Die Einheit der Kirche in Zeit und Raum ist mit der Einheit des Glaubens verknüpft: »Ein Leib und ein Geist, […] ein Glaube« (Eph 4,4-5). Heute mag eine Einheit der Menschen in einem gemeinsamen Einsatz, im gegenseitigen Wohlwollen, im Teilen ein und desselben Loses, in einem gemeinsamen Ziel realisierbar erscheinen. Aber wir haben große Schwierigkeiten damit, eine Einheit in derselben Wahrheit zu sehen. Es scheint, eine solche Einheit setze sich der Freiheit des Denkens und der Autonomie des Subjekts entgegen. Die Erfahrung der Liebe sagt uns hingegen, dass es gerade in der Liebe möglich ist, eine gemeinsame Vorstellung zu haben, dass wir in ihr lernen, die Wirklichkeit mit den Augen des anderen zu sehen, und dass uns dies nicht ärmer macht, sondern unsere Sicht bereichert. Die wirkliche Liebe nach dem Maß der göttlichen Liebe erfordert die Wahrheit, und in der gemeinsamen Sicht der Wahrheit, die Jesus Christus ist, wird sie tief und fest. Dies ist auch die Freude am Glauben, die Einheit der Sicht in einem Leib und einem Geist. In diesem Sinn konnte der heilige Leo der Große sagen: »Wenn der Glaube nicht einer ist, ist er kein Glaube«.
Welches ist das Geheimnis dieser Einheit? Der Glaube ist erstens einer wegen der Einheit des erkannten und bekannten Gottes. Alle Glaubensartikel beziehen sich auf ihn, sind Wege, um sein Sein und Handeln zu erkennen. Sie besitzen deshalb eine Einheit, die jeder anderen überlegen ist, die wir mit unserem Denken bewerkstelligen können; sie besitzen die Einheit, die uns bereichert, weil sie sich uns mitteilt und uns eins macht.
Der Glaube ist sodann einer, weil er sich an den einen Herrn richtet, an das Leben Jesu, an seine konkrete Geschichte, die er mit uns teilt. Der heilige Irenäus von Lyon hat dies in Abgrenzung von den Häretikern der Gnosis klargestellt. Diese behaupteten, dass es zwei Arten von Glauben gäbe: einen rohen, unvollkommenen Glauben, den Glauben der Einfachen, der auf der Stufe des Fleisches Christi und der Betrachtung seiner Geheimnisse bleibt; und dann einen tieferen und vollkommeneren Glauben, den wahren Glauben, der einem kleinen Kreis von Eingeweihten vorbehalten ist und der sich mit dem Verstand über das Fleisch Christi hinaus zu den Geheimnissen der unbekannten Gottheit erhebt. Gegenüber diesem Anspruch, der weiterhin seinen Reiz ausübt und selbst in unseren Tagen seine Anhänger hat, bekräftigt der heilige Irenäus, dass der Glaube ein einziger ist, da er immer über den konkreten Punkt der Menschwerdung geht, ohne je das Fleisch und die Geschichte Christi zu überwinden, denn darin wollte Gott sich vollkommen offenbaren. Deswegen besteht kein Unterschied zwischen dem Glauben dessen, „der viel über ihn zu sagen weiß”, und dessen, „der nur wenig sagen kann”, zwischen dem Besseren und dem weniger Fähigen: weder kann der Erste den Glauben vermehren, noch der Zweite ihn verringern.
Schließlich ist der Glaube einer, weil er von der ganzen Kirche geteilt wird, die ein Leib und ein Geist ist. In der Gemeinschaft des einen Subjekts — der Kirche — erhalten wir einen gemeinsamen Blick. Da wir denselben Glauben bekennen, ruhen wir auf demselben Felsen, werden wir von demselben Geist der Liebe verwandelt, strahlen wir ein einziges Licht aus und sehen auf gleiche Weise die Wirklichkeit.
Da der Glaube einer ist, muss er in seiner ganzen Reinheit und Unversehrtheit bekannt werden. Gerade weil alle Glaubensartikel in Einheit verbunden sind, bedeutet, einen von ihnen zu leugnen, selbst von denen, die weniger wichtig zu sein scheinen, gleichsam dem Ganzen zu schaden. Jede Epoche macht die Erfahrung, dass einzelne Aspekte des Glaubens leichter oder schwieriger angenommen werden können: Deswegen ist es wichtig, wachsam zu sein, damit das ganze Glaubensgut weitergegeben wird (vgl. 1Tim 6,20), damit in angemessener Weise auf alle Aspekte des Bekenntnisses des Glaubens bestanden wird. Insofern die Einheit des Glaubens die Einheit der Kirche ist, heißt etwas vom Glauben wegnehmen in der Tat etwas von der Wahrheit der Gemeinschaft wegnehmen. Die Kirchenväter haben in Analogie zum Leib Christi und seinem Fortbestehen in der Kirche den Glauben als einen Leib mit verschiedenen Gliedern, als den Leib der Wahrheit beschrieben. Die Unversehrtheit des Glaubens wurde auch in Verbindung mit dem Bild der Kirche als Jungfrau gesehen, mit ihrer Treue in der bräutlichen Liebe zu Christus: Den Glauben zu beschädigen bedeutet, der Gemeinschaft mit dem Herrn Schaden zuzufügen. Die Einheit des Glaubens ist also die eines lebendigen Organismus. Das hat der selige John Henry Newman sehr schön hervorgehoben, als er unter den Kennzeichen zur Unterscheidung der Kontinuität der Lehre in der Zeit ihr Vermögen aufzählte, alles in sich zu assimilieren, was sie in den verschiedenen Bereichen, wo sie hingelangt, und in den verschiedenen Kulturen, denen sie begegnet, vorfindet. Dabei läutert sie alles und bringt es zu seinem besten Ausdruck. So zeigt sich der Glaube als universal, katholisch, da sein Licht zunimmt, um den ganzen Kosmos und die ganze Geschichte zu erleuchten.
Als Dienst an der Einheit des Glaubens und an seiner unversehrten Weitergabe hat der Herr der Kirche die Gabe der apostolischen Sukzession geschenkt. Durch sie wird die Kontinuität des Gedächtnisses der Kirche gewährleistet und ist es möglich, sicher aus der reinen Quelle zu schöpfen, aus der der Glaube kommt. Die Garantie der Verbindung mit dem Ursprung wird also von lebendigen Personen gegeben, was dem lebendigen Glauben entspricht, den die Kirche weitergibt. Er stützt sich auf die Treue der Zeugen, die vom Herrn für diese Aufgabe ausgewählt werden. Deshalb spricht das Lehramt immer in Gehorsam gegenüber dem ursprünglichen Wort, auf das sich der Glaube gründet; und es ist verlässlich, weil es dem Wort vertraut, das es hört, bewahrt und auslegt. In seiner Abschiedsrede an die Ältesten von Ephesus in Milet, die vom heiligen Lukas in die Apostelgeschichte aufgenommen wurde, bezeugt der heilige Paulus, den ihm vom Herrn anvertrauten Auftrag erfüllt zu haben, »den ganzen Willen Gottes zu verkünden« (Apg 20,27). Dank des Lehramts der Kirche kann dieser Wille unversehrt auf uns kommen und mit ihm die Freude, ihn vollkommen zu erfüllen.
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Aus: “Lumen fidei“, 3. Kapitel – “Ich überliefere euch, was ich empfangen habe”, Nrn. 47, 48, 49.
