Kapitel VI
Gefängnis und Terror
„Theater muss aufhören”
Zwei Tage nach dem schockierenden Gespräch mit ihrem Pfarrer hielt ein Wagen vor dem Haus der Familie Rädler. Ihm entstiegen vier Männer der berüchtigten Geheimen Staatspolizei und verlangten in barschem Ton, mit Antonie zu sprechen. Sie war gerade erst von einer Beerdigung zurückgekommen und hatte noch nichts gegessen. Sie durfte es auch jetzt nicht. Im Gegenteil. Man begann sofort mit einem Verhör, durch das sie erst einmal eingeschüchtert werden sollte.
Es sei eine große Anzahl von Anzeigen bei ihnen über sie eingegangen, behaupteten sie. Sie hätte für den Bau der Kapelle ohne Genehmigung gesammelt. Antonie blieb ruhig. Sie seien falsch unterrichtet, antwortete sie. Das Geld für die Kapelle stamme von ihrem Vater und von ihrer Taufpatin, außerdem hätte sie ein Darlehen aufgenommen und werde es verzinst zu gegebener Zeit zurückzahlen. Für ihre Behauptungen einer unerlaubten Sammlung sollten sie Beweise erbringen.
Daraufhin wurde das Haus vom Dach bis zum Keller durchsucht, das Büro des Vaters durchwühlt, Böden aufgerissen, Dokumente beschlagnahmt. Vergeblich. Belastendes Material fanden sie nicht. Die Kapelle wurde mit der Bemerkung geschlossen: „Dieses Theater muss aufhören!“ Gegen 21 Uhr befahlen sie Antonie, ins Auto zu steigen. Sie durfte nicht einmal die Kleidung wechseln. In großer Ungewissheit über ihr Schicksal blieb die Familie zurück.
Trotz der vorgerückten Stunde fuhren sie zur bereits erwähnten Cäcilia Geyer, die einen wichtigen Anstoß für die Erweiterung der Grotte gegeben hatte und holten sie aus dem Bett. Antonie blieb unter Bewachung im Wagen zurück. Der aus dem Schlaf gerissenen Frau warfen die Beamten vor, sie hätte Antonie Rädler 10 000 Mark für den Bau der Kapelle in Wigratzbad gegeben. Aber diese sei eine Schwindlerin und sie, Frau Geyer, habe sich mitschuldig gemacht. Sie werde alles bezahlen müssen, bettelarm werden und ins Armenhaus kommen.
Erstaunlicherweise ließ sich die einfache Bäuerin nicht einschüchtern. Wenn jemand als Schwindler bezeichnet werden müsste, dann seien sie es, nicht die Antonie. Diese habe gearbeitet und gebetet, sie sei eine ehrbare Frau. Zwar habe sie ihr 2000 Mark für den Bau geschenkt, aber das sei der Wunsch ihres Mannes gewesen. Und was die Erscheinung der Gottesmutter angehe, so habe sie, Cäcilia Geyer, diese tatsächlich gehabt. Und sie hätte ihr gesagt: „Ich werde der höllischen Schlange den Kopf zertreten. Ich kann alle zerschmettern, die gegen die Sache sind.“ Ein Schwindel liege hier nicht vor. Im Übrigen verbiete sie sich in ihrem Hause solche Bemerkungen. Und wenn Gott ein Opfer von ihr fordere, so sei sie dazu bereit. Die Kapelle, zu Ehren der Gottesmutter erbaut, sei es wert. Drei Stunden haben die Männer die Frau in der Mangel gehabt, verhört und bedrängt. Aber sie hat sich zur Wehr gesetzt und ist zuweilen so laut geworden, dass man es im Auto hören konnte. Als die Beamten schließlich gingen, machten sie ihr zur Auflage, am nächsten Tag eine Bescheinigung der Bank vorzulegen, dass die Summe tatsächlich die gewesen sei, die sie, Cäcilia Geyer, angegeben hatte.
Wie bewundernswert der Mut dieser Frauen war, kann jemand ermessen, der diese Zeit nicht nur erlebt hat, sondern mit seiner Familie selber Opfer jenes Regimes gewesen war und noch heute, in reifem Alter, unter den zugefügten seelischen Wunden leidet.
Nach dem unerfreulichen Abstecher ins Haus Geyer brachten die Männer der Geheimen Staatspolizei Antonie in das Rathaus von Wangen und steckten sie in eine der Gefängniszellen, die es dort gab. Zu essen erhielt sie nichts. Sie war bereits den ganzen Tag ohne Nahrung geblieben. Hinzu kam, dass sie die vorausgegangenen Tage schwer gearbeitet hatte, um die Einweihung der Kapelle am 8. Dezember, wie sie gehofft hatte, vorzubereiten. Eines konnte sie noch, schlafen.
Zwei Tage vergingen. Danach brachten dieselben Männer sie ins Polizeipräsidium nach Augsburg. Die Zelle, in die man sie sperrte, war ohne Tageslicht. Auf einem dürftigen Brettergestell konnte sie sich etwas niederlegen. In dieser Dunkelheit, von aller Welt isoliert und verlassen, dankte sie der Gottesmutter, dass sie nun tatsächlich teilhaben durfte am Leiden Christi. Sie war ungebrochen und legte ihr Schicksal in die Hände der „Jungfrau, mächtig bei Gott“.
Hier ist ein kleines Detail bemerkenswert. Da man ihr auch die Handtasche abgenommen hatte, bat sie zwischendurch einen der Beamten, ihr aus der Tasche den Rosenkranz zu bringen. Und wider Erwarten erfüllte der ihr diesen bescheidenen Wunsch, nicht ahnend, welche „Waffe“ er ihr damit in die Hand gab. Für einen kurzen Augenblick zeigte einer der Männer ein menschliches Gesicht.
Im „Katzenstadel“
Am nächsten Tag, es war ein Samstag, wurde Antonie in das gefürchtete Gefängnis „Katzenstadel“ gebracht. Dort kam sie zunächst in eine Zelle mit zwei Frauen, die den letzten Rest an Würde verloren hatten. Es war sehr kalt und Antonie fror bis auf die Knochen. Am Montag wurde sie dann einer Gruppe von 16 Frauen zugeteilt, die Weihnachtstüten klebten. Die meisten von ihnen waren Prostituierte. Antonie wurde mit Spott empfangen. Nun bekam sie zu Gesicht, wie tief Menschen fallen können. Es wurde geflucht, gestritten, sich geprügelt. Antonie blieb schweigsam, auf Fragen antwortete sie nicht. Im Raum herrschte ein fürchterlicher Gestank, denn alle mussten ihre Notdurft in einen offenen Kübel verrichten. Gelüftet wurde nicht.
Zur Mittagszeit wurde unter einer Türklappe das Essen hineingeschoben. Alle füllten ihre Blechschüsseln. Da ging Antonie zur Initiative über. Sie betete laut das Tischgebet. Gelächter war die Antwort. Sie blieb jedoch ruhig und sagte: „Wir sind doch Menschen, wir sind keine Tiere, die ihren Schöpfer nicht kennen. Betet mit oder schweigt wenigstens!“ Einige schwiegen, andere wurden noch ausfälliger. Antonie zeigte Würde auch unter diesen unmenschlichen Bedingungen. Das musste Wirkung zeigen bei Menschen, denen man jede Würde absprechen wollte.
In der Freizeit forderte sie die Mitgefangenen auf, mit ihr den Rosenkranz zu beten. Wer mitmachen wollte, dem versprach sie ein Stück von ihrer Brotration. Zwei bis drei erklärten sich bereit, aber sie kannten weder das Vaterunser noch das Ave Maria. Antonie schrieb sie ihnen auf einem Stück Papier auf. Dann sprach sie ihnen Mut zu und versicherte ihnen, sie würden bald die Auswirkungen des Betens spüren, sie würden andere Menschen werden, aus ihrer Not herauskommen.
Antonies Haltung flößte den Gefangenen Vertrauen ein. Eine nach der anderen kam auf sie zu, offenbarten ihr ihre innere Not, baten um einen Rat. Streitigkeiten wurden geschlichtet. Eine ganz andere Atmosphäre machte sich unter den Häftlingen breit. Es vergingen keine zwei Wochen, da äußerten alle, bis auf eine Protestantin, den Wunsch, zu beichten. Im Hause gab es eine Kapelle, in der alle zwei Wochen eine hl. Messe gefeiert wurde. Daher erbat Antonie bei der Gefängniswärterin einen Priester. Es kam ein sehr gütiger und einfühlsamer Pater.
Antonie selbst bereitete alle auf das Sakrament der Buße vor. Sie stand als Letzte in der Reihe. Als sie dran kam, verriet ihr der Geistliche, wie beeindruckt er sei. „Sie mussten in dieses Gefängnis kommen“, bekannte er, „Sie haben große Bekehrungen erreicht.“ Kurze Zeit darauf wurde der Geistliche versetzt und die Gefängnisseelsorge abgeschafft.
Als auch Antonie von ihnen Abschied nehmen musste, weinten alle. Sie versprachen, jeden Tag den Rosenkranz zu beten, sie seien ganz andere Menschen geworden, eine große innere Ruhe sei in ihnen eingekehrt. Sie wäre für sie zum Schutzengel geworden.
Danach wurde sie wieder ins Polizeipräsidium gebracht, von morgens bis abends verhört. Während dieser Verhöre ließ man sie bis zu zehn Stunden ohne Unterbrechung stehen, sie bekam weder zu essen noch zu trinken. Vorher hatte man ihr einige Kartoffeln in der Schale und etwas Kraut gegeben. Jetzt nahmen die Beamten vor ihren Augen Wurst- und Schinkenbrötchen zu sich. Man wollte sie zermürben und eine Aussage erpressen, die eine Verurteilung erleichtert hätte. Es ging ihnen vor allem um eine Liste der Wohltäter. Antonie blieb im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes ruhig, zeigte sogar einen Hauch von Humor. Die Wohltäter seien im Herzen Jesu und Mariens eingetragen. Dort sollten sie nachforschen. Sie zeigte Stehvermögen, hörte auf eine innere Stimme, die ihr sagte: Ich werde an deiner Seite bleiben. Alle Fragen wirst du ohne nachzudenken richtig beantworten.
Aber eine schwere Krise blieb ihr dennoch nicht erspart. Es war am 7. Dezember, am Vorabend des Festes der Unbefleckten Empfängnis. Der Psychoterror, die physischen Belastungen hatten an ihrer Substanz gezehrt. Die Nerven versagten. Den ganzen Tag über musste sie weinen. Eine innere Nacht brach über sie herein, eine tiefe Gottverlassenheit, sie hatte den Eindruck, der Himmel habe sie vergessen. Sie sah keine Zukunft mehr, die erschien ihr schwarz und ohne Hoffnung. Man hatte ihr mit dem Konzentrationslager gedroht, die Eltern glaubte sie in höchster Gefahr. Je tiefer die Nacht, umso tiefer ihre innere Not.
Da schlug um Mitternacht vom Kirchturm die Glocke. Beim zwölften Schlag wurde es hell in der Zelle. Aus einer Wolke trat die Unbefleckte Empfängnis heraus und sagte: „Fürchte dich nicht! Ich habe alles in den Händen. Du wirst bald aus dem Gefängnis entlassen werden.
Bete täglich zum Jesuskind:
O gnadenreiches Jesuskind, sei hochgepriesen und segne uns! Durch deine heilige Mutter bitten wir dich: Aus aller Not und Bedrängnis errette uns! Zum vollkommenen Sieg und wahren Glück und Frieden führe uns mit deiner Allmacht, Weisheit und Güte. Um die Verdienste deines ersten (zweiten, dritten … zwölften) Lebensjahres willen bitten wir dich: Eile uns zu Hilfe auch durch die Schar all deiner Engel und Heiligen!“
Was wollte Maria, die Mutter Jesu, mit diesem Gebet erreichen? Bei ihr hat jede Geste, jede Aussage eine tiefe Dimension. Das Leiden Jesu ist für jeden Christen ein Begriff. Darunter verstehen wir, was Menschen ihm am letzten Tag seines irdischen Lebens angetan haben, den grauenvollen Tod am Kreuze, und was diesem vorausgegangen war an seelischer und körperlicher Folter. Weniger gegenwärtig sind den gläubigen Menschen, was er bereits während der Jahre der Verkündigung auf sich genommen hatte, den Hass der Mächtigen, der Theologen und der Priesterkaste im Tempel zu Jerusalem. Wenig, ja fast kaum wird bedacht, welche Leiden bereits die Jahre seiner Kindheit durchzogen haben. Die Mordabsicht des Königs Herodes, die mühsame Flucht nach Ägypten, Jahre der Heimatlosigkeit als Flüchtlingskind in Ägypten. Später die Jahre in Nazareth, das Zusammenleben mit Menschen, die keine Engel waren, sondern voller Fehler, Laster und Neid, die ihm, dem Sündenlosen, oft ein Gräuel gewesen sein müssen.
Es ist eine Gefangene, die gerade die Niederungen des Menschlichen ausleben musste, der Maria dieses Gebet, das heißt diese Betrachtung anempfiehlt.
Antonie begann damit sofort. Sie betete zwölf Vaterunser und zwölf Ave Maria. Nach dem Namen Jesu fügte sie jeweils das empfohlene Gebet hinzu. Dann machte sie drei Kniebeugen mit den Worten „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“. Die Kniebeugen sollten eine Sühne sein für jene, die nicht mehr bereit sind, vor dem sich demütigenden Gott im Stall das Knie zu beugen. Es ist kein niedliches Kindlein-Jesu-Gebet. Dahinter steckt die Offenbarung, was es für den ewigen, unendlich seligen Gott bedeuten musste, in Raum und Zeit einzutauchen und als Mensch alles auf sich zu nehmen, was Menschen auf dieser Erde an Qualen und Leiden zugemutet wird, oft schon als Kind.
Neue Register
Den ganzen 8. Dezember hindurch weinte Antonie, diesmal erfüllt von innerem Glück. Auf diese Weise gestärkt, stellte sie sich mit erhobenem Haupt wieder ihren Folterknechten. Nun zogen sie neue Register. Der Bischof sei über sie informiert. Auch er habe zugegeben, dass es auf der ganzen Welt nicht üblich sei, so lange und so viel zu beten. Er billige es nicht. Aber die Frau aus Wigratzbad blieb unbeeindruckt. Sie machte zunächst ein Fragezeichen hinter diese Behauptung des Oberhirten. Dann erläuterte sie ihre eigene Überzeugung. Jedes Gebet, jedes Ave Maria habe einen großen zeitlichen und ewigen Wert, mit jedem Ave komme Gnade und Segen auf die Erde. Deshalb bete sie länger und ausdauernder als viele andere und werde es auch weiterhin tun.
Es war der 9. Dezember. Da erinnerten die Beamten Antonie daran, dass sie doch am 8. Dezember die Kapelle habe weihen lassen wollen. Daraus sei ja nun nichts geworden. Wo bleibe da der Sieg der Maria vom Sieg? Aber es konnte sie nicht aus der Ruhe bringen. Die Antwort musste selbst ihre zynischen Gegner verblüffen. „Und sie wird doch siegen. Sie siegt immer! Aber sie hat Zeit. Die Kapelle wird eingeweiht werden, wenn sie es bestimmt. Niemand vermag sich ihr zu widersetzen. Sie ist Herrin über Himmel, Erde und Hölle. Sie kann alle zerschmettern, die ihr widerstehen.“
Die Beamten wussten nicht mehr weiter. Sie zeigte eine Intelligenz, eine Schlagfertigkeit, die schon die Gegner von Lourdes im 19. Jahrhundert bei der Seherin Bernadette, einem ganz einfachen Mädchen, beobachten konnten. Dahinter steht eine Intelligenz nicht von dieser Welt. Sie machte die Beamten auf Widersprüche aufmerksam, zog ihre Behauptungen ins Lächerliche. Am Ende gingen die Männer wieder zu Beschimpfungen über. Predigen könne sie besser als ein Pfarrer. Sie sei eine Hexe, sie gehöre auf den Scheiterhaufen. Ein Pfarrer solle sie einsegnen und dann herunterbrennen.
Antonie tat erstaunt. Im 20. Jahrhundert glaubten die Herren noch an Hexen! Sie sollten Acht geben, nicht selber auf einem Scheiterhaufen zu landen. Denkt man an das Feuer, das ein paar Jahre später als Bombenhagel viele Städte Deutschlands in Wüsten verwandelte, so könnte die Anspielung Antonies gegenüber dem einen oder anderen Gegner sogar eine Prophezeiung gewesen sein. Wohl noch am selben Abend erschien ihr der „Herr im Elend“ und sagte: „Ich erlöse dich bald!“
Beim letzten Verhör forderte man von ihr das Versprechen, nie mehr zur Grotte zu gehen und dort zu beten. Dann würde man sie sofort entlassen. Antonie wies das Ansinnen zurück. Sie bete nicht um irgendwelcher Sensationen willen, sondern sei felsenfest überzeugt, dass gerade das gemeinsame Gebet zur Gottesmutter ihr und allen nütze, für die sie bete, übrigens auch dem deutschen Volk. Sollte sie heimkommen, würde ihr erster Gang zur Grotte sein. Eine Welle von Wut war die Reaktion. Man werde sie dorthin bringen, wo ihr Hören und Sehen vergehen könnte. ‚Wir werden sehen, ob Maria siegt oder wir.“ Sie sei bereit, eher den Tod zu wählen, als nicht mehr zur himmlischen Mutter zu gehen, versicherte sie ihren Peinigern.
Dann kam ein letzter Versuch. Ihr Bruder sei bei ihnen gewesen und hätte schriftlich versprochen, er werde dafür sorgen, dass sie nicht mehr vor der Grotte beten werde. Auch diese Behauptung stellte Antonie in Frage. Sie sei volljährig und lasse sich von ihm nichts befehlen. Sie werde wieder beten und vorbeten. Ihre Gegner waren vorerst am Ende ihres Lateins. Man brachte sie ins Gefängnis zurück. Diesmal nur für einige Stunden. Dann öffneten sich die Tore. Sie hörte das befreiende „Sie sind entlassen!“
Es war der 18. Dezember 1938, das Fest Mariä Erwartung. Es waren 27 Tage, die sie als Gefangene erlebt hatte, um der Madonna willen, aber, was sie nicht wissen konnte, es sollte noch lange nicht das Ende sein. Ihr erster Gang war, wie hätte es anders sein können, in eine Kirche. Dann suchte sie eine Verwandte auf, bei der sie nach vier Wochen erstmals wieder eine normale Mahlzeit einnehmen konnte. Die Familie wurde benachrichtigt. Um 16 Uhr wollte sie mit dem Schnellzug kommen, jedoch nicht im nahen Hergatz aussteigen, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Man holte sie in Röthenbach ab. Daheim weinten alle vor Freude.
Für Cäcilia Geyer, die bei der Verhaftung Antonies knapp einem solchen Schicksal entgangen war, sollte sich bald der Himmel öffnen. Ein paar Wochen später, es war im Februar 1939, beaufsichtigte sie die Kinder einer Nachbarsfamilie. Plötzlich wurde ihr unwohl, sie stand auf und ging heim, traf dort eine Krankenschwester an und bat diese, den Pfarrer zu holen. Nach dem Empfang der Sterbesakramente rief sie aus: „Dass doch alle Menschen einen so schönen Tod sterben könnten!“ Dann schlief sie ein. Am darauf folgenden Morgen klopften vier Beamte der Geheimen Staatspolizei an ihre Türe. Sie wollten sie ins „Irrenhaus“ (wie man es damals nannte) bringen. Zu Gesicht bekamen sie eine Tote. Gott hatte ihr vieles erspart. Für das zukünftige erhabene Bild von Wigratzbad stand ein weiteres Mosaiksteinchen zur Verfügung.
Über Verhöre, Isolation, physische Belastungen wie Hunger und Kälte versuchte man in Augsburg Antonie zu zermürben. Gleichzeitig wurde über die Presse eine Kampagne gestartet, die ihr Ansehen in der Öffentlichkeit ruinieren sollte. Die Presse befand sich in jenen Jahren vollständig in der Hand der Partei, sie hatte nicht unparteiisch zu informieren, sondern parteiisch zu propagieren. Wer in ihre Mühlen geriet, dem konnte kaum mehr jemand helfen.
Reliquien beschlagnahmt
In der Öffentlichkeit wagte man noch nicht, die Gottesmutter zu verunglimpfen, also versuchte man es auf Umwegen. Antonie wurde Reliquienschwindel vorgeworfen, in Verbindung mit einer vorgetäuschten Marienerscheinung. So etwas kommt immer an. Was aber war wirklich geschehen? Der Benediktinerpater Athanasius Miller OSB, ansässig in Rom, bekannt durch eine Psalmenübersetzung, erholte sich in jedem Jahr einige Zeit in Wangen. Regelmäßig besuchte er auch die Familie Rädler. Bei einem dieser Aufenthalte schenkte er Antonie zwei große versiegelte Kapseln mit kleinen Reliquien von Märtyrern und Heiligen. Die entsprechenden kirchlichen Echtheitserklärungen waren dabei.
Glücklich über so ein Geschenk zeigte sie es einfältig ausgerechnet dem Ortspfarrer Rädler, von dessen tragischer theologischer und politischer Verirrung sie noch nichts ahnte. Er verriet bei dieser Gelegenheit eine große Verachtung der Heiligenverehrung: „Ich gehe gleich zu Gott Vater. Ich brauche keine Vermittlung.“
Kurz darauf erschien im „Völkischen Beobachter“, der führenden Zeitung des Regimes, ein Artikel über Antonie, Wigratzbad und die Reliquien, wie er ordinärer und zynischer nicht hätte ausfallen können. Es entsprach dem Stil der Herausgeber und des Propagandaministeriums. Die Zeitung schrieb, Antonie hätte behauptet, in den Kapseln befinde sich das Herz eines Heiligen, in Wirklichkeit hätte die Polizei dort nur einen Lumpen gefunden. Der Schwindel hätte ihr 40 000 Mark eingebracht. In einer großen Versammlung wurde die Bevölkerung von Wangen „aufgeklärt“ — so jedenfalls nannte man es.
Die Geheime Staatspolizei beschlagnahmte die Reliquien und ließ sie im Ordinariat von Augsburg überprüfen. Dort wurde die Echtheit festgestellt. Die kirchlichen Siegel waren nicht aufgebrochen. Auf eine Korrektur in der „Westallgäuer Nationalsozialistischen Zeitung“ in Lindau, die den irreführenden Bericht gebracht hatte, wartete man vergebens. Im Gegenteil. Im Februar 1939 setzte die Presse noch nach. Der „Stuttgarter Kurier“ und das „Münchener Tagblatt“ berichteten, Antonie hätte ihre betagte Mutter durch Öffnen des Gashahnes getötet und dann sich selbst. Unverständlicherweise haben damals sogar Kirchenblätter diese Horrorgeschichten übernommen. Auch Zeitungen im Ausland wie in der Schweiz, in Frankreich, Italien und Amerika ließen sich in diese Kampagne hineinziehen und wiederholten die Berichte.
Die Verleumdete blieb unbeirrt. Kaum daheim, drängte es sie am Nachmittag zur Kapelle, trotz beschwörender Bitten der Familie, die neue Schikanen befürchtete. Aber sie stand vor einem verschlossenen Tor. Bei ihrer Verhaftung waren die Schlüssel mitgenommen worden. Da rief sie durch ein angelehntes Fenster in den Raum: „Herr im Elend! Lass doch als allmächtiger Gott die Kapelle öffnen, damit ich zu euch hinein kann.“ Am anderen Tag wurde Antonie zur Polizeistation nach Opfenbach gerufen. Man habe per Express ein Päckchen mit dem Vermerk erhalten: Sofort auszuhändigen! Es waren die Schlüssel zur Kapelle.
Diffamierungen, Beschuldigungen, öffentlicher und individueller Psychoterror hatten zur Folge, dass jetzt noch mehr Beter bei Tage und in der Nacht zur Kapelle strömten. Man steht heute, nach weit über einem halben Jahrhundert, fassungslos vor dem ungleichen Kampf einer schwachen Frau mit einer der brutalsten Staatsmaschinerien des 20. Jahrhunderts, die sich außerdem noch in einem Siegesrausch befand. Einer solchen Auseinandersetzung ist nur jemand gewachsen, hinter dem eine Macht nicht von dieser Welt steht. Und bei Antonie war es eine Frau, die Frau nach den Träumen Gottes, die in Wigratzbad als „Unbefleckt empfangene Mutter vom Sieg“ angerufen werden möchte, nicht ihretwillen, sondern um des Menschen willen, die uns dazu auffordert, über die Sprache Gottes nachzudenken, die nicht die unsere ist, in die wir aber mit seiner Hilfe hineinwachsen sollen.
Der abermalige Ansturm der Beter stachelte die Gegner erneut an. Sie wollten eine Gerichtsverhandlung, und die wurde dann endlich auf den 27. Juni 1939 festgesetzt. Sie fand in Weiler statt. Die Anklage lautete: Verstoß gegen das Sammelverbot, illegaler Opferstock in der Kapelle. Was heute noch überrascht: Der Oberstaatsanwalt Dr. Helmer war ihr wohlgesonnen. Er kam zu einem Verhör selbst nach Wigratzbad, um der Familie die Angst vor einer neuen Untersuchungshaft zu nehmen.
In seiner Schlussrede stellte er ihr ein gutes Zeugnis aus. „Sie steht vor uns als ein absolut ehrbares, tadelloses und durchaus zuverlässiges Mädchen.“ Dann warf er ihr allerdings vor – sicherlich ein Zugeständnis an das Regime, in dessen Diensten er stand –, „in ihrer übertriebenen Religiosität im Zeitalter der Aufklärung eine Stätte der Volksverdummung errichtet zu haben. Sie selbst gibt zu gesagt zu haben, Wer immer zur Verherrlichung Mariens beiträgt, wird den Segen und den Lohn des Himmels erlangen. Aus diesem Grunde muss die Beschuldigte bestraft werden. Sie hat diese Strafe bereits in einer zu Unrecht auferlegten Haft in den Monaten November/Dezember im Jahre 1938 abgebüßt. Es sind von ihr 31 Mark für die Kosten der Verhandlung zu entrichten.“
Ungeachtet dieses glücklichen Ausgangs gingen die Angriffe auf Antonie und die Gebetsstätte weiter. Der Weg der Sühne, den sie eingeschlagen hatte, war für sie noch lange nicht zu Ende. Welt- und Kirchenpresse wetteiferten miteinander, die Menschen durch Falschberichte von Wigratzbad fernzuhalten. Von den Kanzeln wurde sie verdächtigt, die Wallfahrt zur Grotte verboten. Erst die Einweihung der Sühnekirche im Jahre 1976 durch Bischof Josef Stimpfle setzte diesen Kampagnen ein Ende. Aber bis dahin waren es noch 37 lange Jahre. Für das kurze menschliche Leben fast eine Ewigkeit.
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Quelle: Eigener Scan aus meinem persönlichen Exemplar des im Titel genannten (neu nicht mehr erhältlichen) Buches
Siehe weiter:
- Kapitel I: Sternstunde
- Kapitel II: Unerwünscht
- Kapitel III: Die Grotte – Maria vom Sieg
- Kapital IV: Geheimnisvolle Reise
- Kapitel V: Die Kapelle
