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PAPST PIUS XII.: VON DER EINHEIT DER WELT – Das Programm des Papstes für eine internationale Friedensordnung

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VII

DIE TOLERANZ IN DER VÖLKERGEMEINSCHAFT

Wir haben schon in verschiedenen Abschnitten dieses Bändchens gesehen, das Pius XII., wo er darauf besteht, daß ein gemein­samer Besitz sittlicher Überzeugungen als Voraussetzung und Grundlage einer friedlichen Völkergemeinschaft unerläßlich ist, sich gleichzeitig doch bemüht, gewissermaßen ein Minimalpro­gramm solcher Übereinstimmungen unter “Menschen guten Wil­lens” aufzustellen. Damit entspricht er der Wirklichkeit unserer Welt: sie ist eine “pluralistische” Welt, d. h. sie besteht aus Völ­kern — und sogar innerhalb der Völker aus Gruppen —, die religiös und weltanschaulich nicht einig, sondern gespalten sind und für die man also gleichsam einen gemeinsamen Nenner ihrer Übereinstimmungen finden muß.

Da die Religions- und Gewissensfreiheit ein natürliches Grundrecht der Menschen ist, darf man sie — auch wenn man der Überzeugung ist, daß ihr Glauben und ihre Weltanschauung der Wahrheit nicht entspricht — doch nicht mit Gewalt zum wahren Glauben bekehren, sondern nur mit geistigen religiösen Mitteln, indem man sie durch die Verkündigung der Wahrheit überzeugt und ihnen durch das vorgelebte Leben nach der Wahr­heit den Erweis ihrer Kraft vorstellt. Auch der Staat darf in diesen Dingen seine Gewalt nicht anwenden; er hat aber auch gar keinen religiösen Auftrag der Verkündigung und Bekehrung — was für den modernen, säkularisierten Staat ohnehin selbst­verständlich ist. Das heißt nicht, daß der Staat der Religion sei­ner Bürger, die die Quelle und Stärke ihrer sittlichen Gesinnun­gen ist, ohne die er keinen Bestand haben kann, gleichgültig ge­genüberstehen darf — das läge weder in seinem Interesse noch auch entspräche das der Würde und dem Rang der Religion als höchster und stärkster, den Menschen unmittelbar mit Gott, der Quelle alles Lebens und dem Geber aller guten Gaben, verbin­denden Lebensmacht. Deshalb billigt die katholische Lehre keine völlige Trennung von Kirche und Staat; sie fordert, daß ein positives, möglichst rechtlich gesichertes Verhältnis zwischen bei­den besteht, in dem die Freiheit der Kirche gesichert ist (vgl. S. 62) und alle den Staat und sie gemeinsam berührenden Fra­gen geregelt sind.

Viele Staaten berücksichtigen das, indem sie Abmachungen (Konkordate) mit der Kirche und auch anderen Religionsge­meinschaften schließen; fast alle gewähren aber auf jeden Fall allen ihren Bürgern die Religions- und Gewissensfreiheit. In sei­ner Verfassung verpflichtet sich also der Staat, im Bereiche des Weltanschaulichen und Religiösen die Wahrheitsfrage nicht zu stellen, sondern alle Überzeugungen gewähren zu lassen, so­lange sie sich nicht offenbar unsittlich auswirken und den all­gemein anerkannten Gütern des Gemeinwohls widersprechen. Das heißt mit anderen Worten, er verpflichtet sich zur Toleranz. Er verpflichtet aber auch die Bürger und ihre Gruppen und Ge­meinschaften zur Toleranz: diese sollen davon absehen, sich staatlicher Mittel zu bedienen, um Überzeugungen, die von den anderen nicht geteilt werden, zur rechtlichen Norm des Gemein­schaftslebens zu machen, und sollen den Staat nicht auffordern, den andersdenkenden Mitbürgern Dinge aufzuerlegen, die ih­rem Gewissen, selbst wenn es objektiv irrig gebildet wäre, nicht zuzumuten sind — oder ihnen Dinge zu verweigern, die sie nach ihrem Gewissen fordern müssen.

Dies ist der Begriff der Toleranz, der in den folgenden Äuße­rungen Pius’ XII. verwendet wird. Vorausgesetzt dabei ist aber natürlich, daß diesem faktischen Verhalten auch eine Gesinnung der Toleranz entspricht, ohne die das Verhalten zu vielen Ver­führungen ausgesetzt wäre. Diese Gesinnung besteht darin, daß man die Ehre des Gewissens des anderen anerkennt und respek­tiert, denn da der Mensch seinem Wesen nach auf das Gute und die Wahrheit angelegt ist, muß man bis zum Erweis des Gegen­teils annehmen, daß er auch redlich danach strebt. Das zu ver­weigern würde seine Menschenwürde herabsetzen und deshalb seine Ehre kränken. Die Toleranz ist also der Wahrheit gegen­über nicht gleichgültig, sie ist kein „Indifferentismus”; im Ge­genteil, sie setzt voraus, daß es die Wahrheit gibt und jeder Mensch seiner Natur gemäß sie sucht. Deshalb schließt Toleranz nicht aus, daß man dem Mitmenschen in Verkündigung und Le­ben die Wahrheit in Liebe und Achtung vorhält und ihnen ge­genüber den Anspruch der Wahrheit vertritt.

Die Anwendung der Toleranz hat freilich ihre Schwierigkei­ten. Die Religion als höchste Lebensmacht hat einen stark for­menden Einfluß auf die ganze Kultur eines Volkes (vgl. S.142 ff.). Einheit in der Religion trägt auf die stärkste Weise zur kulturel­len und auch zur politischen Einheit eines Staates bei — dieser hat also ein Interesse daran, einer Auflösung und Spaltung des gemeinsamen Glaubens als Fundament seiner Einheit entgegen­zuwirken. Erst bei fortschreitender Säkularisierung der Staaten und nachlassendem Gefühl für die Verbundenheit der Kultur und der Religion läßt dieses Interesse nach. Am stärksten dürfte es heute noch in rein oder vorwiegend katholischen Ländern sein — aber auch in der islamischen Welt spielt es eine ausschlag­gebende Rolle.

Außerdem aber widerspricht die katholische Kirche — bei aller Betonung, daß die natürliche Selbstentfaltung der Völker in eine Vielfalt eigenständiger Kulturen gottgewollt sei — nach­drücklich durch ihre Lehre und ihre Existenz dem Satze, auch die Vielfalt der Glaubensbekenntnisse sei ein “Reichtum”, weil sie die geistige Monotonie durch eine lebendige geistige Rivalität ersetze. Diese Behauptung beruht entweder auf der Überzeugung, alle menschlichen religiösen Gemeinschaften repräsentier­ten nur Teilwahrheiten, die mehr oder minder gleichwertig und gleichberechtigt seien oder aber die Einheit in Christus sei eine eschatologische — sie verwirkliche sich nicht in der Geschichte, sondern erst jenseits der Geschichte in dem neuen Himmel und der neuen Erde. Die Kirche versteht sich vielmehr als göttliche Stiftung, als der eine, unteilbare Leib Christi, in der durch das Wirken des Heiligen Geistes die Einheit der Erlösung, das Heil für alle Menschen der verschiedenen Zungen, Rassen, Völker und Kulturen schon wirksame Wirklichkeit ist.

Deshalb richtet sich gegen die Katholiken ein heftiger Vorwurf: daß sie nämlich prinzipiell zur Toleranz unfähig seien. Sie verlangten sie zwar dort von den anderen, wo sie einen Vorteil davon hätten, räumten sie aber den anderen überall dort nicht ein, wo sie nicht dazu gezwungen würden. Denn es sei für die Katholiken unmöglich, dem Irrtum das gleiche Recht wie der Wahrheit zuzugestehen, und das, was Irrtum und was Wahrheit ist, sei für sie völlig eindeutig. Sie könnten also einer anderen Überzeugung als der katholischen gar kein “Recht” einräumen. Wo sie dazu in der Lage seien, müßten sie die katholische Reli­gion zur “Staatsreligion” erklären und alle anderen Bekennt­nisse unterdrücken.

Es kommt hinzu, daß auch unter katholischen Theologen und Gelehrten Meinungsverschiedenheiten zwar nicht über die Prin­zipien, aber über deren Konsequenzen und Anwendungen be­stehen, die zum Teil dadurch hervorgerufen sind, daß ihre Sicht der Dinge durch die historischen Verhältnisse, in denen sie leben und die sie vor Augen haben, bestimmt wird — was zwar durchaus nichts Ungewöhnliches und Aufsehenerregendes in der Theologie ist, aber doch gerade in diesem Falle geeignet ist, Un­ruhe zu erregen und aufgebauscht zu werden.

Deshalb sah sich Papst Pius XII. veranlaßt, zu der Frage der Toleranz Stellung zu nehmen. Dabei verkündete er natürlich keine neue Lehre, sondern nur die, die schon immer gegolten hatte. Aber das Neue an seiner Klarstellung war, daß er sie ausdrücklich in den Rahmen der Probleme einer zukünftigen organisierten Völkergemeinschaft stellte — nicht nur eines ein­zelnen, isolierten Volkes. Eine solche Isolierung besteht auch heute praktisch schon nicht mehr, so daß die Aussagen des Pap­stes auch heute schon zu berücksichtigen sind. Die Darlegung fand vor einer Versammlung italienischer katholischer Juristen statt. Sie gibt zunächst einmal eine Beschreibung des Tatbestan­des, der sich voraussichtlich in einer Staatengemeinschaft ergeben würde (wobei man das Wort “auf Grund der Wahrscheinlichkeit und der Verhältnisse” wohl so interpretieren darf, daß sie besa­gen: auf Grund der Vernunft ebenso wie auf Grund der jetzt schon vorherrschenden Prinzipien und Machtverhältnisse). Da­bei ist wichtig, daß der Papst die allgemeine Gültigkeit des Rechtes auf Religions- und Gewissensfreiheit voraussetzend, doch noch Differenzierungen in seiner positiv rechtlichen Rege­lung in den einzelnen Gliedstaaten für unvermeidlich hält, wo­raus sich im Falle des Bürgers eines Staates, der sich in einem anderen aufhält oder niederläßt, schwierige Rechtsfragen erge­ben können, “die nicht mit einem einfachen Ja oder Nein be­antwortet werden können” — wie es an anderer Stelle dersel­ben Äußerung heißt. Er zählt darunter u. a. Fragen des Ehe-und Familienrechtes auf. Als Grundtendenz für ihre Lösung gibt er jedoch eindeutig an: “In den Grenzen des Erlaubten und Möglichen alles fördern, was die Einheit erleichtert und wirk­samer macht; einzudämmen, was sie stört; manchmal zu ertra­gen, was sich nicht aus dem Wege räumen läßt und um dessent­willen doch die Gemeinschaft der Völker nicht scheitern darf (den Text siehe S. 18).”

Auf Grund der Konfession der großen Mehrheit der Bürger oder auf Grund einer ausdrücklichen Erklärung des Staates wer­den die Mitgliedvölker und alle Staaten der [Völker]gemeinschaft in christliche, nichtchristliche, religiös indifferente oder be­wußt laizistische oder auch ausdrücklich atheistische unterschie­den werden können. Die religiösen und moralischen Interessen fordern für die ganze Ausdehnung der Gemeinschaft eine genau festgelegte Regelung, die für das gesamte Gebiet der einzelnen souveränen Staaten, die Mitglieder der Staatengemeinschaft sind, gilt. Auf Grund der Wahrscheinlichkeit und der Verhältnisse kann man voraussehen, daß diese Regelung positiven Rechts ungefähr folgendermaßen aussehen wird: Innerhalb seines Staa­tengebietes und für seine Bürger regelt jeder Staat die religiösen und moralischen Angelegenheiten durch ein eigenes Gesetz; nichts­destoweniger wird es im gesamten Gebiet der Staatengemein­schaft allen Bürgern jedes Mitgliedstaates erlaubt sein, seine Glaubensüberzeugungen und seine ethische und religiöse Praxis auszuüben, soweit diese nicht mit den Strafgesetzen des Staates, in dem er sich aufhält, in Widerspruch stehen1.

Für den katholischen Juristen, Politiker und Staatsmann er­gibt sich bei einem solchen Tatbestand also die Frage:

Können sie einer solchen Regelung ihre Zustimmung geben, wenn es sich darum handelt, der Völkergemeinschaft beizutreten und in ihr zu verbleiben2?

In dieser Frage stecken aber in Wirklichkeit zwei Fragen, die man unterscheiden muß, wenn man weder einem Relativismus, Indifferentismus oder Agnostizismus noch einer zu starren Hal­tung zum Opfer fallen will.

Hinsichtlich der religiösen und sittlichen Interessen stellt sich dabei einmal die Frage nach der objektiven Wahrheit und der Gewissensverpflichtung gegenüber dem, was objektiv wahr und gut ist; …sie kann kaum ein Gegenstand der Diskussion und der Regelung zwischen einzelnen Staaten und ihrer Gemeinschaft bilden, ganz besonders nicht im Falle einer Mehrzahl religiöser Bekenntnisse innerhalb der gleichen Gemeinschaft3.

Der Staat oder die Staatengemeinschaft sind zu einer Ent­scheidung über die Wahrheitsfrage deswegen nicht berufen, weil sie selber an Gott und sein absolut verpflichtendes Sittengesetz gebunden sind; es steht ihnen also nicht zu, es zu diskutieren oder zu manipulieren, denn es ist ihrer Verfügnis entzogen. Der letzte Satz dieses Passus wendet sich offenbar gegen eine Art “Situationsethik” der Staatsraison oder Politik, die lehrt, es könne manchmal geboten sein, etwas Wahrheit- oder Sitten­widriges zu tun oder anzuordnen, und ein solches Handeln oder Gehorchen sei dann sittlich. Selbst eine Berufung auf eine un­mittelbare göttliche Inspiration oder Beauftragung würde dabei nicht durchschlagen — denn es widerspricht Gottes Wesen, eine solche Inspiration oder einen solchen Auftrag zu geben.

Keine menschliche Autorität, kein Staat, keine Staatengemein­schaft, welchen religiösen Charakter sie auch immer haben mö­gen, können einen positiven Befehl oder eine positive Ermächti­gung erteilen, etwas zu lehren oder zu tun, was gegen die reli­giöse Wahrheit oder gegen das sittlich Gute wäre. Ein Befehl oder eine Ermächtigung dieser Art hätte keine verpflichtende Kraft und bliebe unwirksam. Keine Autorität kann sie geben, denn es ist gegen die Natur, den Geist und den Willen des Men­schen zum Bösen und zum Irrtum zu verpflichten oder beides für gleichgültig zu halten. Nicht einmal Gott könnte einen sol­chen positiven Befehl oder eine solche positive Ermächtigung geben, da sie im Widerspruch zu seiner absoluten Wahrhaftigkeit und Heiligkeit ständen4.

Davon wesentlich verschieden ist die Frage einer “Zulassung” des Irrtums in der geschichtlichen Wirklichkeit und Praxis.

Eine andere, wesentlich verschiedene Frage ist, ob in einer Staatengemeinschaft, zum mindesten unter bestimmten Verhält­nissen, die Norm aufgestellt werden könnte, daß die freie Aus­übung eines Glaubens oder einer religiösen oder sittlichen Pra­xis, die in einem der Mitgliedstaaten gültig sind, innerhalb des Gebiets der Gemeinschaft nicht durch Gesetze oder staatliche Zwangsmaßnahmen verhindert werden darf. Mit anderen Wor­ten, es fragt sich, ob das “Nichtverhindern” oder die Toleranz unter solchen Verhältnissen erlaubt und also positive Unterdrückung nicht immer eine Pflicht wäre5.

Diese “Zulassung” des Unvollkommenen der Verirrungen, ja selbst des Unrechten und Unwahren in Welt und Geschichte kann sich auf das Zulassen berufen, das Gott selbst übt. Dazu fügt Pius XII. noch die ausdrückliche Mahnung der Offenbarung im Gleichnis vom Unkraut im Weizen.

Man hat diese Argumentation folgendermaßen erläutert: Gott hat den Menschen als höchste Auszeichnung die Freiheit ihrer Zuwendung zu ihm verliehen. Dabei hat er vorausgesehen, daß diese Freiheit mißbraucht würde; aber er hat dieses Risiko der Freiheit gleichsam zugelassen — also kann die menschliche Auto­rität nicht anders handeln und das Risiko auf Kosten der Frei­heit ausschalten wollen.

Tiefer führt eine andere Erläuterung, die sich auf das Gleich­nis vom Weizen stützt: Der Herr verbietet den Knechten, das Unkraut auszureißen und so vielleicht das Wachstum des Wei­zens zu stören — er als Herr und Richter behält sich die Schei­dung bis zur Ernte, d. h. bis zum Endgericht am Ende der Ge­schichte vor. Nun sind zwar die Christen als Gemeinschaft der Heiligen, d. h. als Kirche, auch Richter über die Welt (1. Kor. 6, 2 ff.). Aber sie greift Gott nicht vor und bedient sich vor al­lem nicht der Knechte — d. h. der weltlichen Mächte, die nur im Bereiche der natürlichen Ordnung zuständig sind — eine Säube­rung vorzunehmen, für die sie keine Unterscheidungsfähigkeit besitzen. Sie stören und schädigen damit nur das Wachsen des Weizens, d. h. des Reiches Gottes.

Die Unterdrückung von Verirrungen steht also unter höheren Normen, von denen eine das Gemeinwohl der Völkergemein­schaft ist. Wir sehen aber auch wieder — wenn auch durch Gleichnis vom Unkraut im Weizen nur angedeutet — daß dieses Ziel von Pius XII. in Verbindung mit heilsgeschichtlichen Per­spektiven gesehen wird.

Wir haben eben die Autorität Gottes erwähnt. Kann Gott, obwohl es ihm möglich und leicht wäre, den Irrtum und die Entgleisung zu unterdrücken, in einigen Fällen das “Nichtver­hindern” wählen, ohne in Widerspruch mit seiner Vollkommen­heit zu geraten? Kann es geschehen, daß er unter bestimmten Verhältnissen den Menschen keinen Befehl gibt und keine Ver­pflichtung auferlegt, ja ihnen nicht einmal das Recht gibt, den Irrtum und das Falsche zu unterdrücken? Ein Blick auf die Wirk­lichkeit gibt eine bejahende Antwort. Er zeigt, daß sich Irrtum und Sünde in weitem Ausmaß auf der Erde finden. Gott verurteilt sie; doch er läßt sie bestehen. Daher kann die Behauptung, die religiöse und sittliche Entgleisung müsse immer, wenn es möglich ist, verhindert werden, da es an sich unmoralisch ist, sie zu dulden, nicht in absoluter Unbedingtheit gelten. Ander­seits hat Gott auch nicht einmal der menschlichen Autorität einen solchen absoluten und universalen Befehl gegeben, weder im Bereich des Glaubens noch in dem der Moral. Einen solchen Befehl kennt weder die allgemeine Überzeugung der Menschen noch das christliche Gewissen noch die Quelle der Offenbarung noch die Praxis der Kirche. Um andere Texte der Heiligen Schrift, die sich auf dieses Argument beziehen, beiseite zu lassen, so hat Christus im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut fol­gende Mahnung gegeben: Laßt das Unkraut auf dem Felde der Welt zugleich mit dem guten Samen wachsen wegen des Getrei­des (vgl. Matth. 13, 24-30). Die Pflicht, sittliche und religiöse Verirrungen zu unterdrücken, kann also keine letzte Norm des Handelns sein. Sie muß höheren und allgemeineren Normen untergeordnet werden, die unter gewissen Verhältnissen erlau­ben, ja es vielleicht als den besseren Teil erscheinen lassen, den Irrtum nicht zu verhindern, um ein höheres Gut zu verwirklichen 6.

So ergeben sich also zur Frage der Toleranz zwei Normen des Handelns:

1. Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion.
2. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen ein­zugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und um­fassenderen Gutes gerechtfertigt sein7.

„Die Schwierigkeit”, so sagt der Papst in ähnlichem Zusam­menhang, “besteht in der Anwendung dieser Prinzipien”. Über sie jeweils zu befinden ist die Sache dessen, der im konkreten Fall handeln und ihn beurteilen muß. Ihm ist also die Entschei­dung über die wirklichkeits- und sachgemäße Anwendung der Norm ins Gewissen geschoben. Die Tugend, die ihn zu einem solchen wirklichkeits- und gleichzeitig normgerechten Urteil be­fähigt, ist die Klugheit. Die Anwendungsweise der Toleranz zu bestimmen, ist also Sache der Klugheit.

Das wird von manchen oft mißverstanden, die die katholische Moraltheologie nicht kennen, die von der Klugheit als einer der vier natürlichen “Kardinal”tugenden einen wohldefinierten Be­griff hat. Sie verwechseln die Klugheit mit Schlauheit und sagen, eben darauf beruhe die angebliche Taktik der Katholiken, die Toleranz dort zu verlangen, wo es ihnen von Nutzen ist, und sie dort zu verweigern, wo sie keinen Vorteil aus ihr ziehen könn­ten. Aber der Papst sagt ausdrücklich, daß das höhere Gut, das die Toleranzübung fordert, nicht ein zeitlicher und meist nur kurzfristiger Vorteil für die Katholiken ist, sondern das Ge­meinwohl der Völkergemeinschaft, und daß es die Wirklichkeit der sich einenden Welt ist, dergemäß die Prinzipien der Toleranz angewandt werden müssen. Das Gewissen, das über solche Anwendung befindet, muß nun nach katholischer Lehre ein “informiertes”, ein wohlgebildetes Gewissen sein. Dazu gehört nicht nur die Kenntnis der Normen, eine, umsichtige und erfahrene Beurteilung der Situation und ihrer Forderungen und eine wohlentwickelte Unterscheidungs­gabe, sondern auch eine respektvolle und angemessene Berück­sichtigung des Urteils der Autorität — in allen Fällen, wo es sich um sittliche und religiöse Werte handelt, also der Kirche. Und da ist es hochbedeutsam, daß der Papst fordert, daß in Sachen der Toleranz angesichts der Rolle, die sie für die Einung der Welt spielt, seine Autorität maßgebend ist. Das bedeutet, daß die Frage aus seiner weltweiten Sicht und nicht mehr nur unter den Gesichtspunkten eines einzelnen Landes — sei es Spaniens oder der Vereinigten Staaten von Amerika — gesehen werden muß.

Ob dann diese Bedingung im konkreten Fall zutrifft — es ist die “quaestio facti”  — muß vor allem der katholische Staatsmann selber entscheiden. Er wird sich bei seiner Entscheidung von dem Vergleich der schädlichen Folgen, die die Toleranz hat, mit den schädlichen Folgen, die durch Annahme der Toleranz­formel der Staatsgemeinschaft erspart bleiben, leiten lassen, d. h. also von dem Gut, das sich bei einer weisen Voraussicht für die Gemeinschaft als solche und indirekt auch für den Mitgliedstaat davon erwarten läßt. Was den religiösen und sittlichen Bereich angeht, so wird er auch das Urteil der Kirche einholen. Auf de­ren Seite ist in solchen entscheidenden Fragen, die das inter­nationale Leben berühren, in letzter Instanz nur der zuständig, dem Christus die Leitung der ganzen Kirche anvertraut hat, der römische Papst8



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