Joachim Kardinal Meisner am 30. März 2005
1. Das 2. Vatikanische Konzil und die Liturgiereform
Am 8. Dezember diesen Jahres ist es 40 Jahre her, dass das 2. Vatikanische Konzil beschlossen wurde. Zwei Jahre zuvor, am 4. Dezember 1963 hatte das Konzil die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium verabschiedet und damit eine allgemeine Erneuerung der Liturgie unserer Kirche angestoßen (vgl. Sacrosanctum Concilium 21). Die damit verbundene Liturgiereform war ohne Zweifel „die sichtbarste Frucht des ganzen Konzilswerkes“, wie es schon 1985 die Außerordentliche Vollversammlung der Bischofssynode formulierte (Schlussbericht II, B, b, 1). An den Veränderungen in der Liturgie haben Priester und Laien zuerst merken können, dass das Konzil wichtige Impulse gegeben hat, die bis in die letzte Pfarrgemeinde hinein Konsequenzen haben sollten.
Vor allem die Reform der Messliturgie und damit das erneuerte Messbuch waren und sind für das alltägliche gottesdienstliche Leben der Gemeinden und der einzelnen Christen von besonderer Bedeutung. Denn Sonntag für Sonntag, ja Tag für Tag wird die Eucharistie in unseren Kirchen gefeiert. Sie wird zu Recht als „Quelle und … Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (Lumen Gentium 11) und als „Mitte und Höhepunkt des ganzen Lebens der christlichen Gemeinde“ (Christus Dominus 30) bezeichnet. Dies ist nicht nur eine Behauptung, sondern deckt sich mit den Erfahrungen des Alltags. Nicht selten wird die regelmäßige Feier der hl. Messe die wichtigste Quelle der Spiritualität vieler Gläubigen sein.
Die nachkonziliare Erneuerung ist ohne den Aufbruch der Liturgischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht denkbar. Das Konzil hat mit einem Wort Papst Pius’ XII. „den Eifer für die Förderung und Erneuerung der Liturgie … als ein Hindurchgehen des Heiligen Geistes durch seine Kirche“ (Sacrosanctum Concilium 43) bezeichnet. In dieser großen Tradition stehen die nachkonziliare Liturgiereform und die mit ihr verbundenen liturgischen Bemühungen in unseren Gemeinden. Wir dürfen sie wohl auch – unbeschadet aller Kritik im Einzelnen – als ein Geschenk des Heiligen Geistes an die Kirche ansehen.
Natürlich gilt fast immer: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. Deshalb kann es nicht verwundern, dass ein so gewaltiges Reformwerk nicht nur positive Früchte gebracht hat, sondern auch Rückschläge erleiden musste und unerwünschte Nebenwirkungen hatte. Um entsprechende Fehlentwicklungen und Missbräuche zu korrigieren, hat es im Laufe der Zeit mehrfach lehramtliche und disziplinäre Dokumente gegeben. Doch wollten diese den Blick nicht dafür verstellen, dass das grundsätzliche Anliegen des Konzils und die grundlegenden Reformentscheidungen für die Kirche notwendig und segensreich waren, niemals von der Kirche zurückgenommen wurden und auch für die Zukunft maßgeblich bleiben. Ich bin der festen Überzeugung, dass ohne das Konzil und ohne die Liturgiereform heute andere und vermutlich weit größere Verluste zu beklagen wären. Deshalb kann es kein Zurück hinter die Reformbemühungen der vergangenen Jahrzehnte geben. Wohl aber ist auch unserer Generation die Aufgabe übertragen, die liturgische Erneuerung weiter zu tragen und zu fördern, dabei aber nach dem zu fragen, was heute notwendig ist und in der jetzigen Stunde dem Glaubensleben der Menschen und der Kirche dient.
2. Das Missale Romanum und das Deutsche Messbuch
Die notwendigen Bemühungen um die liturgische Erneuerung schließen die Sorge um gute liturgische Bücher ein. Für den Römischen Ritus ist diese Sorge seit den Tagen des Konzils von Trient vor allem und zuerst Aufgabe des Papstes. Wie der hl. Papst Pius V. nach dem Konzil von Trient 1570 das erneuerte und überarbeitete Missale Romanum herausgegeben hat, so hat Papst Paul VI. nach dem 2. Vatikanischen Konzil eine Überarbeitung des Messbuches angeordnet, seine konkrete Gestalt bis in einzelne Bestimmungen hinein begleitet und schließlich 1970 das erneuerte Missale Romanum veröffentlicht.
Schon 1969 hat Papst Paul VI. in der Apostolischen Konstitution Missale Romanum deutlich gemacht, dass es sich hier nicht um ein ganz neues Messbuch handelt, sondern um eine nach den Anordnungen und Prinzipien des Konzils gestaltete Weiterentwicklung des Messbuches Pius` V., das auch nach 1570 zahlreiche Ergänzungen erhalten hatte und zuletzt 1962 unter dem seligen Papst Johannes XIII. herausgegeben worden war. Viele Texte des Missale von 1570 bzw. 1962 finden sich im Missale von 1970 wieder, manche Texte wurden aus den alten römischen Sakramentaren ergänzt, einzelne Texte stammen aus anderen Traditionen oder wurden im Rahmen der nachkonziliaren Reformarbeit neu zusammengestellt. So entstand ein Messbuch, das ganz der Tradition verpflichtet und gleichzeitig „ein großer Fortschritt in der liturgischen Überlieferung“ (AEM 10; IGMR 2002, 10) war.
Nach der Veröffentlichung des Missale Romanum 1970 gab es weiterhin Ergänzungen. Vor allem anlässlich der Einfügung von neuen Heiligen in den Römischen Kalender mussten für diese Gedenktage liturgische Texte zur Verfügung gestellt werden. 1975 erschien eine zweite Auflage des nachkonziliar erneuerten Messbuches. Aber auch danach approbierte die Gottesdienstkongregation liturgische Texte für die Messfeier, die allerdings vorerst nicht in eine gedruckte Ausgabe des Missale aufgenommen werden konnten.
Papst Johannes Paul II. hat schließlich eine überarbeitete Neuauflage veranlasst, die als Editio typica tertia, d. h. als dritte authentische Auflage des Missale Romanum im Jahre 2002 veröffentlicht wurde. Die Veränderungen gegenüber der ersten (1970) bzw. zweiten Auflage (1975) sind nicht grundsätzlicher Art, sondern betreffen Einzelheiten. Zum Teil handelt es sich um reine Ergänzungen. Im Einzelnen möchte ich hinweisen auf verschiedene Konkretionen innerhalb der Institutio Generalis, der Allgemeinen Einführung in das Römische Messbuch; zahlreiche Texte, die für bestimmte Heiligenfeiern im Laufe der Zeit approbiert wurden, fanden jetzt ihren definitiven Platz im Missale; die Werktage der Fastenzeit haben jeweils ein eigenes Segensgebet über das Volk erhalten und schließlich sind jene Hochgebetstexte, die 1975 nur ad experimentum oder nur für einzelne Länder zugelassen waren, jetzt auch integraler Bestandteil des Messbuches in lateinischer Sprache geworden.
Bedenkt man, dass die meisten dieser Texte mittlerweile auch in einer durch die deutschsprachigen Bischöfe approbierten und von Rom konfirmierten Fassung vorliegen, stellt sich natürlich die Frage, ob aufgrund dieser quantitativ und qualitativ geringen Ergänzungen bzw. Korrekturen tatsächlich eine Neuübersetzung des Messbuches notwendig ist. Auch hier ist ein kleiner Rückblick sinnvoll.
Die Sorge um gute liturgische Bücher ist seit dem 2. Vatikanischen Konzil immer auch eine Sorge um die angemessene Übersetzung der lateinischen Vorlage und damit die Sorge um gute volkssprachige liturgische Bücher. Denn das 2. Vatikanum hatte – unbeschadet seiner Wertschätzung der lateinischen Liturgiesprache im römischen Ritus – den Volkssprachen einen breiteren Raum in der Liturgie eröffnen wollen und die Verantwortung für die volkssprachigen Ausgaben der liturgischen Bücher in die Hand der Bischofskonferenzen gelegt (vgl. Sacrosanctum Concilium 36).
Schon in der Konzilszeit wurden im Auftrag der deutschsprachigen Bischöfe deutschlateinische Ausgaben des Messbuches von 1962 vorbereitet, wobei man damals auf den Schott und andere im deutschen Sprachgebiet verbreitete Volksmessbücher bzw. Texte für die Messliturgie zurückgegriffen hat. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Missale Romanum von 1970 begann die Übersetzung des neuen Messbuches, wobei „Ausgewählte Studientexte“ bereits im Gottesdienst erprobt werden konnten. Tatsächlich haben die Rückmeldungen aufgrund der acht veröffentlichten Probepublikationen zu einer Neubearbeitung einzelner Texte geführt und insofern die definitive Ausgabe des Deutschen Messbuches von 1975 wesentlich gefördert.
Bei ihrer Übersetzungsarbeit sind die Bischöfe und ihre Berater nicht einfach persönlichen Vorlieben gefolgt. Sie konnten sich orientieren an der Übersetzerinstruktion, die 1969 der Rat zur Ausführung der Liturgiekonstitution vorgelegt hatte. Man muss nicht mit jeder einzelnen Oration und mit der Übersetzung aller Texte und Passagen einverstanden und zufrieden sein, um sagen zu können: Was in den Jahren zwischen 1970 und 1975 geleistet worden ist, ist in Quantität und Qualität eine beeindruckende Leistung, die auch bei der nun anstehenden Revision eine wertvolle Hilfe sein wird. Hier sind Maßstäbe gesetzt, die für uns Ansporn und Anspruch zugleich sind. Denen, die damals in relativ kurzer Zeit unter hohem persönlichen Aufwand das Deutsche Messbuch erarbeitet haben, sind wir bleibend zu Dank verpflichtet.
Nachdem aber mittlerweile mehr als 40 Jahre lang breite Erfahrungen mit der deutschen Liturgiesprache gemacht werden konnten, ist die Frage nach einer Überprüfung der geltenden liturgischen Bücher eine Notwendigkeit. Denn jede Übersetzungsarbeit wird beeinflusst von den theologischen Vorstellungen der jeweiligen Zeit. So wird sich beispielsweise bei einer Überarbeitung zeigen, ob das Gottesbild der 1970er Jahre Spuren hinterlassen hat, die nicht von der lateinischen Vorlage gefordert waren, sondern nur dem theologischen Zeitgeist entsprachen. Darüber hinaus verlangt eine lebendige Sprache im Laufe der Jahre Korrekturen, weil der Sprachgebrauch sich verändert und das, was einmal modern klang, längst sein Haltbarkeitsdatum überschritten hat und für viele Mitfeiernden nur noch altertümlich klingt. So müssen wir damit rechnen, dass manche Formulierungen, die einmal aktuell und lebensnah klangen, mittlerweile eine Patina angesetzt haben und deshalb für die Liturgie weniger geeignet erscheinen. Gleichzeitig müssen wir auch prüfen, ob Übersetzungen, die richtig verstanden werden können, faktisch zu Missverständnissen führen und deshalb verbessert werden sollten. Als die Internationale Arbeitsgemeinschaft der Liturgischen Kommissionen des deutschen Sprachgebietes (die alte IAG) 1988 eine Studienkommission für die Messliturgie und das Messbuch einsetzte, war diese Einschätzung eine wichtige Motivation: Lebende Sprachen brauchen eine permanente Sprachpflege.
Eine zweite Perspektive aber muss ebenso bedacht werden. Mit der Einführung der Volkssprachen in die Liturgie waren in vielen Ländern Bemühungen zur Inkulturation der Kirche und ihrer Liturgie verbunden. In gewisser Weise zeigt sich dies auch in den Prinzipien der Übersetzerinstruktion von 1969. Die darin eröffnete Freiheit konnte zu teilweise sehr unterschiedlichen Lösungen in den verschiedenen Sprachen führen. Je länger je mehr stellte sich jedoch die Frage, wie die Einheit des Römischen Ritus auch in der Verschiedenheit der liturgischen Sprachen erkennbar bleiben kann. Damit „die Übersetzungen der heiligen Liturgie in die Volkssprachen als authentische Stimme der Kirche Gottes verlässlich sind“ (Liturgiam Authenticam 7), hat die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung am 28. Mai 2002 die Fünfte Instruktion‚“zur ordnungsgemäßen Ausführung der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie“ herausgegeben. Unter dem Namen Liturgiam Authenticam möchte sie wesentliche Orientierung für den „Gebrauch der Volkssprache bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie“ geben. Auch hier steht also eine intensive Suche nach der angemessenen Fassung volkssprachiger liturgischer Texte deutlich vor Augen. So sind sich offensichtlich unabhängig von den konkreten rechtlichen oder auch faktischen Vorgaben alle Verantwortlichen im deutschen Sprachraum einig, dass die gegenwärtigen Übersetzungen verbessert werden können und verbessert werden sollen.
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Quelle: Revision des Deutschen Messbuchs – Auftaktveranstaltung der Kommission Ecclesia celebrans gemeinsam mit Beratern und Übersetzern am 30./31.03.2005 in Bensberg
