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Aus: Alfons Sarrach: SIEG DER SÜHNE – Wigratzbad: Marias Botschaft an den Menschen

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Kapitel VII

Gejagd und versteckt

Erstes Messopfer

Am 1. September 1939 brach der verhängnisvolle Zweite Weltkrieg aus. Ein Volk, katholisch geprägt wie kein anderes in Europa, wurde überfallen. Es sollte knapp 40 Jahre später nach mehreren Jahrhunderten den ersten Papst stellen, der kein Italiener war. Bis dahin werden jedoch noch viele Leiden den ganzen Kontinent überfluten.

Einen Monat später, im Oktober, erteilten die Behörden die schriftliche Erlaubnis zur Öffnung der Kapelle und zu ih­rem Ausbau. In Wigratzbad ließ man keine Zeit verstreichen. Es wurde mit Hochdruck an der Vollendung gearbeitet. An­fang Dezember konnte ein Türmchen aufgerichtet werden. Die Glocke erhielt den Namen Bernadette. Sie wurde von G.R. Frommknecht geweiht und aufgezogen. Eingraviert wurde der Spruch: „Maria siegt, siegt immer!“ Die Turmspitze sollte eine Statue der Gottesmutter aus Bronze krönen. Antonie hol­te sie aus Kisslegg. Sie zierte einst die Brunnensäule vor der dortigen Pfarrkirche. In einer Nacht war sie von Gegnern he­runtergerissen und in Stücke geschlagen worden. Antonie er­bat sich vom Pfarrer die Trümmer, ließ die Teile zusammen­schweißen und auf die Spitze des Turms stellen. Worauf man allerdings noch warten musste, das war die Weihe und die Erlaubnis, in der Kapelle die hl. Messe zu feiern.

Diese Möglichkeit eröffnete sich einige Monate später. Und es sollte ein Geistlicher aus Sibratshofen sein, Pfarrer Ernst Ritter, ein Priester mit Leib und Seele, der zu den Verfolgten des Regimes gehörte. Zweimal schon war er von der Gehei­men Staatspolizei eingekerkert worden. Nach einjähriger Haft wurde er jetzt von einem Sondergericht zum Konzentrations­lager Dachau verurteilt. Es gelang ihm, seinen Schwestern eine Mitteilung zukommen zu lassen mit der Bitte, für ihn in Wi­gratzbad zu beten. Das taten sie zwei Tage und zwei Nächte hindurch. Am dritten, am Feste des hl. Josef, wurde der Ver­urteilte plötzlich aus der Haft entlassen. Noch in der Kleidung eines Sträflings fuhr er nach Wigratzbad. Vor der „Unbefleckt empfangenen Mutter vom Sieg“ betete er den ganzen Nach­mittag und die Nacht hindurch. Am Morgen fuhr er zu sei­nem Oberhirten nach Augsburg und bat um die Erlaubnis, in Wigratzbad aus Dankbarkeit das hl. Messopfer feiern zu dürfen. Die Bitte wurde ihm gewährt.

Es war selbst ein Verfolgter und Gedemütigter, der in der Sühnenacht vom 24. auf den 25. März 1940 die Kapelle ein­weihte. Eine große Schar von Betern war dabei. Und ausge­rechnet an einem der größten Marienfeste, Mariä Verkündi­gung, wurde in der Kapelle zum ersten Mal das hl. Messopfer gefeiert. Das alles war von einer großen, nicht zu übersehen­den Symbolik.

Auf die zweite hl. Messe musste man allerdings anderthalb Jahre warten. Das war anlässlich der Hochzeit von Antonies Bruder Andreas. Er hatte darum im Ordinariat gebeten und die Erlaubnis erhalten. Auch diese Feier wurde zu einem be­sonderen Erlebnis für die zahlreich Mitfeiernden.

Der größer werdende Zustrom an Pilgern wurde für An­tonie allerdings zu einem Damoklesschwert, das ständig über ihrem Haupte schwebte. Ihre Gegner ruhten nicht, und zu ihnen gehörte vor allem der eigene Ortspfarrer. Das ist ohne Zweifel eines der bittersten Kapitel im Leben der charisma­tisch begnadeten Frau. Und man würde der Kirche, die sich seit den letzten Päpsten mehr denn je der Wahrheit über die eigene Geschichte verpflichtet fühlt, in unserer Zeit keinen Dienst erweisen, wollte man das verschweigen.

Tödliche Anklagen

Zwei Jahre waren in Wigratzbad seit der Einweihung vergan­gen. Da versammelten sich im Hause des Bürgermeisters von Hergatz ein paar Gleichgesinnte, unter ihnen der Ortspfarrer und sein Küster, der auch Fleischbeschauer in der Gemeinde war, um darüber zu beraten, wie man Antonie aus dem Wege räumen und ihr Werk auslöschen könnte. Man kam auf die Idee, sie der Schwarzschlachtung zu bezichtigen. Darauf stand die Todesstrafe. Ausgerechnet der Küster, in seiner Eigenschaft als Fleischbeschauer, sollte die Anzeige erstatten. Die Familie Rädler wurde beschuldigt, in drei Kriegsjahren 50 Stück Vieh unter der Hand geschlachtet zu haben. Antonie trage dabei die Hauptverantwortung. Dem Küster wurde versichert, dass ihm nichts geschehen werde, falls herauskäme, dass an den Vorwür­fen nichts dran sei. Von der Sitzung erfuhren die Rädlers über eine Frau, die im Nachbargebäude des Bürgermeisters wohnte und Gelegenheit hatte, unauffällig mitzuhören, was in der Sit­zung beschlossen wurde. Nach dem Kriege hat der Mann seine Beschuldigungen widerrufen. Aber für die große Beterin von Wigratzbad hätten diese der sichere Tod sein können oder die Entsendung in das berüchtigte Konzentrationslager Auschwitz, in dem die bekannte Mystikerin Edith Stein vergast wurde.

Die Anzeige hatte zur Folge, dass zwei Tage vor dem Palm­sonntag, dem sog. Schmerzensfreitag, im Jahre 1942, ein Po­lizeibeamter auftauchte, Antonie verhaftete und zum Amts­gericht in Lindau brachte. Sie wurde in einer Einzelzelle un­tergebracht. Man wusste von Augsburg her um ihren Einfluss auf Mitgefangene. Sie durfte niemanden empfangen, nieman­dem schreiben, sie durfte nie an die frische Luft.

Die zermürbenden Verhöre aus dem Jahre 1938 in Augs­burg wiederholten sich. Sie dauerten von 8 bis 17 Uhr. Die Tobsuchtsanfälle des vernehmenden Zollfahnders zeigten, wie fanatisch ergeben viele Menschen dem unmenschlichen Sys­tem waren. Die Torturen hatten zur Folge, dass Antonie bis­weilen zusammenbrach.

In der Nacht ließ man gefangene Soldaten in ihre Zelle, in der Erwartung, sie würden sich auf sie stürzen, sich an ihr vergehen. Man hätte sie dann der Prostitution beschuldigt. Sie betete zwanzig Rosenkränze am Tag. Die Soldaten vermochten nicht, sich ihr zu nähern, eine geheimnisvolle Macht hielt sie zurück. Außerdem musste die Gefangene die Zellen der Häft­linge putzen, deren Boden mit den Sekreten der Geschlechts­kranken verunreinigt war. Man hoffte, sie würde sich anste­cken. Grauenvoll waren die großen Feste, besonders Pfingsten. An diesen Tagen wurden die Gefangenen sich selbst überlas­sen, die sich dann sexuellen Ausschweifungen hingaben. Von ihrer Zelle aus musste sie alles mitanhören.

Am meisten litt Antonie darunter, dass sie auf die hl. Kom­munion verzichten musste. Ihre Bitte an einen Wächter, ihr einen Priester zu besorgen, beantwortete dieser mit Spott. Als ein Amtsgerichtsrat in ihre Zelle kam, ein Protestant, trug sie ihm ihre Bitte vor. Der zeigte Verständnis und versprach, et­was für sie zu tun. Tatsächlich kam der Kaplan der Stadtpfarr­kirche zu ihr. Dieser behandelte sie jedoch von oben herab, spendete ihr aber doch die heiligen Sakramente.

Die qualvolle Haft dauerte vom 25. März bis zum 2. Juli, dem Fest Mariä Heimsuchung, also dreieinhalb Monate. In der Nacht zum 2. Juli hatte Antonie einen Traum. Die Gottesmut­ter stand vor ihr, nahm sie an der Hand und sagte: „Komm!“ Während sie den Rosenkranz betete, fragte Antonie immer wieder: „Wohin soll ich denn mit dir gehen? Wirke ein Wun­der. Nimm mich heim zur Grotte!“ Und es trat ein. Noch am gleichen Tage wurde sie ins Amtsgericht nach Wangen gerufen. Der Richter händigte ihr ein Telegramm aus, das aus Mün­chen eingetroffen war. Es war vom Sondergericht und lautete: „Antonie Rädler ist sofort zu entlassen!“ Der Richter erklärte ihr die Hintergründe, die zeigen, dass es in diesem System im­mer wieder Beamte gegeben hat, die von der Unschuld Anto­nies überzeugt waren: „Ihr Verteidiger, ein Oberamtsrichter, hat sich telefonisch an das Sondergericht in München gewandt und verlangt, dass ihm nach fünf Monaten endlich die Akten zum Fall Antonie Rädler zugestellt werden. Daraufhin hat München die Entlassung veranlasst. Bei einer Person, die sich eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht hat, geschieht so etwas außerordentlich selten. Ich gratuliere Ihnen.“

Kurzes Atemholen

Am Nachmittag war Antonie wieder daheim. Es sollte für sie nur ein kurzes Atemholen sein. Sie ging zur Grotte und stellte fest, dass sie schön geschmückt und das Ziel vieler Beter geblieben war. Man hatte viel für die Gefangene gebetet.

Zwei Tage später kam ein Polizist und brachte ihr die Schlüs­sel zur Kapelle. Er hatte die Anweisung, dafür zu sorgen, dass das Harmonium aus der Kapelle entfernt wurde, damit es kei­nen Schaden nehme. Antonie und ihre Brüder nahmen die Gelegenheit wahr, auch den „Herrn im Elend“, die Gnaden­statue der Unbefleckten Empfängnis und den hl. Josef in Si­cherheit zu bringen. Umsonst protestierte der Beamte. Die Statuen wurden in Antonies Zimmer gebracht und zur Ver­ehrung aufgestellt.

Was noch ausstand, war die Gerichtsverhandlung. Der Va­ter wurde aus Altersgründen vom Erscheinen entbunden, An­tonie stand allein vor dem Richter. Vergeblich versuchte man ihr etwas nachzuweisen, nicht einmal auf Indizien konnte man sich stützen. Nur aufgrund des Verdachtes wurde sie zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, angerechnet wurden nur zwei Monate Haft, „weil sie sich nicht zu ihrer Schuld bekannt ha­be“. Bis zum Antritt der Haft durfte sie heimkehren. Ihr Ver­teidiger hoffte auf Strafaufschub, aber Anträge dieser Art wur­den zurückgewiesen.

Vor dem Antritt der Strafe musste sie noch einmal nach München, um einer Gerichtsverhandlung wegen Schwarz­schlachtung beizuwohnen. Es war Psychoterror reinsten Was­sers. Aber der Freund des Vaters, ein Ministerialrat, ließ ihr eine heimliche Nachricht zukommen, auf keinen Fall nach Hause zurückzukehren. Er hatte erfahren, dass Antonie nach Auschwitz gebracht und dort umgebracht werden sollte. So begann eine moderne Odyssee, die ihresgleichen sucht.

Antonie tauchte erst einmal bei ihrem Vetter, Pfarrer von Hindelang, unter. Nach einer Woche musste sie weiterziehen, um den Geistlichen nicht zu gefährden. Sie konnte sich bei einem Freund des Vaters in Heimenkirch verstecken. Dieser brachte sie in einem Dachstübchen unter und versorgte sie. Er konnte den Spiritual des Herz-Jesu-Heims, Pater Pius von Weingarten, bewegen, ihr die hl. Kommunion zu bringen. Aber der Geistliche bekam kalte Füße und redete mit goldener Zunge auf sie ein, sich den Behörden zu stellen und die Strafe anzutreten. Ein Fluchtversuch sei unmöglich, alle Straßen be­wacht, die Familie gefährdet, man würde zwei Personen an ih­rer statt einsperren und hinrichten. In allen Polizeizeitungen sei sie mit Lichtbild ausgeschrieben. Ohne Anmeldung be­komme sie außerdem auch keine Lebensmittelkarten.

Es kam der letzte Abend, an dem sie Abschied nehmen soll­te. Während sie vor einem Herz-Jesu-Bild den schmerzhaften Rosenkranz betete, wurde es plötzlich in der kleinen Stube taghell, sie sah den Erzengel Michael und hörte vom Bild her die Stimme Jesu: „Bleibe ruhig! Dir passiert gar nichts. Du brauchst nicht ins Gefängnis zu gehen. Kein Haar wird dir gekrümmt wer­den. Deinen Angehörigen geschieht auch nichts. Du wirst ab­geholt. Folge! Die Engel begleiten dich. Vertraue! Vertraue!“

Antonie betete den Rosenkranz zu Ende. Da kam Pater Pius und brachte ihr die hl. Kommunion, „die letzte ihres Lebens“ – wie er sagte –, und erteilte ihr den Sterbeablass. Und es entwickelte sich ein kurzer Dialog zwischen dem Priester und einer „ungebildeten“ Laiin, der dennoch Geschichte machen sollte. „Sie täuschen sich, Herr Pater! Mir geschieht gar nichts und auch meiner Familie nicht!“ Dann erzählte sie dem Be­nediktinermönch von der Erscheinung des Erzengels. Dieser blieb skeptisch und meinte selbstsicher: „Sie irren sich. Die Angst verwirrt Sie. Sie haben sich das nur eingebildet, Satan verblendet Sie. Es nützt Ihnen nichts, die Augen vor der Wirk­lichkeit zu verschließen.“ – „Nein, Herr Pater“, widersprach Antonie, „die Mutter Gottes hat mich noch nie in die Irre ge­führt. Auch diesmal nicht. Ich glaube, dass der liebe Gott auf die Fürbitte Mariens, der Mutter vom Sieg, ein Wunder wirkt. Maria ist die Siegerin und macht alle Machenschaften des Teufels zunichte.“ – „Möchte es so sein“, meinte der Pater zum Abschluss und versprach noch einmal zu kommen. „Um 14 Uhr müssen Sie den harten Weg antreten“ (das heißt sich stellen). Dann gab er ihr den Reisesegen. Er hatte sich geirrt, denn es kam anders.

Im Bregenzer Wald

Kurz vor Mittag, gegen 11 Uhr, betrat der Hausherr uner­wartet mit einem Mann das Zimmer. Was dieser ihr erzählte, passt in die von Geheimnissen umgebene Geschichte von Wi­gratzbad. Er komme aus dem Bregenzerwald, aus einem ganz verlassenen Winkel. Seiner Frau sei Antonie von Wigratzbad her bekannt. Sie seien kinderlos und wohnten dort allein, ein Anwesen, von Wald umgeben, kein Weg führe dorthin. In der letzten Nacht seien beide, er und seine Frau, geweckt wor­den. Jedem wurde getrennt gesagt: „Holt sofort Antonie Räd­ler zu euch!“ Der Frau wurde zusätzlich eingeschärft: „Drän­ge deinen Mann, er soll sofort die Antonie ins Haus aufneh­men!“ Dem Mann dagegen: „Fürchte nichts! Hole die Antonie in dein Haus, aber sofort. Vertraue!“

Wie aber die Antonie holen, wenn niemand wusste, wo sie sich aufhielt. Also machte der Mann sich in den frühen Mor­genstunden auf den Weg, um das Haus der Familie Rädler aufzusuchen. Dort war man sehr überrascht, denn seit vier Wochen hatte man keine Nachricht von ihr. Den Eltern war der Aufenthaltsort wegen der vielen Verhöre durch die Ge­stapo nicht genannt worden, aus Furcht, sie könnten überlis­tet werden. Nur die Schwiegertochter, die Frau von Martin, wusste um den Ort. So konnte sie dem Mann aus dem Bre­genzerwald den Weg weisen.

Dieser bestellte nun Antonie für den anderen Morgen vor eine bestimmte Ortschaft und gab ihr eine Skizze in die Hand. An Ort und Stelle werde er ihr ein Zeichen mit der Hand geben und einen Jauchzer tun. Im Abstand von 20 Metern sollte sie ihm folgen. Der Weg werde steinig sein, Schluchten hinunter und Höhenwege hinauf führen. Nachdem alles er­klärt worden war, nahm er ihre Wäsche und Kleider mit und machte sich auf den Heimweg.

Es war bereits dunkel, als Antonie sich am Feste des hl. Erzengels Michael auf den Weg machte, verschleiert und als alte Frau verkleidet. Aber das Überwachungsnetz des Polizeistaates war dicht gesponnen. Plötzlich wurde sie angehalten. Eine Taschenlampe leuchtete auf, zwei Männer verlangten ihre Ausweispapiere. Antonie erschrak zu Tode. Sollte alles umsonst gewesen sein? Der Schweiß kam ihr aus allen Po­ren. Und wieder trat etwas Eigenartiges ein. Einer der Män­ner klopfte seinem Kameraden auf die Schulter und sagte: „Lass sie laufen! Das ist sie nicht.“ Ohne weitere Kontrollen kam Antonie durch den Sperrgürtel. So viel Aufwand um ei­ne Frau, die nichts anderes im Sinne hatte, als die Verehrung der Gottesmutter zu verkünden und zu beten.

Am frühen Morgen traf sie dann wie verabredet den Mann und folgte ihm in die entlegene Hütte in den Bregenzerwald. Trotz der Abgeschiedenheit kamen ab und zu doch befreun­dete Jäger ins Haus. Und sie tauchten plötzlich auf. Aus die­sem Grunde blieb sie ständig eingeschlossen und durfte kein Licht anzünden. Sie nutzte die Zeit, um die junge Geschichte der Gebetsstätte niederzuschreiben.

Ende Oktober wurde Antonie plötzlich von einer inneren Unruhe erfasst. Sie spürte, dass Gefahr im Verzuge war und dass sie das Haus sofort verlassen musste. Mitten in der Nacht brach sie auf, die Hausfrau konnte ihr nur noch den Weg zur Landstraße zeigen. Dann musste sie die einsame Beterin ih­rem Schicksal überlassen.

Antonie fand Zuflucht bei treuen Bekannten, aber immer nur für ein paar Tage. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu groß. Schließlich drängte es sie innerlich mit aller Gewalt nach Hause. Aber was für ein Zuhause war es jetzt geworden! Sie versteckte sich zunächst im Holzstadel und wurde dort von ihrer Schwägerin entdeckt. Ohne lange zu zögern, bas­telte man an einem Versteck. Man verbarg sie in früheren Taubenschlägen unmittelbar unter dem Dach. Dann wurde die Scheidewand zwischen Haus und Heustadel durchbro­chen, die Öffnung durch Bretter so geschlossen, dass sie von innen gut verschlossen werden konnte. Das erwies sich auch als notwendig, denn schon zwei Tage später wurde das ganze Haus von der Polizei durchsucht.

Sie wurde nie von jemandem entdeckt, obwohl im Hause eine siebenköpfige Flüchtlingsfamilie untergebracht worden war. Außerdem hatte man Serben und Polen als Hilfen im Haus und in der Landwirtschaft eingewiesen. Für Antonie war der enge, dunkle Unterschlupf ein Martyrium. Sie konnte nie aufrecht sitzen. Im Winter war es unmittelbar unter den Dachziegeln unerträglich kalt und im Sommer unerträglich heiß. Ab und zu konnte sie in die Küche im obersten Stock­werk ausweichen.

Von Ende 1943 bis April 1945 lebte sie und die ganze Fa­milie in Todesangst. Alle wussten, was sie erwartete, für den Fall, dass man sie entdecken würde. An dieser Gefahr kam sie zweimal haarscharf vorbei. Einmal stürmte die Geheime Staatspolizei unerwartet das Haus. Antonie schaffte es nicht, ihr Versteck aufzusuchen. Sie war bei den kranken Kindern ihres Bruders, konnte nur noch unter die Bettdecke der Kin­der kriechen und diese schreien lassen, als ein Beamter das Zimmer betreten wollte. Er zog sich zurück, ohne Antonie entdeckt zu haben. Er muss mit Blindheit geschlagen gewesen sein. Erstaunlich in dieser Situation, dass die beiden Kinder, ein achtjähriges Mädchen und ein vierjähriger Junge, die täg­lich mit der Tante zusammen waren, sich auch sonst gegen­über anderen Kindern nie verraten haben und das Geheim­nis zu hüten wussten.

Ein zweites Mal, es war schon gegen Kriegsende, im März/ April 1945, betrat überraschend ein Polizeibeamter aus Op­fenbach das Haus und stürmte die Treppe hinauf. Er gab vor, einen gefangenen Polen zu suchen. Schon hatte er die Klinke in der Hand, da rief die Mutter von unten, er sei an der fal­schen Tür, er müsste die nächste hinein.

Langsam und qualvoll neigte sich das „tausendjährige Reich“ seinem Ende zu. Blinder Fanatismus hatte sich sein eigenes Grab gegraben. Aber ein wildes Tier ist noch im Todeskampf gefährlich. Das bekam Martin, Antonies Bruder, zu spüren. Obwohl klar war, dass das Ende nicht mehr aufzuhalten war, wurde er noch in den letzten Tagen bei der Partei verleumdet. Das zeigt den erschreckenden Verlust des Gewissens bei den verführten Menschen. Er trachte angeblich einem Feldwe­bel, dem die Überwachung der Brücke über die Laiblach ob­lag, nach dem Leben. Eine absurde Behauptung. Sie hatte je­doch zur Folge, dass 200 Soldaten aus Konstanz nach Wigratz­bad abkommandiert wurden. 80 SS-Männer und 45 Gestapobeamte wurden im Hause der Familie Rädler einquartiert. Die Besatzung blieb vier Wochen und demolierte, was zu de­molieren war.

Dass bei dieser Menschenmenge im Hause Antonie nie ent­deckt wurde, kann als Wunder besonderer Art bezeichnet werden. Der Schutz des Himmels war offensichtlich. Zwei Geistliche, die aus dem KZ befreit zurückkehrten, feierten das hl. Messopfer in der Kapelle und brachten Antonie heimlich in einer Kapsel das Allerheiligste für den Fall, dass man sie doch noch ergreifen und zum Tode führen würde. Damit war man in den letzten Tagen besonders schnell bei der Hand.

Unterhalb des Hauses, der Kapelle und in der Umgebung wurden Schützengräben ausgehoben und auf die anrücken­den Franzosen geschossen. Das machte die Gebäude zur be­sonderen Zielscheibe für die andere Seite, die nicht mehr aufzuhalten war.

„Um dieser hohen Frau willen“

Immer mehr flüchtende deutsche Soldaten durchzogen Wigratzbad und die umliegenden Gemeinden. Sie hatten die Sinnlosigkeit des Kampfes vor Augen. Da ließ der Bürger­meister von Hergatz ein Gemeindeblatt mit der Aufforderung verteilen, man solle keinen deutschen Soldaten in den Häu­sern aufnehmen, sie seien dessen nicht würdig: „Schickt sie in die Wälder.“ Das war jener Mann, der an der Sitzung teil­genommen hatte, auf der beschlossen worden war, Antonie der Schwarzschlachtung zu bezichtigen und damit dem siche­ren Tode auszuliefern. Jetzt ereilte ihn genau dieses Schick­sal. Die Blätter kamen in die Hände des SS-Kommandanten. Der geriet in Wut, ließ den Bürgermeister ergreifen, verhör­te ihn drei Stunden im Hause der Familie Rädler und verur­teilte ihn schließlich zum Tode durch Erhängen.

Von einem Nebenzimmer aus konnte die Familie alles mit­hören. Sie hatten ihrem Todfeind verziehen und beteten jetzt für ihn, dass doch seine Seele gerettet werde. Vor dem Hause des Bürgermeisters stand einmal ein Kreuz, es wurde als an­gebliches Verkehrshindernis entfernt, auf seine Anweisung hin. Jetzt wurde an dieser Stelle ein Galgen errichtet. Der erste Versuch einer Hinrichtung ging daneben. Daraufhin musste er sich selbst den Strick um den Hals legen. Es waren Gesin­nungsgenossen, die ihn umbrachten.

Noch in der Nacht kam seine Frau zur Familie Rädler und bat diese inständig, sich beim SS-Kommandanten dafür zu verwenden, dass man den Toten vom Galgen nehmen dürfe, damit den eigenen Kindern der schreckliche Anblick erspart bliebe. Es war schwer, ihn umzustimmen, aber schließlich gab er nach. Der Tote wurde auf einem Schubkarren nach Wohmbrechts gefahren und verscharrt.

Übrigens haben die größten Feinde Antonies einen tragi­schen Tod gefunden. Zu ihnen gehörte auch der Kreisleiter der Partei aus Lindenberg. Er wurde von befreiten Polen aus dem Auto geholt, zu Tode getrampelt und unter die Erde ge­bracht.

Der letzte entscheidende Tag brach an. Es war der 29. April, ein Sonntag. Die SS schickte alle Bewohner in die Wälder. Die Brücke über die Laiblach wurde gesprengt, ein französischer Panzer in Brand geschossen und dessen Besatzung getötet. Bei Einbruch der Nacht verließ dann der größte Teil der Besatzung den Ort. Nur eine kleine Abteilung schoss noch nach Mitter­nacht aus den Schützengräben. Dann verschwanden auch sie.

Antonie hatte niemand von der Familie fliehen lassen. In der Dämmerung schlichen sie zur Kapelle hinauf und bete­ten in der Unterkirche die ganze Nacht hindurch. Wenn die Gottesmutter es zulasse, dass sie alle sterben, dann wollten sie ihr Leben aufopfern, damit später eine noch größere Ka­pelle entstehen möge zur Verherrlichung der Siegerin in allen Schlachten Gottes, meinte sie.

Die heranrollenden französischen Panzer eröffneten ein ohrenbetäubendes Feuer auf Wigratzbad. Martin befand sich gerade noch unten im Elternhaus, da durchschlug eine Gra­nate die Hauswand und entzündete einen Holzstoß. Mit nas­sen Tüchern konnte der Sohn das Feuer löschen. Gegen 2 Uhr suchte er das Haus noch einmal auf und traf dort zu seiner großen Überraschung auf den SS-Kommandanten, zwei Sol­daten und eine Sekretärin. Mit vorgehaltener Pistole jagte er Martin aus dem Hause, worauf dieser in die Unterkirche zu­rückkehrte. Der ganze Weg war mit Granaten übersät, die nicht krepiert waren.

Von innerer Unruhe gedrängt verließ Martin im Morgen­grauen noch einmal die Unterkirche, nahm eine Stange und ein weißes Tuch mit und stieg zur zerstörten Brücke hinun­ter, wobei er jeden Augenblick damit rechnen musste, von einer Kugel getroffen zu werden.

Unten erwartete er den ersten französischen Panzer. Ihm entstieg ein Offizier, der fließend deutsch sprach. Er staunte über den Mut des Mannes und fragte, ob noch deutsche Sol­daten im Ort seien. Martin verneinte. „Ihr habt die Brücke über die Laiblach gesprengt. Ich habe den Befehl, zur Strafe den Ort und die ganze Umgebung dem Erdboden gleich zu machen“, sagte der Offizier. Martin beteuerte, dass es die SS gewesen sei. Sie selber hätten über Jahre unter dem schreckli­chen Regime gelitten. Trotz der Auseinandersetzung mit die­sem gottlosen Reich hätten sie dort oben die Kapelle erbaut zu Ehren der Gottesmutter vom Siege, unzählige Nächte da­rin gebetet um den Sieg über ihre Feinde.

Und dann kam zwischen dem Deutschen und dem Fran­zosen ein Gedankenaustausch zustande, der nur in der Welt Gottes möglich ist. ,Verschonen Sie uns und diesen Ort, wie Sie in gleicher Lage Lourdes verschonen würden. Schauen Sie die Madonna dort oben auf dem Türmchen. Ihr zuliebe, verschonen Sie uns!“ Der Offizier blieb hart: „Aber ihr habt die Brücke zerstört!“ Martin schlug einen Ausweg vor. Er woll­te dem Offizier eine Brücke über den Fluss zeigen. Wenn man sie verstärken würde, könnten Panzer darüber rollen und der Vormarsch wäre gesichert. Der Franzose ließ sich die Brücke zeigen und ordnete dann an, sie den Erfordernissen anzu­passen. Etwa fünfzehn Minuten ging er, mit sich selbst rin­gend, auf und ab. Martin startete einen neuen Versuch: „Tun Sie es der hohen Frau zuliebe. Sie wird Sie dafür beschützen bei Tag und bei Nacht!“ Der Offizier schaute zum Türmchen: „Um dieser hohen Frau willen verschone ich diese Kapelle und diesen Ort!“ Dann gab er den Befehl zur Feuereinstellung.

Maria hatte Verständigung bewirkt zwischen einem Deut­schen und einem Franzosen und Leben gerettet. Sie war zur Brücke geworden. Ein Gegenpol zum SS-Kommandanten und dem Bürgermeister, beide auf Hitler eingeschworen. Dies wurde beiden zum Verhängnis. Am Ende zerstört das Böse sich selbst.

Wigratzbad war gerettet. Kein Schuss fiel mehr. Die einrü­ckende französische Einheit konnte es nicht fassen, dass die Geschosse nicht explodiert waren, alle Häuser standen und kein Mensch ums Leben gekommen war.

Die Bewohner kamen aus den Wäldern zurück, weinten vor Freude. Die Heimat war ihnen erhalten geblieben. Anto­nie schlug vor, neunmal neun Tage jeden Abend in der Ka­pelle einen Psalter, d.h. drei Rosenkränze zu beten.

Am darauf folgenden Sonntag hörten die Menschen in der Kirche von Opfenbach aus dem Munde ihres Pfarrers Mans­netter von der Kanzel ein klares Bekenntnis. Wenn ihnen die Heimat erhalten geblieben sei, dann verdanke man es der Unbefleckt empfangenen Mutter vom Sieg in Wigratzbad. Dort sei viele Stunden bei Tag und bei Nacht gebetet worden, „mehr gebetet als im ganzen Land“.

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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches

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