor der Äußerungen Pius’ XII., die in diesem Abschnitt zusammengestellt sind. Sie wollen die Ein­sicht in die Bedeutung und die Irrtümer des technischen Geistes klären und die Ordnung, in der er seinen Ort finden muß, dar­stellen.

Die Kirche liebt und fördert den menschlichen Fortschritt. Es ist unleugbar, daß der technische Fortschritt von Gott kommt und also auch zu Gott führen kann und muß. Und in der Tat kommt es sehr oft vor, daß der Gläubige, indem er die technischen Er­oberungen bewundert und sich ihrer bedient, um tiefer in die Kenntnis der Schöpfung und der Naturkräfte einzudringen und sie mittels der Maschinen und Apparate besser zu beherrschen, um sie zum Dienst des Menschen und zur Bereicherung des ir­dischen Lebens zu lenken; sich hingerissen fühlt, den Geber die­ser Gaben, die er bewundert und nutzt, anzubeten, wohl wis­send, daß der ewige Sohn Gottes der “Erstgeborene aller Ge­schöpfe ist, weil in ihm alles im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, geschaffen worden ist” .

Er wird es sogar ganz natürlich finden, neben das Gold, den Weihrauch und die Myrrhe, welche die Weisen dem göttlichen Kinde darbrachten, ebenso die modernen Eroberungen der Tech­nik zu stellen: Maschinen und Zahlen, Laboratorien und Ent­deckungen, Macht und Hilfsquellen. Eine solche Darbringung ist eigentlich die Darbringung des einst vom Schöpfer selber be­fohlenen Werkes, das jetzt glücklich ausgeführt, wenn auch noch nicht beendet ist. “Bevölkert die Erde und unterwerft sie euch”, sprach Gott zum Menschen, als er ihm die Schöpfung als vor­läufiges Erbteil übergab. Was für ein langer und bitterer Weg bis zur gegenwärtigen Zeit, in der die Menschen in gewisser Weise sagen können, sie hätten das göttliche Gebot ausgeführt1!

Die Technik führt den heutigen Menschen in der Tat zu einer bisher nie gekannten Beherrschung der materiellen Welt. Die moderne Maschine erlaubt eine Produktionsweise, welche die menschliche Arbeitskraft ersetzt und ins Riesenhafte steigert, die sich vollständig vom Beitrag der organischen Kräfte frei­macht und ein Maximum extensiven und intensiven Potentials und zugleich ein Maximum an Präzision sichert. Wenn man mit einem Blick die Ergebnisse dieser Entwicklung umfaßt, ist es, als entdecke man in der Natur selber die Zustimmung der Befriedung über das, was der Mensch in ihr verwirklicht hat, und die Aufforderung, weiter fortzuschreiten in der Erforschung und Nutzbarmachung ihrer außerordentlichen Möglichkeiten. Nun ist aber klar, daß jede Erforschung und Entdeckung der Kräfte der Natur durch die Technik letzten Endes zu einer Er­forschung und Entdeckung der Größe, Weisheit und Harmonie Gottes führt. Wie könnte man die Technik, wenn man sie so be­trachtet, mißbilligen oder verurteilen2?

Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß eben diese Technik, die in unserer Zeit den Höhepunkt ihres Glanzes und ihres Er­trages erreicht hat, sich durch tatsächliche Umstände in eine schwere Gefahr verwandelt. Sie scheint dem modernen Men­schen, der sich vor ihrem Altar beugt, ein unbegrenztes Gefühl der Selbstgenügsamkeit und der Befriedigung der Bedürfnisse nach Erkenntnis und Macht zu verleihen. Mit ihrer vielfältigen Anwendbarkeit, mit dem absoluten Vertrauen, das sie auslöst, mit den unerschöpflichen Möglichkeiten, die sie verspricht, brei­tet die moderne Technik vor dem heutigen Menschen eine so umfassende Vision aus, daß viele sie mit dem Unendlichen sel­ber verwechseln. Demzufolge schreibt man ihr eine unmögliche Autonomie zu, die sich ihrerseits wieder im Geiste einiger in eine irrige Lebens- und Weltauffassung umformt, die man den „technischen Geist” nennt. Doch worin besteht dieser eigentlich? Darin, daß man es für den höchsten Wert des Lebens hält, möglichst großen Nutzen aus den Kräften und Elementen der Na­tur zu ziehen; daß man sich unter Zurückstellung aller anderen menschlichen Betätigungen die technisch möglichen Methoden der mechanischen Produktion zum Ziel setzt und in ihnen die Voltendung der irdischen Kultur und Glückseligkeit sieht3.

Das auf den ersten Blick unbegrenzte Panorama, das die Technik vor den Augen des modernen Menschen ausbreitet, bleibt, so ausgedehnt es auch ist, dennoch nur eine einseitige Projektion des Lebens auf die Wirklichkeit und drückt nur des­sen Beziehungen zur Materie aus. Es ist darum ein täuschendes Panorama, das schließlich den Menschen, der zu leichtfertig an die Unermeßlichkeit und Allmacht der Technik glaubt, in ein zwar weites, aber doch begrenztes und darum auf die Dauer für seinen ursprünglichen Geist unerträgliches Gefängnis ein­schließt. Sein Blick, weit davon entfernt, die unendliche Wirk­lichkeit zu durchdringen, die nicht nur Materie ist, muß sich von den Schranken, die diese ihm notwendigerweise entgegenstellt, bedrückt fühlen. Daher die verborgene Angst des heutigen Men­schen, der blind geworden ist, weil er sich freiwillig mit Finster­nis umgeben hat4.

Nicht daß die Technik an sich die Leugnung der religiösen Werte kraft ihrer Logik forderte — sie führt sogar, wie Wir gesagt haben, zu deren Entdeckung —, es ist vielmehr dieser “technische Geist”, der für den Menschen ungünstige Voraus­setzungen schafft, um die übernatürlichen Wahrheiten und Gü­ter zu suchen, zu sehen und anzunehmen. Der Geist, der sich von der vom “technischen Geist” geprägten Lebensauffassung verführen läßt, bleibt gegenüber jenen Werken Gottes, die ganz anderer Natur sind als die Technik, nämlich gegenüber den Ge­heimnissen des christlichen Glaubens unempfindlich, unansprech­bar und daher blind. Das Heilmittel selber, das in einer ver­doppelten Anstrengung bestehen würde, den Blick über die Schranken der Finsternis hinaus zu erheben und in der Seele das Interesse für die übernatürlichen Wirklichkeiten anzueifern, wird schon von Anfang an von eben diesem “technischen Geist” unwirksam gemacht, weil er die Menschen des kritischen Sinnes gegenüber der eigenartigen Ruhelosigkeit und Oberflächlichkeit unserer Zeit beraubt . . .

Die vom “technischen Geist” geprägten Menschen kommen so­gar so weit, den Schöpfer und sein Werk lächerlich zu machen, indem sie behaupten, die menschliche Natur sei eine fehlerhafte Konstruktion, wenn die notwendigerweise begrenzte Aktions­fähigkeit des Gehirns und der anderen menschlichen Organe die Durchführung von technologischen Berechnungen und Projekten behindert. Noch weniger sind sie imstande, die höchsten Ge­heimnisse des göttlichen Lebens und der göttlichen Heilsöko­nomie zu verstehen und zu schätzen, wie z. B. das Geheimnis von Weihnachten, in dem die Verbindung des Ewigen Wortes mit der menschlichen Natur ganz andere Wirklichkeiten und Größen einsetzt als diejenigen, mit denen es die Technik zu tun hat. Ihr Denken folgt anderen Wegen und Methoden unter der einseitigen Eingebung jenes “technischen Geistes”, der nur das als Wirklichkeit anerkennt und schätzt, was in zahlenmäßigen Verhältnissen und Nützlichkeitsberechnungen ausgedrückt wer­den kann. Auf diese Weise glauben sie, die Wirklichkeit in ihre Elemente zu zerlegen, aber ihre Erkenntnis bleibt an der Ober­fläche und bewegt sich nur in einer einzigen Richtung. Es ist offenkundig, daß, wer die technische Methode als einziges In­strument der Wahrheitssuche anwendet, z. B. darauf verzichten muß, in die tiefen Wirklichkeiten des organischen Lebens und noch mehr in die des geistigen Lebens, die lebendigen Wirklich­keiten des einzelnen und der menschlichen Gesellschaft, einzu­dringen, da diese nicht in quantitative Beziehungen zerlegt wer­den können . . .

Auch abgesehen von der religiösen Blindheit, einer Folge des “technischen Geistes”, ist der von ihm besessene Mensch im Den­ken vermindert, gerade insofern er durch dieses das Ebenbild Gottes ist. Gott ist der unendlich umfassende Verstand, während der “technische Geist” alles tut, um die freie Entfaltung des Verstandes im Menschen zu unterbinden5.

Niemand entnehme aus Unserer Anklage gegen den Mate­rialismus des letzten Jahrhunderts und der Gegenwart eine Ver­werfung des technischen Fortschrittes. Nein, Wir verurteilen nicht, was Gottes Geschenk ist. Denn wie der Herrgott das Brot aus der Scholle uns wachsen läßt, so hat er für uns in den Tagen der Weltschöpfung tief im Erdinnern Schätze verborgen von Glut und Metall und Edelgestein, auf daß der Mensch sie her­vorhole für seine Bedürfnisse, seine Werke und seinen Fort­schritt. Die Kirche, die Mutter so vieler europäischer Universi­täten, versammelt und ehrt auch heute noch die hervorragend­sten Naturforscher und Vertreter der Wissenschaft. Aber sie weiß auch, daß man jedes Gut, selbst die Willensfreiheit, eben-sowohl zu Lob und Ehre, wie zu Tadel und Verwerfung ge­brauchen kann. So hat der Geist und die Richtung, wie man den technischen Fortschritt oft angewandt hat, heute dazu ge­führt, daß die Technik ihren Irrtum an sich selbst büßen muß. Sie ist auf Mittel der Zerstörung gerichtet und muß heute die Werke vernichten, die sie gestern aufgebaut hat6.

Man hört die Gegenwart häufig, nicht ohne Selbstgefälligkeit, als die Epoche der “zweiten technischen Revolution” charakterisieren, und doch muß man, trotz dem Ausblick auf eine bessere Zukunft, den dieser Ausdruck zu enthalten scheint, die Fortdauer der Angst, der politischen und wirtschaftlichen Un­sicherheit sowohl bei den bevorzugtesten Völkern wie in den unterentwickelten Gebieten feststellen. Die bitteren Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts könnten genügen, das zu erklären: waren die Verheißungen einer wirtschaftlich und technisch vollkommenen Welt nicht damals ebenso im Umlauf wie jetzt? Haben sie keine grausamen Enttäuschungen gezeugt? Die so­zialen Umwälzungen, die die Anwendung der Wissenschaften in einem häufig zu materialistischen Geist nach sich gezogen hat, haben eine bestehende Ordnung gestürzt, ohne sie durch eine bessere und solidere zu ersetzen.

Die Kirche dagegen hat niemals die wahren Bedürfnisse der menschlichen Natur aus dem Blick verloren und hat sich die Aufgabe gestellt, die wahre Stabilität ihrer Existenz zu er­halten. Sie weiß, daß das irdische Geschick des Menschen seine Sanktion und Erfüllung nur im Jenseits findet. Ohne die Er­oberungen der Wissenschaft und der Technik abzulehnen, stellt sie sie an ihren richtigen Platz und gibt ihnen ihren wahren Sinn: den, dem Menschen zu dienen, ohne das Gleichgewicht all der Beziehungen zu zerstören, die das Muster seines Lebens bilden: Familie, Eigentum, Beruf, Gemeinschaft, Staat7.

Heute wirkt sich noch ein anderer Faktor auf die ganze Welt aus, von dem man sagt, daß er in der Geschichte der Menschheit (unter weltlichem Blickwinkel gesehen) beträchtliche Umwälzungen mit sich bringen wird, nämlich die moderne Wis­senschaft und Technik, die von Europa, oder vielmehr den west­lichen Ländern, in den letzten Jahrhunderten geschaffen wur­den; wer sie nicht annimmt, so sagt man, gerät ins Hintertref­fen und wird ausgeschaltet; wer sie aber annimmt, muß auch die Gefahren in Kauf nehmen, die sie “für das Menschsein” in sich schließen. Wissenschaft und Technik werden in der Tat allmählich Allgemeingut der Menschheit. Nicht allein die Ge­fahren, die durch sie “dem Menschsein” drohen, geben Anlaß zur Besorgnis, sondern die Feststellung, daß sie sich als unge­eignet erweisen, der geistigen Entfremdung Einhalt zu gebieten, die die Rassen und Kontinente trennt; diese Entfremdung scheint im Gegenteil noch größer zu werden. Will man eine Katastrophe vermeiden, so wird es erforderlich sein, gleichzei­tig auf einer höheren Ebene starke religiöse und sittliche Kräfte für die Einigung zum Wohle der gesamten Menschheit einzu­setzen. Die katholische Kirche weiß, daß sie solche Kräfte be­sitzt, und glaubt, daß sie den geschichtlichen Beweis hierfür nicht mehr schuldig ist. Sie steht außerdem gegenüber der mo­dernen Wissenschaft und Technik nicht im feindlichen Lager, sondern bildet vielmehr ein Gegengewicht und einen Gleich­gewichtsfaktor. So kann sie in einer Zeit, in der Wissenschaft und Technik triumphieren, ihre Aufgabe ebensogut erfüllen, wie sie es während der vergangenen Jahrhunderte getan hat8.

Nun ist durch die Krisen der Zeit zwischen den beiden Welt­kriegen der Fortschrittsglaube sicher in eine ernste Krise ge­raten, da alle seine Hoffnungen sich zerschlugen und die Herr­schaft ganz anderer Mächte heraufgekommen war, als er es sich erträumt hatte. Pius XII. glaubte deshalb kurz nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges das Erliegen des Fortschrittsglaubens feststellen zu können.

Die Trugbilder eines stolzen Fortschrittsglaubens liegen am Boden. Wer auch jetzt noch nicht erwachen will, den müßte das Geschehen dieser Tage aufrütteln mit den Worten des Pro­pheten: Ihr Tauben, hört, und ihr Blinden, schauet auf! (Is. 42, 18). Was nach außen Ordnung schien, war nichts anderes als wachsende Verwirrung. Eine Verwirrung der sittlichen und rechtlichen Lebensgesetze, die sich von der Majestät des Got­tesgesetzes gelöst und alle Bereiche der menschlichen Betätigung verseucht hatten9.

Es ist nun zwar sicher richtig, daß der Rausch des Fort­schrittsglaubens verflogen ist und daß er nicht mehr jene pseudo­religiöse Kraft hat, die den Menschen des 19. Jahrhunderts den Schwung verlieh, gleichzeitig einen Geist der Auflehnung und des Kampfes gegen die Mängel des noch unvollkommenen Zu­standes durchzuhalten und dabei doch diese massiven Mängel und Ungerechtigkeiten und die Leiden, die sie verursachten, gewissermaßen als unwesentlich zu betrachten; weil sie sicher und bald durch den Fortschritt überwindbar schienen. Das ist ja heute noch in der kommunistischen Welt so, die nicht nur durch Gewalt, sondern auch durch einen ähnlichen Glauben zu­sammengehalten wird (in der sich aber auch immer mehr eine Krise der Ernüchterung zu verbreiten scheint).

Das Paradoxe des 19. Jahrhunderts ist, daß sich in ihm zu­gleich eine maßlose Hoffnungsfreudigkeit in bezug auf das irdi­sche Glück und eine ungeheuer gesteigerte Leidensfähigkeit und Leidensbereitschaft gegenüber Mangel und Ungerechtigkeit ent­wickelte.

In dem Maße die Hoffnungsfreudigkeit des Fortschritts in den Erfahrungen der schrecklichen Krisen, Kriege und ihrer Fol­gen ermattete, gewann die Leidensfähigkeit des Zeitgefühls an Wirklichkeit. Aber dadurch wurden die Fundamente der Denk­formen der Neuzeit doch nicht aufgelöst. So zerreißt also ein krasser Widerspruch Bewußtsein und Gefühl der Zeit, und Pius XII. wendet sich in seinen jüngsten Äußerungen der Auf­gabe zu, diesen Widerspruch darzulegen und zu klären.

Zweifetlos lastet der Druck eines offenkundigen Widerspruchs auf der Menschheit des 20. Jahrhunderts und verwundet sie gleichsam in ihrem Stolz: auf der einen Seite steht die zuver­sichtliche Erwartung des modernen Menschen, des Schöpfers und Zeugen der “zweiten technischen Revolution”, er könne eine Welt der Fülle an Gütern und Werken schaffen, in der es Armut und Unsicherheit nicht mehr gebe; auf der anderen Seite steht die bittere Wirklichkeit der langen Jahre von Leid und Zerstörung und in deren Gefolge die in diesen letzten Mo­naten noch gesteigerte Angst, es werde nicht gelingen, auch nur einen bescheidenen Beginn von dauerhafter Eintracht und Be­friedung grundzulegen. Etwas ist also im gesamten modernen Lebenssystem nicht in Ordnung, ein grundlegender Irrtum muß an seinen Wurzeln nagen. Aber wo verbirgt er sich? Wie und von wem kann er behoben werden? Mit einem Wort, wird es dem modernen Menschen vor allem im eigenen Innern gelingen, den beängstigenden Widerspruch zu überwinden, dessen Ur­heber und Opfer zugleich er ist10?

Dieser Widerspruch ist der christlichen Lehre wohlbekannt; die Offenbarung erklärt ihn und die geschichtliche Erfahrung weist ihn immer wieder auf. Die beiden Faktoren, die ihn her­vorrufen, sind wirklich und vorhanden: Der Mensch ist als Krone und Haupt der Schöpfung geschaffen und hat den Auf­trag, als Herr über sie in Freiheit ihren Weg zur Entfaltung und Vollendung anzuführen. Aber diese Freiheit ist hingeord­net auf Gott und sein Gesetz, das ihn als absolut gültig bin­det und über das er nicht verfügt. In der Hinwendung zu Gott und seinem Gesetz erfüllt sich seine Freiheit; fällt sie von Gott ab, so fällt sie aus der Ordnung der Schöpfung, entmächtigt sich selber und verfällt, ziel- und richtungslos geworden, schließ­lich der Knechtschaft irdischer Ziele und Mächte.

Ein solcher Abfall steht tatsächlich am Anfang der Geschichte: das, was die christliche Verkündigung den Sündenfall des ersten Menschenpaares nennt. Er hat die Selbstverständlichkeit der Hinwendung der Freiheit zu Gott und ihrer Bindung an sein Gesetz zerstört und einen Widerstreit seiner verschiedenen Be­gehrkräfte ausgelöst — damit ist auch die Ordnung der Schöp­fung gestört. Widergöttlichen Kräften in ihr ist Raum gege­ben, die sich als Verführung zur Vergötzung irdischer Ziele und Verfahren auswirken. Jetzt braucht es einer Anstrengung und äußersten Anspannung der sittlichen Kräfte, um den Men­schen in der Ordnung zu halten. “Mühe” und Unsicherheit sind fortan das Kennzeichen des menschlichen Dienstes. Die Heilung seines Zustandes und die Wiederherstellung des zerrissenen Bun­des zwischen Mensch und Gott ist aber vom Menschen her nicht möglich; sie muß von oben, von Gott her vollzogen werden. Das geschieht durch die Erlösungstat Gottes in der Menschwerdung Christi. Das Heil ist nur durch ihn verbürgt und in seiner Kraft erreichbar: in der Nachfolge Christi.

Sein bitterer Tod sagt aber, daß das Schicksal des Menschen durch den Tod gehen muß: die Welt ist in dieser Geschichtszeit nicht vollendbar; sie steht unter dem Gericht, und “ihre Gestalt muß vergehen”. Ihre Vollendung erreicht sie erst nach dem End­gericht in “einem neuen Himmel und einer neuen Erde”. Trotz­dem aber bleibt der Schöpfungsauftrag an den Menschen und sein Dienst an der Geschichte erhalten — auch wenn sie nicht vollendbar ist. Es gibt eine Dynamik der Geschichte durch das freie persönliche Handeln des Menschen; die Geschichte ent­wickelt sich also und ihre Gebilde müssen ständig zu einer umgreifenderen Ordnung umgeformt werden, die der Natur des Menschen entspricht, es ihm also ermöglicht, sich gemäß die­ser Natur in Freiheit und Menschenwürde zu entfalten, die ihn nicht durch Vergötzung niederer Einzelwerte und Güter verführt und so den Dämonen ausliefert, deren Politik die Verkehrung der göttlichen Ordnung und ihres Sinns ist.

Der erste Schritt zur inneren Überwindung des heutigen Wi­derspruchs geht von der Erkenntnis und Annahme der mensch­lichen Wirklichkeit in ihrer ganzen Breite aus11.

Die Wahrheit über die menschliche Natur ist wie in einer sichtbaren Synthese im neugeborenen Gottessohn zusammenge­faßt. Der Ursprung, das Wesen, die Bestimmung und die Ge­schichte des Menschen sind an dieses Kind gebunden, gerade an die Tatsache seiner Geburt unter uns. Seine kindlichen Laute sind wie die Erzählung unserer Geschichte, ohne deren Kenntnis die Natur des Menschen ein undurchdringliches Rätsel bleibt12.

In der Tat erkennt der Gläubige vor der Wiege des Erlösers die eingeborene Güte und Kraft des Menschen, das unverdiente Gnadengeschenk in der Seligkeit des Paradieses; er gedenkt aber auch seiner Schwäche, die sich sogleich in dem Sündenfall der Stammeltern zeigte und dann zu dem schmerzlichen Erbteil wurde, das ihn mit dem immer neuen Zustrom anderer Sün­den auf dem ganzen weiteren Weg über eine Erde begleitete, die ihm fast feindlich geworden war13.

Wenn der Christ über seine Macht nachdenkt, weiß er, daß die Herrschaft des Menschen über die Dinge und die Kräfte der Natur, wiederum durch göttliche Gnade, durch ihn allein zum Wohl und nicht zur Gefährdung der menschlichen Gesellschaft hätte ausgeübt werden sollen und daß deren Geschichte, wie­derum durch Gnade, ohne den Druck der Angst und des Elends ihren Anfang, genommen hätte, in freier Entfaltung der Kräfte und unter für den ausgedehntesten und höchsten Fortschritt günstigen Bedingungen. Doch der Anbeter des neugeborenen Gottessohnes weiß auch, daß der Sündenfall und seine Folgen den Menschen zwar nicht der Herrschaft über die Erde, wohl aber der Sicherheit in deren Ausübung beraubt hat, und er weiß ebenfalls, daß mit dem Fall, der auf die erste Sünde folgte, nicht die Fähigkeiten und die Bestimmung des Menschen, Ge­schichte zu bilden, zerstört wurden, wohl aber daß sein Weg sich mühsam vorwärtsarbeiten würde in einer Mischung von Vertrauen und Angst, Reichtum und Elend, Aufstieg und Nie­dergang, Leben und Tod, Sicherheit und Unsicherheit, bis zur letzten Entscheidung an den Pforten der Ewigkeit14.

So webt der Mensch seine Geschichte, vielmehr wirkt er mit Gott mit an der Verwirklichung einer Wirklichkeit, die ihres Gegen­standes und zugleich des Planes des Schöpfers würdig ist. Es ist eine ebenso erhabene wie schwierige Aufgabe, die nur der, der begreift, was Geschichte und Freiheit ist, glücklich erfüllen kann, indem er die Dynamik der Reformen in Harmonie bringt mit der Statik der Überlieferungen, die freie Tat mit der allgemei­nen Sicherheit. Der Christ, der sich vor der Wiege von Beth­lehem niederwirft, versteht diese Notwendigkeit in ihrem Ernst vollkommen, aber die gleiche Wiege gibt ihm Licht und Kraft, um die hohe Aufgabe würdig auszuführen15.

Wie soll sich also der Gläubige gegenüber dem schmerzlichen Widerspruch verhalten, der auf der modernen Welt lastet und von dem Wir eben sprachen? Obwohl er im glücklichen Besitz aller Elemente ist, die ihm die Beherrschung des eigenen In­neren ermöglichen, kann und darf er sich nicht der Aufgabe ent­ziehen, auch zu dessen äußerer Lösung beizutragen. Daher ist es die erste Pflicht des Christen, den modernen Menschen davon zu überzeugen, daß er die menschliche Natur weder mit syste­matischem Pessimismus noch mit billigem Optimismus betrach­ten darf, sondern daß er die wirklichen Maße seiner Macht an­erkennen muß. Weiter soll er sich bemühen, den Zeitgenossen der “zweiten industriellen Revolution” verständlich zu machen, daß sie sich nicht von der Religion freizumachen brauchen, um den Widerspruch zu überwinden und ihn nicht mehr zu empfin­den. Im Gegenteil, gerade der christliche Glaube rückt den Wi­derspruch in jenes Licht, das das Wahre vom Falschen scheiden und allen jenen, die unter dem Zwiespalt leiden, den einzigen Weg zeigen kann, um ohne Erschütterung und Zerstörung aus ihm herauszugelangen16.

Die volle „Annahme der Wirklichkeit des Menschen”, wie sie im Lichte der Offenbarung sichtbar ist, wäre also der Weg der Umkehr, den die Enttäuschung und Ernüchterung vom Fort­schrittsrausch nahelegte. Aber der Gedanke von der Selbstbe­freiung und Selbsterlösung ist zu tief in den Denkformen der Zeit verankert, als daß sie sich leicht von ihm lösen könnte. Sie glaubt lieber, daß eben das Fortbestehen der Vorstellungen, die Geschichte und Religion von der Wirklichkeit des Men­schen überliefern, die Ursache des Widerspruchs sei, an dem die Welt leidet. (Der Kommunismus hat diese These in dem Satze vom “Zurückbleiben des Bewußtseins hinter der sozialen Ent­wicklung” ausdrücklich in seine Theorie aufgenommen!) Man muß sie also rücksichtslos “über Bord werfen” und den einge­schlagenen Weg kompromißlos zu Ende gehen. Man nimmt dabei in Kauf, daß einer der wichtigsten Werte, der den Anfang dieses Weges am machtvollsten bestimmte, mit über Bord geht: die Freiheit der Person, die ja in der Entpersönlichung des Sy­stems untergeht. Das bestätigt das Paradox, daß absolute, “autonome” Freiheit immer in Knechtschaft endet. Die Denk­weise, die sich so radikal von Tradition und Religion lossagt, bezeichnet sich vielfach als “realistisches Denken”. Der Papst greift im folgenden diese Bezeichnung gelegentlich auf.

Sehr verschieden davon ist dagegen die Auffassung vieler anderer, die zwar verzweifelt sind über den Widerspruch, aber nicht auf den Traum von der Allmacht des Menschen verzich­ten wollen und die auch jene Werte einer Prüfung unterziehen möchten, die nicht in ihrer Macht stehen und die sich der mensch­lichen Freiheit entziehen, wie die Religion und die Naturrechte. Im Grunde glauben und lehren sie, daß der grundlegende Wi­derspruch unserer Zeit vom Menschen selber ohne Gott und ohne Religion gelöst werden kann. Er kann, sagen sie, nicht gelöst werden, solange der moderne Mensch, zugleich Schöpfer und Geschöpf des technischen Zeitalters, seinen neuen Weg nicht bis zum Ende geht. Und, so fügen sie hinzu, er muß in dem ein­mal begonnenen Werk, seine Macht über das Sein auszubreiten, fortfahren, ohne sich Grenzen zu ziehen und ohne Rücksicht auf die Religion und das Menschen- und Weltbild, das sich auf diese stützt. Für sie liegt darin, daß man auf halbem Wege stehenbleibt und irgendeinen Kompromiß zwischen Religion und technischem Geist sucht, die Wurzel des heutigen Widerspruchs17.

Eine Folge der Haltung des „realistischen Denkens”, das keine Grenzen für die Macht des Menschen anerkennt, alles nach der technischen Methode behandelt und volles Vertrauen in das technische Wissen setzt, ist das Überbordwerfen dreier Werte: der geschichtlichen Wirklichkeit, des freien Handelns und der Religion — als Ballast, der das Schiff des modernen Fortschritts auf seiner Fahrt hindert und verlangsamt18.

Der Vertreter des angeblich realistischen Denkens geht also gegenüber der Wirklichkeit wie ein Techniker vor:

Die ganzeWelt wird für ihn ein Laboratorium, wo er in streng mathematischer Verknüpfung die Kräfte der Natur immer von neuem bindet, sie verteilt und dosiert und die Ereignisse formt und vorausbestimmt19.

Dieses Verhalten greift auch dem Menschen gegenüber Platz, dessen seelisches und moralisches Wesen als ein Komplex von Mechanismen aufgefaßt wird, den man aus einer vertieften Er­kenntnis ihres Zusammenhanges beherrschen und den Funktio­nen des sozialen Lebens anpassen könnte. Die Praxis sowjeti­scher Erziehung ist von solchen Theorien durchaus beherrscht. Anpassung (adjustment) ist aber, wie man sich erinnern wird, auch eines der Schlüsselworte der amerikanischen Pädagogik und psychologischen Techniken.

Diesem falschen stellt der Papst den wahren Realismus des christlichen Menschenbildes gegenüber.

Diejenigen, die in ihrem Weltbild den Begriff der Erbschuld und der persönlichen Sünde mit ihren Folgen nicht ertragen und die doch anderseits die Erfahrung nicht leugnen können, daß der Mensch auch sittlich zum Fall prädisponiert ist, schreiben die verkehrten Neigungen bloßer Krankhaftigkeit, funktioneller Schwäche zu, die an sich heilbar sein soll. Sie versichern, sobald die Gesetze, denen der Mensch in seinem Verhalten zur Umwelt und bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele hinab untersteht, völ­lig erkannt wären, würde man auch zu einer völligen Heilung der gegenwärtigen Schwächen gelangen. Man muß daher, so fügen sie hinzu, den Tag abwarten, wo aus der vollständigen Kenntnis des inneren Mechanismus des Menschen die therapeu­tische Kunst erwächst, die seine krankhaften sittlichen Anlagen zu heilen vermag. Wie die moderne Macht über die äußere Na­tur, Frucht der vertieften Kenntnis der sie beherrschenden Ge­setze, jede technische Konstruktion ermöglicht, so besteht kein Grund, zu bezweifeln, daß sich ein entsprechender Erfolg in der Regelung des moralischen Komplexes des Menschen erreichen läßt. Warum sollte . . . einzig der Mensch eine unbesiegbar fal­sche Und nicht in Ordnung zu bringende Konstruktion bleiben20?

Schon jetzt ernten wir die beklagenswerten Folgen . . . einer Menschenauffassung, bei der alles an sich gut ist und alle Män­gel, wie man behauptet, davon herrühren, daß man den Men­schen nicht richtig an das Zahnradwerk der Funktionen anzu­passen weiß, denen er mitsamt seiner Umwelt unterliegt21.

Wenn man, so sagen die Anhänger dieser falschen Menschen­auffassung, die Kenntnis der natürlichen Normen, die den Men­schen und seine Welt beherrschen, immer mehr vertieft, so wer­den die guten Eigenschaften aller wirklich zur Geltung ge­bracht, und Autorität und Verantwortlichkeit verteilen sich auf viele, ja geradezu auf alle. Gegenüber den Mängeln des gegen­wärtigen sozialen und politischen Lebens, wie etwa der Ano­nymität der Macht, der Aufsaugung des einzelnen durch die Masse, dem unsicheren Gleichgewicht zwischen den verschiede­nen Kräften der Gesellschaft würde es, wie die Jünger des so­genannten Realismus versichern, genügen, das Prinzip der per­sönlichen Verantwortlichkeit und des Gleichgewichts der Ener­gien in den gewissermaßen mechanischen und rein funktionellen Prozeß des vergesellschafteten Lebens einzuschalten. Und sie wiederholen: wie die verbreitetere Kenntnis der Gesetze und Funktionen der äußeren Natur die kühnsten technischen Ver­wirklichungen zur Folge gehabt hat, so würde auch auf dem Gebiet der sozialen Strukturen eine gesteigerte Kenntnis der Gesetze, die ihren Mechanismus regeln, genügen, um zu einer vollkommenen Gesellschaft zu gelangen22.

Aber lassen sich wirklich die Erwartungen rechtfertigen, die sich auf eine Auffassung stützen, die sich zwar rühmt, realistisch zu sein, aber tatsächlich die wahre Natur des Menschen nicht kennt? Ist es wirklich wahr, daß seine sogenannten Anlagen zum Bösen weiter nichts sind als heilbare Defekte eines norma­len Ablaufs, ähnlich wie Fehler einer Maschine oder eines Ap­parats, die sich durch gesteigertes technisches Wissen ausmerzen lassen? Auch wenn man wahrheitsgemäß zugibt, daß der Mensch den Antrieb vieler natürticher Abläufe und funktioneller Kom­plexe spürt, so bleibt er ihnen doch ganz anders als die Materie, die Pflanze oder das Tier überlegen, und während er ihren Sinn und ihre Bedeutung anerkennt, wird er doch immer ihr Herr bleiben, der sie in freier Kausalität in dieser oder jener Weise in den Ablauf der Ereignisse einordnet. Der Mensch be­herrscht jene Abläufe und Komplexe, weil er vor allem ein geistiges Wesen, eine Person, ein Subjekt freier Handlung oder Unterlassung ist und nicht nur ein Kreuzungspunkt im Ablauf natürlicher Prozesse. Darin besteht seine Würde, aber auch seine Grenze. Darum ist er fähig, das Gute zu tun, aber auch das Böse, fähig, alle positiven Möglichkeiten und Anlagen seiner Natur zu verwirklichen, jedoch auch sie in Gefahr zu bringen. Gerade diese Probe nun, die auf Grund der großen Werte, die im Spiel sind, im 20. Jahrhundert gewaltige Ausmaße angenom­men hat, schafft und erklärt den angstvollen Widerspruch, den die Zeitgenossen wahrnehmen. Es gibt kein anderes Heilmittel, ihn zu überwinden, als die Rückkehr zum wahren Realismus, zum christlichen Realismus, der mit der gleichen Sicherheit die Würde des Menschen, jedoch auch seine Grenzen, seine Fähigkeit, sich zu überwinden, aber auch die Wirklichkeit der Sünde erfaßt23.

Es ist schon in den vorhergehenden Äußerungen des Papstes auf die Tendenz der Moderne, das soziale Leben wie einen Me­chanismus nach technischen Methoden zu regeln und zu ordnen, hingewiesen worden. Sie gehen dabei von den Voraussetzungen aus, daß die soziale Welt wie die Maschinenwelt “machbar” sei und daß alle ihre Elemente der Willkür und Verfügungsgewalt der Sozialtechniker unterworfen seien.

Dem widersetzen sich jedoch vor allem zwei Tatsachen: Er­stens gibt es soziale Formen, die der Natur des Menschen un­mittelbar entspringen, also der gottgewollten Schöpfungsord­nung angehören und deshalb der menschlichen Verfügungsge­walt entzogen sind (vgl. S. 10). Der Papst zählt sie in der drit­ten der hier angeführten Äußerungen auf. Zweitens aber ist das soziale Leben etwas Gewachsenes, in dem alles Neue auf ge­schichtlich gewachsenen Fundamenten aufbauen muß, in denen sich ein Grundbestand von unvergänglichen Einrichtungen auf­bewahrt hat — unbeschadet des Wandels, dem alle menschlichen Einrichtungen unterworfen sind. Zweifellos gibt es ja in der Geschichte eine Reihe von beständigen Grundstrukturen mensch­lichen Lebens und Zusammenlebens, weil es nämlich eine un­wandelbare menschliche Natur gibt, die einmal in allen ge­schichtlichen Lebensformen durchdringt, zum andern aber in betrachten müssen; nicht zuletzt aber auch, weil sie allem Or­ganischen feindlich sind.

Der technische Geist und der Fortschrittsglaube sind tradi­tionsfeindlich, weil sie einmal an eine Unbeschränktheit der menschlichen Möglichkeiten glaubten, zum anderen alles, was ihre Unbedingtheit hemmt, als Hemmschuh, als “reaktionär” betrachten müssen, nicht zuletzt aber auch, weil sie allem Or­ganischen feindlich sind.

Wir haben schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt davon gesprochen, daß der Angriff der Fortschrittsideologien sich zu­gleich gegen Tradition und Religion richtete und damit die Re­ligion als etwas Traditionelles, also zu überwindendes, “Reak­tionäres” zu diskreditieren und entwerten trachtete. Der Papst nimmt in den hier folgenden Äußerungen die Herausforderung dieses Angriffes gleichsam auf, indem er feststellt, daß Religion die Annahme der ganzen Wirklichkeit fordere und zu dieser Wirklichkeit auch unantastbare Faktoren des geschichtlichen Wachstums gehören, die eine Stabilität des sozialen Lebens in allem Wandel sichern. Er erkennt eine Dialektik von Dynamik und Statik an, was aber nicht heißen darf, daß in diesem Pro­zeß der eine der beiden Pole hinweg diskutiert werden darf. Die starke Betonung des Wertes der Überlieferung und des organisch Gewachsenen deckt sich im übrigen mit der Erkenntnis moder­ner Soziologen, die erwarten, daß aus der Geschichte heilende und stabilisierende Kräfte in die Gegenwart einfließen mögen (Freyer).

Der Papst weist auch noch auf die Aktualität solcher Gedan­ken für die Entwicklung jener Länder hin, die ohne Vorberei­tung und Übergang, gleichsam ungeschützt, dem Einfluß der technischen Zivilisation ausgesetzt sind; — die sogenannten un­terentwickelten Länder. Unterentwickelt heißt im Sprachge­brauch unserer Zivilisation ja nur industriell und technisch un­terentwickelt — nicht notwendig auch kulturell unterentwickelt. Bei aller Notwendigkeit, ihre wirtschaftliche und technische Ent­wicklung zu fördern und dadurch zur Behebung der vielfältigen sozialen Mißstände beizutragen, ist also äußerste Behutsamkeit und sorgfältige Planung geboten, wenn man nicht mehr zerstö­ren als bessern will.

Die Vorzugsstellung der Menschheit des gegenwärtigen tech­nischen Zeitalters besteht, so wird behauptet, in der Macht, die Gesellschaft nach Maßgabe des fortschreitenden technischen Wis­sens und ohne die Notwendigkeit, bei der Vergangenheit in die Schule zu gehen, immer neu schaffen zu können. Im Gegenteil, die Vergangenheit würde mit ihren Vorurteilen aller Art, zumal aber den religiösen, nur das Vertrauen schwächen und den kon­struktiven Impuls abkühlen. Der moderne Mensch schreibt sich im Stolzen Bewußtsein, in dieser Welt wie in einem von ihm al­lein gebauten Haus zu wohnen, die Funktion des Schöpfers zu24.

Daher ist es nicht zu verwundern, daß der moderne Mensch, wenn er sich dem sozialen Leben zuwendet, dies als Techniker tut, der zuerst eine Maschine in ihre allerkleinsten Teile ausein­andernimmt und sich dann anschickt, sie nach seinem eigenen Modell wieder zusammenzusetzen. Aber da es sich um soziale Wirklichkeiten handelt, trifft sein Eifer, etwas ganz Neues zu konstruieren, auf unüberwindliche Hindernisse, nämlich auf die menschliche Gesellschaft selber mit ihren von der Geschichte ge­heiligten Ordnungen. Das soziale Leben ist in der Tat etwas, das langsam ins Leben getreten ist, unter vielen Mühen und gleichsam durch aufeinanderfolgende Ablagerungen der positi­ven Beiträge, die die voraufgehenden Generationen geleistet ha­ben. Nur wenn sich die neuen Fundamente auf diese festen Schichten stützen, ist es möglich, noch etwas Neues zu bauen. Die Herrschaft der Geschichte über die sozialen Wirklichkeiten der Gegenwart und der Zukunft kann darum nicht bestritten und von denen vernachlässigt werden, die es in Angriff nehmen wollen, sie zu verbessern oder sie den neuen Zeiten anzupassen. Doch die angeblichen Realisten wenden in der Absicht, um je­den Preis den Widerstand der geschichtlichen Wirklichkeit zu brechen, ihren Zerstörungsdrang gegen die Religion, der sie vor­werfen, die ganze Vergangenheit geschaffen zu haben und am Leben erhalten zu wollen, ganz besonders ihre wertlosesten Formen; der sie vor allem vorwerfen, die sozialen Gedanken des Menschen auf absolute, das heißt unwandelbare Schemata festzulegen. Sie stellt daher ein Hindernis auf dem Weg in die Zukunft dar und muß darum abgeschafft werden25.

Die Religion und die Wirklichkeit der Vergangenheit lehren, daß die sozialen Strukturen, wie Ehe und Familie, Gemeinde und berufliche Gemeinschaft und persönliches Eigentum als Grundlage des sozialen Zusammenhalts, wesentliche Zellen sind, die die Freiheit des Menschen und damit seine Rolle in der Ge­schichte sichern. Sie sind daher unantastbar, und ihr wesentlicher Kern kann keiner wiltkürlichen Revision unterworfen werden26.

Ein weiterer Irrtum des sogenannten realistischen Denkens, das die Wurzel des heutigen Widerspruchs bildet, besteht in dem Anspruch, eine ganz neue Gesellschaft zu schaffen, ohne sich um die geschichtliche Wirklichkeit des Menschen, geschweige denn um den freien Akt zu kümmern, der diese bestimmt, oder um den Glauben, der diese Freiheit nährt und schützt. Es ist un­möglich, alle Folgen dieses Irrtums vorauszusehen; aber die unmittelbarste wird die Vernichtung jener schon so labilen Si­cherheit sein, die die Welt so glühend ersehnt27.

Die christliche Religion anerkennt und respektiert die Herr­schaft der Geschichte über die Gegenwart und Zukunft der menschlichen Gesellschaft, weil der Gläubige alles, was echte Wirklichkeit ist, nicht übergehen oder ablehnen kann. Er weiß, daß nicht ein Geschehnis, das sich nach mechanischen Gesetzen entfaltet, an der Wurzel der menschlichen Wirklichkeit und Ge­sellschaft steht, sondern die freie und stets gütige Tat Gottes und das freie Handeln der Menschen, ein von Liebe und Treue getra­genes Handeln, wo immer die Menschen der Ordnung Gottes folgen. So wird in der Wiege von Bethlehem der tiefste Sinn der Geschichte des Menschen, Vergangenheit und Zukunft, wirk­lich Leib und umfaßt auch seine Gegenwart, mag sie noch so traurig sein, und der Christ tritt ihr mit der tröstlichen Über­zeugung der Geborgenheit entgegen28.

So ist die Achtung gegenüber dem, was die Geschichte hervor­gebracht hat, das Zeichen eines ursprünglichen Willens zur Re­form und die Garantie für deren glücklichen Erfolg. Das gilt für die Geschichte als jenes Reich menschlicher Wirklichkeit, in der der soziale Mensch sich nicht nur mit den Kräften der Natur, sondern auch mit sich selbst beschäftigen muß. Verantwortlich gegenüber denen, die waren, wie denen, die sein werden, wurde ihm der Auftrag gegeben, unablässig am Gemeinschaftsleben zu formen, in dem stets eine dynamische Entwicklung durch per­sönliches freies Handeln stattfindet, doch ohne die Sicherheit zu zerstören, die man in der Gesellschaft und durch die Gesell­schaft besitzt, und wo andrerseits immer ein gewisser Grund­bestand von Überlieferung und Statik bleibt, der die Sicherheit erhält, ohne doch von seiten der Gesellschaft das freie persön­liche Handeln des einzelnen unmöglich zu machen29.

Diese Überlegungen sind weniger abstrakt und fern von der konkreten Wirklichkeit, als es scheinen könnte. Wir wünschen nur, daß sie dort vernommen werden, wo man an die Erschlie­ßung wenig entwickelter Gebiete, der sogenannten unterent­wickelten Länder, denkt. Gewiß ist der Eifer, die bestehenden sozialen Strukturen, die der Verbesserung fähig sind, zu heben, lobenswert; aber es wäre ein Irrtum, den Menschen unter dem Einfluß der Technik und der modernen Organisation aus allen seinen Überlieferungen herauszureißen. Wie Pflanzen, die man aus ihrem Erdreich reißt und in ein feindliches Klima umpflanzt, würden sich diese Menschen grausam isoliert fühlen, um dann vielleicht Ideen und Tendenzen zur Beute zu fallen, die im Grunde niemand wollen kann30.

Der Papst beschäftigt sich weiter mit der Anwendung der rein technischen Methoden des sogenannten Realismus auf den heutigen demokratischen Staat und betont, wie das Leben des Staates davon abhängt, daß es von der Verantwortung und der moralischen Zustimmung seiner Bürger getragen ist — also von sittlichen Gesinnungen. Letzten Endes können sich solche echten Gesinnungen nur im Religiösen begründen. Deswegen ist eine völlige Uninteressiertheit des Staates gegenüber der Religion, ihre vollständige Trennung, einer der Irrtümer modernen Staats­denkens. Der Laizismus hat sich nicht bewährt.

Der moderne Staat nimmt immer mehr den Charakter des Unpersönlichen an, und diese Entpersönlichung ist ein sehr wirksames Leidensmotiv des modernen Menschen, das die Sta­bilität des sozialen und staatlichen Lebens aufs tiefste bedroht.

Eine noch ausgedehntere Anwendung findet der falsche Rea­lismus in der heutigen demokratischen Struktur, deren Mangel­haftigkeit, wie Wir schon andeuteten, von bloßen Mängeln der Einrichtungen abhängen soll, die man der noch fehlerhaften Kenntnis der natürlichen Abläufe und des Komplexes der Funk­tionen des sozialen Mechanismus zuschreibt.

Nun hängt aber auch der Staat und seine Form von dem moralischen Charakter der Bürger ab, ganz besonders heute, wo der moderne Staat im hohen Gefühl der technischen und organisatorischen Möglichkeiten nur zu sehr geneigt ist, durch öffentliche Einrichtungen dem einzelnen das Denken und die Verantwortung für sein Leben abzunehmen. Eine so beschaffene moderne Demokratie muß also fehlgehen, sobald sie sich nicht mehr an die einzelne sittliche Verantwortlichkeit der Bürger wendet oder wenden kann. Doch selbst wenn sie wollte, wäre sie dazu oft nicht mehr mit positivem Ergebnis imstande, weil sie überall dort keine Antwort fände, wo der Sinn für die wahre menschliche Wirklichkeit, das Bewußtsein der Würde der mensch­lichen Natur und ihrer Grenzen im Volk nicht mehr lebendig sind. Man versucht, der Lage abzuhelfen, indem man große in­stitutionelle Reformen unternimmt, häufig auf zu weiter Basis oder auf falschen Grundlagen; aber die Reform der Institutio­nen ist nicht so dringlich wie die der Sitten. Diese ihrerseits kann jedoch nur auf der Grundlage der wahren Wirklichkeit des Menschen vollzogen werden, und diese erlernt man in gläubiger Demut vor der Krippe in Bethlehem. Auch im Leben der Staaten haben die sittliche Kraft und Schwäche der Menschen, die Sünde und die Gnade einen ausschlaggebenden Anteil. Die Politik des 20. Jahrhunderts kann das nicht außer acht lassen, und sie kann auch nicht ertragen, daß sie sich in den Irrtum verrennt, Staat und Religion voneinander getrennt zu halten im Namen eines Laizismus, den die Tatsachen nicht rechtfertigen31.

In vielen Ländern ist der moderne Staat auf dem Wege, zu einer riesenhaften Verwaltungsmaschine zu werden. Er legt seine Hand auf fast das gesamte Leben: die ganze Stufenleiter der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Bezirke, bis zu Geburt und Tod, will er zum Gegenstand seiner Verwaltung machen. Kein Wunder, wenn in dieser Atmosphäre des Unper­sönlichen, die das ganze Leben zu durchdringen und zu umhül­len sucht, der Sinn für das Gemeinwohl im Gewissen der Ein­zelnen schwindet und der Staat immer mehr den Charakter einer sittlichen Gemeinschaft seiner Bürger verliert.

In dieser Schau werden Ursprung und Ausgangspunkt der Strömung klar, die den modernen Menschen in einen Zustand der Angst versetzt: seine ‘Entpersönlichung’. Gesicht und Name sind ihm weitgehend genommen; in vielen der wichtigsten Le­bensbetätigungen ist er zum bloßen Objekt der Gesellschaft herabgewürdigt, die sich ihrerseits wieder in ein unpersönliches System, eine kalte Organisierung von Kräften umwandelt32.

Diese Entpersönlichung, die auf dem Glauben an die Wirk­samkeit perfekter Organisationsprinzipien beruht, wirkt sich besonders den bedürftigen Einzelnen, Gesellschaftsschichten und Völkern gegenüber als eine Erschwerung ihres Leidens aus. Sie dringt selbst in den Bereich der christlichen Caritas vor. Nun entsteht aber, wie im dritten Abschnitt dieses Buches schon dar­gelegt (vgl. S. 41) die für die Einigung der Menschheit uner­läßliche Atmosphäre in Wirklichkeit aus einem Reichtum ein­zelner Akte der Brüderlichkeit und Solidarität. Solche persön­lichen Taten und die intensive Pflege menschlicher Beziehung sind also eine Voraussetzung und zugleich der Inhalt einer Ord­nung, die den Menschen über die Dinge setzt — einer Ordnung der Gerechtigkeit und des Friedens.

Man richte an die so verschiedenartigen Gruppen der Bedürf­tigen die Frage, welche Antwort ihnen die Gesellschaft in ihrer zunehmenden Verkennung der Persönlichkeit zu geben pflegt. Man frage den Durchschnittsarmen ohne jegliche Hilfsquelle, eine gewiß nicht seltene Erscheinung in Stadt und Land; man frage den notleidenden Familienvater, den ständigen Kunden des Wohlfahrtsamtes, dessen Kinder nicht das ferne, ungewisse Eintreten eines immer zukünftigen Goldenen Zeitalters abwar­ten können. Man frage auch ein ganzes Volk auf niedrigem oder sehr tiefem Lebensstand, das in der Völkerfamilie neben Brüdern in Wohlstand oder auch Überfluß seinen Platz einnimmt und von einer internationalen Konferenz zur anderen eine an­haltende Besserung seiner Lage erwartet. Was antwortet die heutige Gesellschaft oft auch dem Arbeitslosen am Schalter des Arbeitsamtes, der vielleicht gewohnheitsmäßig auf eine neue Enttäuschung gefaßt ist, der sich aber nicht mit dem unverdien­ten Los abfindet, als unnützes Wesen zu gelten? Und wie lautet die Antwort an ein Volk, dem es bei allen Bemühungen und Anstrengungen nicht gelingt, sich von dem lähmenden Schraub­stock der Massenarbeitslosigkeit zu befreien?

Ihnen allen wiederholt man seit langem unaufhörlich, man könne ihren Fall nicht als persönlichen und als Einzelfall be­handeln; die Lösung müsse gefunden werden in einer allge­meinen Neuordnung, einem allumfassenden System, das ohne wesentlichen Nachteil für die Freiheit, unter immer stärkerer Ausnützung des technischen Fortschritts Menschen und Dinge zu einer einheitlicheren und wachsenden Wirkkraft führen werde. Wenn dieses System einmal verwirklicht sei, dann, so behauptet man, werde sich die Wohlfahrt aller, eine ständig steigende Le­benshaltung und Vollbeschäftigung überall von selbst ergeben33.

In einer Zeit, die sich sozial nennt, in der — außer der Kirche — der Staat, die Gemeinden und die anderen öffentlichen Stel­len sich so vielen sozialen Fragen widmen, ist es die große Ver­suchung auch für die Gläubigen, den Armen, der bei ihnen an­klopft, einfach an das Hilfswerk, das Amt, die Organisation zu verweisen, in der Meinung ihrer persönlichen Verpflichtung schon voll Genüge getan zu haben durch die Beiträge an jene Einrichtungen in Form von Steuern oder freiwilligen Gaben34.

Wer Abhilfe für die Nöte der Einzelnen und der Völker schaffen will, darf das Heil nicht von einem unpersönlichen Sy­stem von Menschen und Dingen erwarten, auch nicht, wenn es in technischer Hinsicht mächtig entwickelt ist. Jeder Plan, jedes Programm muß von dem Grundsatz getragen sein, daß der Mensch als Träger, Hüter und Förderer der menschlichen Werte über den Dingen, auch über der Anwendung des technischen Fortschritts steht und daß man vor allem die Grundformen der gesellschaftlichen Ordnung, von denen Wir vorhin gesprochen haben, vor einer ungesunden ‘Entpersönlichung’ bewahren und sie zur Schaffung und Entfaltung menschlicher Beziehungen ver­werten muß. Werden die sozialen Kräfte auf dieses Ziel hinge­lenkt, so werden sie nicht nur eine ihnen natürliche Funktion erfüllen, sondern einen mächtigen Beitrag leisten zur Befriedi­gung der gegenwärtigen Bedürfnisse; denn sie haben die Auf­gabe, die volle gegenseitige Solidarität der Menschen und Völ­ker zu fördern35.

Es ist offenkundig, daß das Modell für das Denken, das die Anwendung technischer Verfahren auf den Gesamtbereich der menschlichen Wirklichkeit als allein erfolgversprechend für die Gestaltung der Welt ansieht, die Entwicklung der industriellen Wirtschaft ist. Der Papst weist darauf hin, daß im Grunde diese Denkform sowohl in der Entwicklung der kommunistischen wie der westlichen “freien” Welt wirksam ist — sie unterscheiden sich nur durch Spielformen, durch einen mehr oder weniger gro­ßen Radikalismus dieser Anwendung: Der Kommunismus unter­wirft ihm tatsächlich die gesamte menschliche Wirklichkeit, wäh­rend die westliche Welt noch stärkste Hemmungen hat, einer solchen Theorie zuzustimmen. Aber sie setzt doch ein merkwür­diges Vertrauen in die Fähigkeit der eigengesetzlich sich ent­wickelnden Wirtschaft, durch ihre Perfektion und die Steigerung ihrer Produktion alle menschlichen, sozialen, politischen Pro­bleme gleichsam nebenher mitlösen zu können. Man macht also die Produktion zum Götzen, indem man sie absolut setzt.

Eine besondere Warnung richtet der Papst an die Arbeiter­schaft: die Beseitigung ihrer “Selbstentfremdung”, das heißt des Bewußtseins, daß sie nicht nur Objekt, sondern Subjekt des ge­sellschaftlichen Lebens sind, kann nicht allein durch ihre Wert­steigerung innerhalb des wirtschaftlichen Lebens, der “produzie­renden Gesellschaft”, geschehen, (was letztlich doch nur eine funktionelle Steigerung — als Rädchen einer unpersönlichen Maschinerie — bedeutete), sondern durch die Steigerung ihres menschlichen Wertes, ihrer Verantwortung in allen Bereichen ­dem sittlichen, sozialen, kulturellen, politischen. Was mensch­licher Wert in seiner Vollbedeutung ist, zeigt letztlich nur die religiöse Auffassung vom Menschen.

„Es ist unleugbar, daß die Wirtschaft mit Hilfe des sich über­stürzenden Fortschritts der modernen Technik in fieberhafter Tätigkeit so überraschende Ergebnisse erzielt hat, daß man eine tiefgreifende Umformung des Lebens der Völker, auch jener, die man bisher als zurückgeblieben betrachtete, voraussehen darf. Zweifelsohne kann man der Wirtschaft die Bewunderung für das, was sie geleistet hat, wie für das, was sie verspricht, nicht versagen. Dennoch übt sie mit ihrer scheinbar unbegrenz­ten Fähigkeit, Güter ohne Zahl zu erzeugen, und mit ihren viel­fältigen Verflechtungen auf eine große Zahl Zeitgenossen einen Zauber aus, der ihre Möglichkeiten übersteigt und sich auf ihr fremde Gebiete erstreckt. Die Täuschung, die in einem solchen der modernen Wirtschaft entgegengebrachten Vertrauen liegt, verbindet noch einmal die beiden Teile, in welche die Welt von heute zerfällt. In dem einen von ihnen wird gelehrt: Wenn der Mensch eine so große Macht bewiesen hat, daß er die technisch-wirtschaftliche Wunderwelt schaffen konnte, auf die er heute stolz ist, so wird er auch die Fähigkeit haben, die Befreiung des menschlichen Daseins von allen Entbehrungen und allen Übeln, unter denen es leidet, zu organisieren und so eine Art Selbst­erlösung zu vollbringen. In dem anderen Teil aber gewinnt die Auffassung Raum, daß von der Wirtschaft genauer von einer ihrer Sonderformen, dem freien Handel, die Lösung des Frie­densproblems zu erwarten sei.”36

*

Heute ist ja die Gefahr groß, daß Teile der Arbeiterschaft ihre Lebenserfüllung, die innerliche Abrundung der Gestalt des Arbeiters auf einem falschen, nicht religiösen, rein diesseitigen Wege suchen. Geblendet von dem erstaunlich durch die Technik vermehrten praktischen Können des Menschen und von der da­durch wieder mehr zu schätzenden individuellen Befähigung des Arbeiters, macht er sich vor, daß er zu seinem eigentlichen Wert und zu sich selber komme, wenn er immer wieder in den Wer­ken des Menschen sich selbst als Glied der produzierenden Ge­sellschaft wieder findet. Man will also die produzierende Gesell­schaft an die Stelle Gottes setzen. Ganz abgesehen davon, daß hier eine Erneuerung des widergöttlichen Turmbaues von Babel vorliegt, ist zu sagen, daß ein solches Menschenbild in der west­lichen Welt der Arbeit den Arbeiter für die gleichgeartete Men­schenauffassung der vom Osten her andrängenden Ideen reif macht. Dem mit aller Kraft entgegenzutreten und die religiöse Auffassung vom Menschen unter den Arbeitern zu verbreiten ist heute die gesteigerte apostolische Aufgabe der katholischen Arbeitervereine37.

Bei der ganzen Betrachtung der modernen Wirtschaft muß man sich die Grundwahrheit immer wieder einprägen: daß die Wirtschaft Dienstcharakter hat und das Wohl der Menschen und seiner natürlichen Gemeinschaften fördern soll. Die Ziele und Verfahren der Wirtschaft müssen sich also dem Stufenbau der anderen, höheren Ziele und Verfahren der menschlichen Wirk­lichkeit eingliedern, wenn sie als sittlich gelten wollen. So wird ihr ein Maß und eine Grenze des ihr Zustehenden und Mög­lichen, ihres Fortschrittes, gesetzt.

Der Papst stellt nun fest, daß die heutige Gesellschaft offen­bar nicht imstande ist, der Wirtschaft ein solches Maß zu setzen. Wir nennen unsere Wirtschaft eine “dynamische, expansive Wirt­schaft”. Diese sich ständig ausweitende (expansive) Dynamik besteht vor allem in einer unausgesetzt steigenden Produktivi­tät, die durch bessere Organisation der Produktionsvorgänge (Rationalisierung) und Erarbeitung immer wirksamerer techni­scher Verfahren erzielt wird (deren neuestes die Automation ist; s. unten S. 69 ff.). Die sich so ständig vermehrende Gütermenge muß aber abgesetzt werden. Sie verlangt auch einen steigenden Konsum, vor allem auf dem inneren Markte bzw. den Märkten der begünstigten wirtschaftlich stärkeren Völker, die an der durch die Produktionssteigerung und Vollbeschäftigung verur­sachten Steigerung des Sozialproduktes teilhaben. Von hier aus wäre auch schon rein von wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Frage der unterentwickelten Länder interessant, wenngleich ihre Entwicklung nicht allein unter dem Gesichtspunkt der „Märkte” gesehen werden darf, sondern einen umfassenderen Blick for­dert. Sie als ein rein materielles Problem anzusehen, könnte, wie schon gesagt (vgl. S. 61), eher ein Anwachsen von Unfrieden, Zerstörung, Unsicherheit hervorrufen. (Der Papst fordert auch hier wieder ein organisches Gliederungsprinzip, nämlich die Zu­sammenfassung von Nationalwirtschaften zunächst zu verschie­denen, größeren, ja sogar „relativ großen” regionalen Wirt­schaftsräumen, in denen die eigenständige Entfaltung ihrer Glie­der und die Bewahrung ihrer Eigenart keiner Uniformierung unterworfen wird, vgl. auch S. 23.)

In unseren Verhältnissen jedenfalls beginnt sich die Steige­rung der Gütererzeugung in einer Steigerung des Konsums aus­zuwirken, die weit über das durch echte Bedürfnisse geforderte Maß hinausgeht, so daß diese Bedürfnisse ebenfalls künstlich gesteigert und z. T. überhaupt erst geweckt werden müssen. Der Reiz dieses Konsumangebots durch Propaganda und Reklame überspielt das vernünftige Urteil des guten Haushalters, der seinen Bedarf nach einer menschengemäßen, auch die höheren kulturellen und geistig-sittlichen Güter berücksichtigenden Rang­ordnung der Güter einteilen will.

Schon bemerken die Soziologen, daß hier eine ähnliche Ge­fahr für den Menschen entsteht, wie sie im industriellen An­fangs- und Hochstadium die “Selbstentfremdung” und Entper­sönlichung des Arbeiters im Produktionsvorgang darstellte ­nämlich die Selbstentfremdung und Entpersönlichung des Men­schen als Konsumenten, der nicht mehr selbst bestimmt, was er verbraucht, sondern es sich aufschwatzen läßt und einem kol­lektiven Ideal des “Lebensstandards” folgt. Dieser “Kult des Lebensstandards” ist tatsächlich eine Art Abgötterei der west­lichen Welt.

Ebenso beginnen die Wirtschaftler und Staatsmänner immer mehr zu bemerken, daß die Dynamik der Wirtschaft deren eigene und die Beständigkeit des sozialen Lebens bedroht und ermahnen, sie durch Vernunft und sittliches Maß zu zügeln und zu mäßigen, freilich ohne immer angeben zu können, aus wel­chen Quellen solche Vernunft und Sittlichkeit sich nähren sollen.

Eben das tut, seinem hohen Amt gemäß, der Papst, wenn er die Mißstände und Irrwege des Wirtschaftsdenkens der Neuzeit aufweist.

Heute vollzieht sich die Produktion und der Konsum der wirtschaftlichen Güter in einer Gesellschaft, die dem Fortschritt weder Maß noch Harmonie noch Stabilität zu geben vermag. Das ist die Quelle, aus der vielleicht mehr als aus den äußeren Verhältnissen unserer Zeit jenes Gefühl von Unsicherheit, jenes Fehlen von Stetigkeit hervorgeht, das man im modernen Wirt­schaftsleben feststellen kann; eine Unsicherheit, die auch durch die Hoffnungen auf die Zukunft nicht erträglicher gemacht wer­den kann. Vergeblich stellt man dem die Möglichkeiten der Technik und der Organisation entgegen, die die Verheißung auf­blitzen lassen, immer mehr und immer billiger zu produzieren; vergeblich auch die Voraussicht einer in Zukunft immer noch gesteigerten Lebenshaltung, die Menge der materiellen Bedürf­nisse, die die Menschen in der ganzenWelt noch steigern können. Das ist, so sagten Wir, vergeblich; denn je ausschließlicher und unaufhörlicher die Tendenz zum Konsum gesteigert wird, desto mehr hört die Wirtschaft auf, den wirklichen und normalen Menschen zum Gegenstand zu haben, den Menschen, der die Bedürfnisse des irdischen Lebens auf sein letztes Ziel und das Gesetz Gottes hinordnet und daran mißt38.

Die menschliche Gesellschaft ist keine Maschine, und man darf sie nicht zu einer solchen machen, auch nicht auf wirtschaftlichem Gebiet. Man muß im Gegenteil immer wieder auf den Beitrag der menschlichen Person und die Eigenart der Völker als die natürliche Grundlage zurückgreifen. Von da wird man immer wieder ausgehen müssen, um das Ziel der Volkswirtschaft anzu­streben, nämlich die Sicherung der ständigen Befriedigung mit materiellen Gütern und Diensten, die ihrerseits auf die Förde­rung der sittlichen, kulturellen und religiösen Verhältnisse hin­geordnet sind. Darum sollten die Solidarität und das erwünschte bessere Verhältnis von Lebenshaltung und Arbeit sich nach ver­schiedenen, wenn auch verhältnismäßig großen Gebieten ord­nen, wo die Natur und die geschichtliche Entwicklung der betei­ligten Völker leichter eine gemeinsame Grundlage dafür bieten39.

Wird eine Welt, die nur die Wirtschaftsform eines ungeheuren produktiven Organismus kennt, befähigt sein, einen günstigen Einfluß auf das gesellschaftliche Leben im allgemeinen wie auf seine drei grundlegenden Einrichtungen, die Familie, den Staat, das Privateigentum, im besonderen auszuüben? Wir müssen ant­worten, daß die unpersönliche Art einer solchen Welt im Gegen­satz steht zu der ganz persönlichen Anlage jener Einrichtungen, die der Schöpfer der menschlichen Gesellschaft gegeben hat. Tat­sächlich haben Ehe und Familie, Staat und Privateigentum von Natur die Tendenz, den Menschen als Persönlichkeit zu formen und zu entwickeln, ihn zu schützen und zu befähigen, in frei­williger Mitarbeit und persönlicher Verantwortung zur Erhal­tung und zur — ebenfalls persönlichen — Entwicklung des ge­sellschaftlichen Lebens beizutragen. Die Schöpferweisheit Gottes ist also jenem System unpersönlicher Einheit fremd, das sich gegen die menschliche Persönlichkeit, Ursprung und Zweck des gesellschaftlichen Lebens, Bild Gottes ihrem innersten Wesen nach, vergeht40.

Auch wenn man keineswegs glauben darf, der immer wieder­kehrende Verweis auf die künftige, mächtige Organisation von Menschen und Dingen sei nur die armselige Ausflucht derer, die nicht helfen wollen; wenn man vielmehr überzeugt ist, es handle sich um ein festes und aufrichtiges Versprechen, das tatsächlich Vertrauen wecken kann, so sieht man doch nicht, auf was für ernsthafte Grundlagen es sich stützen könnte; denn die bisher gemachten Erfahrungen führen eher zu Skepsis gegenüber dem erwählten System. Dieser Zweifet ist übrigens auch wegen einer Art Zirkelschlusses berechtigt, insofern das ins Auge gefaßte Ziel und die angewandte Methode einander nachlaufen, ohne sich jemals zu erreichen und zusammenzu finden; in der Tat, wo man Vollbeschäftigung durch eine ständig steigende Lebenshal­tung sichern will, hat man Grund, sich besorgt zu fragen, wie weit denn die Steigerung gehen könne, ohne zur Katastrophe und vor allem zu Massenarbeitslosigkeit zu führen. Es scheint also, daß man nach einem möglichst hohen Grad der Beschäf­tigung streben, aber sich gleichzeitig bemühen muß, deren Be­ständigkeit zu sichern.

Einem solchen, von dem Gespenst jenes unlösbaren Wider­spruchs beherrschten Ausblick kann also kein Vertrauen entge­gengebracht werden; und man kann sich seiner Schraube nicht entwinden, wenn man dabei bleibt, einzig auf den Faktor der höchsten Produktivität zu zählen. Es ist notwendig, die Begriffe Lebenshaltung und Verwendung der Arbeitskraft nicht mehr als rein quantitative Faktoren zu betrachten, sondern vielmehr als menschliche Werte im vollen Sinne des Wortes41.

Die Zivilisation der Völker des Abendlandes kann nicht in einem Materialismus untergehen, der, mindestens unausgespro­chen, sein Ideal im Genuß der Bequemlichkeiten des Lebens sieht; sie muß sich vielmehr die Befreiung der geistigen Werte zum Ziel setzen, die in vielen modernen Einrichtungen so hart be­kämpft werden. Wenn es nur zu offenkundig ist, daß böse Ten­denzen, Kräfte der Erniedrigung und Zersetzung ununterbro­chen das Herz des einzelnen und das Kollektiv gewissen der Na­tionen angreifen, muß man sich dann nicht auf jeder Stufe der Sozialordnung, in Familie, Arbeits- und Freizeitmilieu, poli­tischen und kulturellen Organisationen, darum bemühen, die Faktoren der Demoralisierung und alles, was den Egoismus und den Geist des Genusses oder der Herrschaft unterhält, lahmzu­legen? Gewiß fehlt es weder auf dieser noch auf jener Seite des Ozeans an Männern, die sich bemühen, so treu wie möglich den Forderungen ihres Gewissens zu entsprechen und Gerechtigkeit und Liebe in ihrem Milieu zur Herrschaft zu bringen. Diese nun müssen handeln. Wir glauben, daß die grundlegenden christlichen Wahrheiten die geeignetste Kraft darstellen, die theore­tischen Prinzipien und die praktischen Mittel zu liefern, dieses Ideal zur Wirklichkeit werden zu lassen . . .42

Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität durch Ra­tionalisierung und neue technische Verfahren drückt sich nicht zuletzt in einer Verringerung der Arbeitszeit aus — ein im gan­zen durchaus wohltätiges und von der Kirche warm begrüßtes Ergebnis. Man hat deshalb schon gesagt, das Lebensproblem der kommenden Gesellschaft werde nicht mehr die Gestaltung des Arbeitslebens, sondern der Freizeit sein. Angesichts der mit all diesen Fortschritten Hand in Hand gehenden “Entpersönli­chung” des Menschen bereitet dieses “Freizeitproblem” vielen Verantwortlichen ernste Sorge, zumal schon Tendenzen spürbar sind, sich einmal bei seiner Lösung wieder auf das Prinzip einer perfekten, äußeren und unpersönlichen Organisation zu ver­lassen, zum anderen es zu einer weiteren Steigerung der Be­dürfnisse auszunützen. Die Bändigung der Konsumdynamik würde also noch erschwert und die Stabilität erneut gefährdet.

Der Papst sieht diese Gefahren, die vor allem durch die Automation erheblich akuter werden könnten, aber er wendet sich gleichzeitig auch gegen die Entwertung des Arbeitslebens, die in alle dem steckt. Das Verhältnis von Freizeit und Arbeit ist richtig nur aus dem Zusammenhang der Aufgabe des Dienstes, den der Mensch in Verantwortung vor dem Schöpfungsauf­trag Gottes an der Geschichte und der Welt zu leisten hat, mit der Aufgabe seiner Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung zu sehen und einzuschätzen. Es ist sicher eine sehr unpopuläre Feststellung, wenn der Papst hier nachdrücklich sagt, daß die Freizeit dem Arbeitsleben dienen soll und nicht umgekehrt.

Das Volk hat mit gutem Recht den technischen Fortschritt begrüßt, weil er die Last der Arbeit erleichtert und die Produk­tion steigert. Aber man muß doch zugeben, daß, wenn dieses Gefühl nicht in den richtigen Grenzen bleibt, die menschliche und christliche Auffassung von der Arbeit notwendig Schaden leidet. Ebenso ist es eine Folge der unrichtigen technischen Le­bensauffassung und daher auch Arbeitsauffassung, daß die Frei­zeit als Selbstzweck aufgefaßt wird, anstatt daß sie als rechte Entspannung und Wiederherstellung betrachtet und benutzt wird, die wesentlich an den Rhythmus eines geordneten Lebens gebunden ist, in dem Ruhe und Mühe ineinander verwoben sich abwechseln und zu einer einzigen Harmonie ergänzen43.

Wenn die Maschine — wie man es sich wohl verheißungsvoll ausmalt — die Zeit der Arbeit und der Mühe wirklich immer mehr und sozusagen bis zum Äußersten verringern sollte, so müßte die Freizeit auch ihrerseits notwendigerweise ihren na­türlichen Sinn der Entspannung und Ruhe zwischen zwei Mo­menten der Tätigkeit einbüßen. Sie würde vielmehr das erste Element des Lebens und Anlaß zu neuen und oft kostspieligen Bedürfnissen wie andererseits ein Quell von Gewinn für die, die diese Bedürfnisse befriedigen. Damit wäre das ursprüngliche Verhältnis zwischen dem wirklichen und normalen Bedürfnis und den künstlich erzeugten Forderungen auf den Kopf gestellt. Die Einkünfte würden notwendigerweise steigen, aber sehr bald würden sie nicht mehr genügen. Das Fehlen der Sicherheit bliebe bestehen, denn das soziale Wirtschaftsleben ginge von einer Menschheit aus, setzte eine Menschheit voraus, die vom rechten und gerechten Maß ihres Seins abgewichen wäre44.

Der [richtig] ausgebildete Arbeiter kann auch das Problem der Freizeit, das die Automation mit sich bringen wird, lösen. Wer den religiösen, sittlichen und beruflichen Sinn der Arbeit wirklich verstanden hat, wird auch ebenso den Sinn der Freizeit begreifen und sie nützlich verwenden können. Er wird auch von der falschen Vorstellung bewahrt bleiben, daß der Mensch ar­beitet, um die Freizeit zu genießen, während er in Wirklichkeit die Freizeit hat — außer zu einer natürlichen und ehrenhaften Entspannung, zur Vervollkommnung seiner Fähigkeiten und zur besseren Erfüllung seiner religiösen, familiären und sozialen Pflichten —, um sich physisch und geistig arbeitsfähig zu ma­chen. In diesem Punkt könnte eine unbedachte Ausnützung der Automation nicht geringen Schaden anrichten, sowohl für die Moral der Einzelnen als folglich auch für die gesunde Struktur der Produktion und des Konsums der Volkswirtschaft45.

Besonders tief berührt die Störung des Verständnisses von Arbeit und Freizeit die Sonntagsheiligung. Die Sonntagsruhe ist nicht nur eine göttliche Vorschrift, sondern sie bestimmte bisher den ganzen Rhythmus unseres kulturellen Gemeinschaftslebens. Ihre Behandlung ist also ein sicheres Zeichen für Fortschritt und Verfall einer menschengemäßen, stabilen Ordnung.

Für [Leo XIII.] ist [die Einhaltung der Sonntagsruhe] ein Zeichen dafür, ob und inwieweit es den gesunden Menschen und die wahre Harmonie des Fortschritts in der menschlichen Ge­sellschaft noch gibt. Wenn er die Arbeiterfrage mit der Festtagsruhe und Sonntagsheiligung in Verbindung bringt, so sieht er klar und tief: Man kann das äußere Wohl, zumal das des Ar­beiters, nicht von einer Produktionsweise erwarten, die vom Arbeiter und seiner Familie verlangt, regelmäßig den Sonntag zu opfern. Noch weniger kann es aus einer Lage der Dinge er­wachsen, in welcher der Sonntag nicht, wie ihn Gott gewollt, ein Tag der Ruhe und der Erholung in einer Atmosphäre echter Frömmigkeit ist. Die Technik, die Wirtschaft und die Gesell­schaft bezeugen den Grad ihrer sittlichen Gesundheit durch die Art und Weise, wie sie die Heiligung des Sonntags begünstigen oder verhindern46.

Noch sichtbarer ist der Einfluß des „technischen Geistes” in der Arbeit, wenn man dem Sonntag seine einzigartige Würde als Tag der Gottesverehrung und der leiblichen und geistigen Ruhe für die einzelnen und die Familie nimmt, so daß er statt dessen nur noch einer jener freien Tage im Laufe der Woche ist, die auch wohl für jedes Mitglied der Familie anders liegen könnten, je nach dem größeren Ertrag, den man sich von einer solchen technischen Verteilung der materiellen und menschlichen Energie verspricht; oder wenn die Berufsarbeit derartig von dem Funk­tionieren der Maschine und der Apparate abhängig gemacht wird, daß sie den Arbeiter rasch verbraucht, so daß ein Jahr der Berufsausübung seine Kraft erschöpft wie zwei oder mehr Jahre normalen Lebens47.

Es ist in den vorhergehenden Betrachtungen schon öfter dar­auf hingewiesen worden, daß alle die beschriebenen Erscheinun­gen durch das neue Phänomen der Automation in ihrer Wir­kung ungeheuer bestärkt werden. Sie ist vor allem geeignet, die Überzeugung des technischen Geistes, daß alle Lebensvorgänge in beherrschbare Mechanismen zu verwandeln oder mindestens wie solche zu regeln wären, zu verstärken und sein Ideal einer restlos machbaren und gemachten Welt zu bestätigen. Der Papst zeigt in seiner Auseinandersetzung mit dem Problem der Auto­mation, daß alle schon vorher gegen die Ansprüche des Techni­zismus in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gemachten Einwände aus der Wirklichkeit des Menschen auch gegen den Anspruch der Automation gelten, den Menschen nun endgültig zum Herren einer von ihm geplanten und gemachten Welt zu erheben.

Die Schriften und Artikel, die von der Automation handeln, vermitteln häufig den Eindruck, als werde sie eine ganz neue Geschichtsära eröffnen. Bisher galten die “Mechanisierung”, die “Rationalisierung” und die “Automatisierung” bereits als mo­derne Methoden zur Steigerung der Produktion, zur besseren Verteilung der Güter und zur besseren Organisation der Ar­beitskräfte in Fabriken und Büros. Wenn man also heute mit solchem Nachdruck von der Automation spricht, denkt man offenbar an etwas mehr, an etwas, das nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Leben der Menschen und der Gesellschaft grundlegend ändern könnte. Heute, in dieser an sich schon von Zukunftshoffnungen und -befürchtungen erregten Welt, spaltet das Wort Automation die Geister in Optimisten und Pessimisten in bezug auf den Menschen und die Welt von morgen. So ent­steht das Gefühl, daß man mit ihr etwas zu schaffen vorhat, was die Mechanisierung, Rationalisierung und Automatisierung wesentlich übertrifft und man gelangt dahin, zu behaupten,
daß mit der Automation eine Welt beginnt, die “ausschließlich vom Menschen gemacht” ist, und daß der von den exakten Wissenschaften erleuchtete Mensch heute zum erstenmal Demiurg und autonomer Herr der Welt geworden ist48.

Daß die Automation als solche, als neuer Typ der Organisa­tion der materiellen Produktionskräfte, allein schon imstande sein soll, das Leben der Menschen und der Gesellschaft grund­legend zu ändern, das können vor allem nur die behaupten, die mit dem Marxismus fälschlicherweise der technischen Seite des menschlichen Lebens, der spürbaren Seite des Arbeitsvorgangs, eine grundlegende und ausschlaggebende Bedeutung beimessen. Die Gegenwart, die sich gern das technische Zeitalter nennt, neigt dazu, solche Zukunftsideen gelten zu lassen. Die Entwick­lung ist jedoch immer bestimmt durch die Gesamtheit des Men­schen inmitten der Gesetlschaft und also durch die Vielfalt der Faktoren, die mit seiner Einheit zusammenhängen, und nur in diesem Rahmen ist auch der technische Faktor wirksam. Er kann auf die Dauer weder stärker sein als die wirtschaftliche Logik noch als das soziale Leben im ganzen. Wäre es anders, so hätte Ihr Kongreß keinen Sinn, und die Arbeitswelt müßte die Auto­mation blind, wie ein unabänderliches Schicksal, hinnehmen. So groß aber der Einfluß der Automation werden kann, er bleibt seiner Natur nach begrenzt; er ist einer der Faktoren der Zu­kunft, aber für sich allein weder determinierend noch zwin­gend49.

Man kann also nicht uneingeschränkt behaupten, die Auto­mation sei das Bild einer neuen Zukunft der menschlichen Ge­sellschaft. Der Mensch mit seinem Drang zur Beherrschung der Welt bleibt immer, und zu seinem eigenen Vorteil, von Schran­ken begrenzt, die, soweit man sie auch hinausschieben mag, doch immer unübersteigbar bleiben und die ihm von der Natur oder, besser gesagt, von der göttlichen Weisheit selber auferlegt sind, jener Weisheit, die “dem Meer seine Grenzen gab, damit die Wasser das Ufer nicht überschritten” (Sprichw. 8, 29)50.

Ebensowenig gibt die Automation dem Menschen die Macht, Demiurg einer ganz von ihm „gemachten” Welt zu werden. Zweifellos schafft der Mensch dank der Methoden, die mit ihr eingeführt werden, eine Wirklichkeit, die äußerst genau einem vorher erarbeiteten Programm entspricht, und in diesem Sinn ist es eine von ihm “gemachte Welt”. Die technische Eroberung der Automation besteht gerade darin, daß sie aus einem solchen Programm die “Seele” zu machen versteht, die gleichzeitig einen ganzen Prozeß materieller Produktion dirigiert. Darum bemerkt man darin Kontrollen, Signale, Regulierungen, wie in einem lebenden Organismus, man entdeckt Störungen, man fin­det sogar eine selbsttätige Elastizität und Anpassungsfähigkeit des Produktionsprozesses. Nicht zu verwundern, wenn daher manche im Fortschritt der Naturwissenschaften die Möglichkeit sehen, auf der Grundlage des Automationsprinzips das Leben der menschlichen Gesellschaft nach einem vorher fixierten Pro­gramm so zu ordnen, daß es eine “gemachte Welt” wird. Aber für die soziale Wirklichkeit und deren haltbare Ordnung genü­gen keine statistischen und mathematischen Programme, wenn auch heute sogar die Sozialwissenschaften zu dieser einseitigen Auffassung ihres Gegenstandes neigen. Das soziale Leben ver­langt außerdem und in erster Linie andere Kenntnisse, Theo­logie, Philosophie und die Wissenschaften des geistigen Lebens des Menschen und seiner Geschichte51.

Bei der Darstellung der Probleme der Automation fällt eine wichtige Bemerkung, auf die hier noch hingewiesen werden soll. Wie die Wirtschaft in ihren Zielen den übergeordneten Bereichen des Sozialen, Staatlichen usw. unterworfen ist, so ist der tech­nische Vorgang den Zielen der Wirtschaft unterworfen. Techni­scher Fortschritt ist also nicht dasselbe wie wirtschaftlicher Fort­schritt, ja er kann diesen gefährden, wenn etwa die Kapitalien, die in technische Verfahren investiert werden, anderen Bereichen entzogen werden müssen; wenn er auf eine einseitige Förderung der industriellen Entwicklung zuungunsten der agrarischen usw. hindrängt. Die volkswirtschaftliche Vernunft darf also vor der Technik nicht einfach kapitulieren und darf den Satz: „Was technisch möglich ist, muß auch durchgeführt werden und wird sich als wohltätig und vernünftig herausstellen”, nicht kritiklos annehmen. Er kann allzuleicht zu schweren wirtschaftlichen und sozialen Gleichgewichtsstörungen führen und die Sicherheit und Stabilität der Gesellschaft gefährden.

Bei der Automation zeigt sich die Gefahr, die technische Produktivität mit der wirtschaftlichen Produktivität zu verwech­seln. Was sie Neues und Faszinierendes bietet, ist die Möglich­keit, in den Betrieben einen ständigen, ununterbrochenen Pro­duktionsprozeß aufrechtzuerhalten. Es ist klar, daß auf diese Weise eine gewaltige Steigerung ihrer Produktionsfähigkeit zu­stande kommt. Bedeutet das jedoch anderseits eine wirkliche Zunahme der Produktivität der Volkswirtschaft? Damit meinen Wir die dauerhafte und gesicherte Erreichung eines Zustandes, in dem die menschliche und materielleWohlfahrt aller Glieder der Bevölkerung möglich ist, weil alle, die unmittelbar — mit ihrer Arbeit, ihrem Boden, ihrem Kapital — zur Nationalwirt­schaft beitragen, ein ihrem Beitrag entsprechendes Einkommen daraus gewinnen. Außerdem müßte ein derartiger Zustand der Nationalwirtschaft so beschaffen sein, daß er die sozialen Span­nungen leicht ausgleichen könnte52.

Ein Volk, das nicht reich ist und unter dem Druck unmittel­barer und dringender Verpflichtungen auf den verschiedensten Gebieten, wie des Unterrichtswesens, der Verkehrswege, der Agrarreform, des Wohnungsbaus, steht, muß sich mit begrenz­tem Kapital selbst genügen können; es darf auf keinen Fall über seine Verhältnisse leben: und das könnte leicht geschehen, wenn die Ausgaben und Investierungen von der Magie des technischen Fortschritts beherrscht würden53.

Im Falle der Neuentstehung von Industrien . . . stellt sich die Frage: tragen diese neuen Industrien zur Wiederherstellung und Sicherung gesunder Ergiebigkeit der Volkswirtschaft bei oder nicht? Werden sie am Ende nur die Zahl jener Industrien ver­mehren, die immer neuen Krisen ausgesetzt sind? Sodann aber: was geschieht, um den inneren Markt zu sichern und zu ent­wickeln, dessen Ergiebigkeit der Stärke der Bevölkerung und der Vielfalt ihrer Bedürfnisse entspricht, wenn die Anlage von Kapitalien ausschließlich vom Anreiz vorübergehender Gewinn­aussichten gelenkt wird oder eitle Selbstgefälligkeit nationaler Prestigerücksichten die wirtschaftspolitischen Entscheidungen be­stimmt?

Mit Übereifer hat man sich auf die Massenfertigung, auf die Ausbeutung der Bodenkräfte und Bodenschätze bis zu ihrer Er­schöpfung gestürzt; mit allzu rücksichtsloser Härte hat man Landbevölkerung und Landwirtschaft diesen Zielsetzungen ge­opfert. Ebenso blind ist das geradezu abergläubische Vertrauen auf den Mechanismus des Weltmarktes zur Herstellung des wirt­schaftlichen Gleichgewichts wie auch der Glaube an einen Ver­sorgungsstaat, der jedem seiner Bürger für alle Wechselfälle des Lebens Ansprüche auf letzten Endes unerfüllbare Leistungen gewähren soll54.

Der ganze Inhalt der oben angeführten Warnungen und Mah­nungen des Papstes läßt sich schließlich in die beiden folgenden Äußerungen zusammenfassen:

„Man sei dessen sicher, daß in den Beziehungen der Menschen, auch in den rein wirtschaftlichen, nichts von selbst wird, wie es in der Natur geschieht, die mit Notwendigkeit wirken­den Gesetzen unterworfen ist, sondern daß alles im wesent­lichen vom Geist abhängt. Nur der Geist, Ebenbild Gottes und Ausführer seiner Pläne, kann auf Erden Ordnung und Einklang schaffen, und er wird zum Ziel kommen in dem Maß, als er sich zum treuen Künder und gelehrigen Werkzeug des einen und ein­zigen Erlösers Jesus Christus macht, der selber der Friede ist.”55

Kein Materialismus ist je ein geeignetes Mittel zur Erreichung des Friedens gewesen, denn dieser ist vor- allem eine geistige Haltung und erst in zweiter Linie ein harmonisches Gleichge­wicht äußerer Kräfte. Es ist also ein prinzipieller Irrtum, den Frieden dem modernen Materialismus anzuvertrauen, der den Menschen an der Wurzel verdirbt und sein persönliches und gei­stiges Leben erstickt. Zu dem gleichen Mißtrauen führt übrigens auch die Erfahrung, die auch heute noch beweist, daß das kost­spielige Potential an technischen und wirtschaftlichen Kräften, wenn es mehr oder weniger gleichmäßig auf die beiden Parteien verteilt ist, gegenseitige Einschüchterung erzeugt. Daraus geht also nur ein Friede der Furcht hervor, nicht der Friede, der Si­cherheit für die Zukunft bietet. Man muß es unermüdlich wie­derholen und die im Volk, die sich nur zu leicht vom Trugbild eines Friedens betören lassen, der in einem Überfluß an mate­riellen Gütern besteht, davon überzeugen, daß der sichere und dauerhafte Friede vor allem ein Problem geistiger Einigkeit und sittlicher Haltung ist. Er verlangt, wenn keine neue Katastrophe die Menschheit treffen soll, daß man auf die trügerische Auto­nomie der materiellen Kräfte verzichtet, die sich in unserer Zeit kaum von den eigentlichen Kriegswaffen unterscheiden. Die ge­genwärtige Lage der Dinge wird sich nicht bessern, wenn nicht alle Völker die gemeinsamen geistigen und sittlichen Ziele der Menschheit anerkennen, wenn sie sich nicht helfen, sie zu verwirklichen, und wenn sie sich folglich nicht miteinander verständigen, um sich der auflösenden Diskrepanz entgegenzustellen, die zwischen ihnen hinsichtlich des Lebensstandards und der Produktivität der Arbeit besteht56.

___

IV

1 Rundfunkansprache vom 24. 12. 1953 (Weihnachtsbotschaft 1953); HK 8. Jhg., S. 168 f.; U.-G. Nr. 658, S. 304.

2 wie 1; HK 8. Jhg., S. 169; U.-G. Nr. 659, S. 305.

3 wie 1; HK 8. Jhg., S. 169; U.-G. Nr. 660, S. 305 f.

4 wie 1; HK 8. Jhg., S. 169; U.-G. Nr. 661, S.306.,

5 wie 1; HK 8. Jhg., S. 169 f.; U.-G. Nr. 663, S. 306 ff.

6 Rundfunkansprache vom 24. 12. 1941 (Weihnachtsbotschaft 1941); U.-G. Nr. 3784, S. 1950.

7 Ansprache vom 2. 3. 1956 an das Diplomatische Corps anläßlich seines 80. Geburtstages; HK 10. Jhg., S. 306.

8 Ansprache vom 7. 9. 1955 an den 10. Internationalen Historikerkongreß; HK 10. Jhg., S. 78.

9 Enzyklika „Summi pontificatus” vom 20. 10. 1939; U.-G. Nr. 59, S. 28.

10 Rundfunkansprache vom 23. 12. 1956 (Weihnachtsbotschaft 1956); HK 11. Jhg., S. 173.

11 wie 10; HK 11. Jhg., S. 172.

12 wie 10; HK 11. Jhg., S. 174.

13 wie 10; HK 11. Jhg., S. 174.

14 wie 10; HK 11. Jhg., S. 174.

15 wie 10; HK 11. Jhg., S. 177.

16 wie 10; HK 11. Jhg., S. 174 f.

17 wie 10; HK 11. Jhg., S. 173.

18 wie 10; HK 11. Jhg., S. 176.

19 wie 10; HK 11. Jhg., S. 175.

20 wie 10; HK 11. Jhg., S. 175.

21 wie 10; HK 11. Jhg., S. 175.

22 wie 10; HK 11. Jhg., S. 175.

23 wie 10; HK 11. Jhg., S. 175.

24 wie 10; HK 11. Jhg., S. 176.

25 wie 10; HK 11. Jhg., S. 176.

26 wie 10; HK 11. Jhg., S. 177.

27 wie 10; HK 11. Jhg., S. 176.

28 wie 10; HK 11. Jhg., S. 176 f.

29 wie 10; HK 11. Jhg., S. 177.

30 wie 10; HK 11. Jhg., S. 177.

31 wie 10; HK 11. Jhg., S. 176.

32 Rundfunkansprache vom 24. 12. 1952 (Weihnachtsbotschaft 1952); HK 7. Jhg., S. 168; U.-G. Nr. 3286, S. 1680.

33 wie 32; HK 7. Jhg., S. 169; U.-G. Nr. 3287, S. 1681.

34 wie 32; HK 7. Jhg., S. 172; U.-G. Nr. 3313, S. 1692.

35 wie 32; HK 7. Jhg., S. 169; U.-G. Nr. 3291, S…1683.

36 Weihnachtsbotschaft 1954 (wegen der Erkrankung des Papstes am 3. 1. 1955 im „Osservatore Romano” veröffentlicht); HK 9. Jhg., S. 214.

37 Botschaft an den 20. Verbandstag der Katholischen Arbeiterbewe­gung (KAB) Deutschlands; HK 10. Jhg., S. 443.

38 Ansprache vom 14. 5. 1953 an Mitglieder der Christlichen Arbeiter­vereine Italiens (ACLI) aus Anlaß der jährlichen Gedenkfeier von Rerum novarum; HK 7. Jhg., S. 407; U.-G. Nr. 3246, S. 1659.

39 wie 33; HK 7. Jhg., S. 170; U.-G. Nr. 3295, S. 1685.

40 wie 33; HK 7. Jhg., S. 168; U.-G. Nr. 3285, S. 1680.

41 wie 33; HK 7. Jhg., S. 169; U.-G. Nr. 3289, S. 1682.

42 Ansprache vom 18. 9. 1955 an die 5. Jahrestagung des „Congress of European-American Associations”; HK 10. Jhg., S. 105 f.

43 wie 1; HK 8. Jhg., S. 170; U.-G. Nr. 666, S. 309.

44 wie 38; HK 7. Jhg., S. 407 f.; U.-G. Nr. 3247, S. 1660.

45 wie 1; HK 8. Jhg., S. 170; U.-G. Nr. 666, S. 309.

46 wie 38; HK 7. Jhg., S. 407; U.-G. Nr. 3248, S. 1660f.

47 wie 1; HK 8. Jhg., S. 170; U.-G. Nr. 666, S. 309.

48 Ansprache vom 7. 6. 1957 an das Nationale Studientreffen der Christlichen Arbeitervereine Italiens (ACLI) über das Thema „Automation und Arbeitswelt”; HK 11. Jhg., S. 525.

49 wie 48; HK 11. Jhg., S. 523.

50 wie 48; HK 11. Jhg., S. 523.

51 wie 48; HK 11. Jhg., S. 524.

52 wie 48; HK 11. Jhg., S. 523.

53 wie 48; HK 11. Jhg., S. 524.

54 Ansprache vom 3. 6. 1950 an Teilnehmer des Internationalen Kon­gresses für Sozialwissenschaft; HK 4. Jhg., S. 452 f.; U.-G. Nr. 3269, S. 1671.

55 wie 37; HK 9. Jhg., S. 214.

56 wie 9; HK 8. Jhg., S. 171; U.-G. Nr. 673, S. 312.



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