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PAPST PIUS XII.: VON DER EINHEIT DER WELT – Das Programm des Papstes für eine internationale Friedensordnung

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III

SOLIDARITÄT, BRÜDERLICHKEIT UND LIEBE
ALS VORAUSSETZUNG DER EINIGUNG DER MENSCHHEIT

In den Äußerungen der Kirche über die unserer Zeit gestellten Aufgaben der Wiederherstellung eines gesunden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens und über die dazu notwendigen Reformen, betont sie immer eine grundlegende Wahrheit: daß zwei Reformen Hand in Hand miteinander gehen müssen: die Reform der Zustände und Einrichtungen und die Reform der Sitten und Gesinnungen.

Denn alle äußeren Ordnungen und Einrichtungen sind auf Sand gebaut, können die Menschen nicht befriedigen und müssen daher zerfallen, wenn die, die sie errichten, nicht von der richti­gen Gesinnung und sittlichen Verantwortung für das Wohl des Menschen erfüllt sind und wenn sie nicht von der inneren Zu­stimmung, von der Gesinnung derer getragen sind, die ihnen unterworfen sind. Eben weil äußere Ordnungen und Einrich­tungen nicht nur die äußere Lebensform der Menschen bestim­men, sondern den stärksten formenden Einfluß auf ihren Geist und ihre innere Haltung ausüben, ist es wichtig, daß der richtige Geist in ihnen wohnt, sie nach den richtigen Grundsätzen ge­baut und auf die wahren Bedürfnisse der Menschen und die rechte Rangordnung der Güter und Werte ausgerichtet sind. Des­wegen ist eine Reform unserer wirtschaftlichen, sozialen und nationalen wie internationalen Zustände und Einrichtungen dringlich. Es ist eine der großen Sorgen der Kirche, daß die heutige Menschheit, in einem mechanischen Fortschrittsglauben befangen, sich allzu leichtgläubig auf die eigengesetzliche Ent­wicklung der Wirtschaft und Technik verläßt, so als ob ihre höheren Güter: Friede, Eintracht, Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde — sich gleichsam als Nebenprodukt dieser ma­teriellen Entwicklungen von selbst ergeben würden, wenn man diesen nur freien Lauf ließe (vgl. auch den Abschnitt S. 43 ff. und das Zitat S. 23 über die Ziele und Aufgaben der Wirtschaft).

Es kommt also wesentlich auf den in den Einzelnen und der Gesellschaft herrschenden Geist, auf die Gesinnungen an. Aber diese wiederum dürfen nicht ins Innere des Menschen verschlos­sen bleiben (vgl. dazu auch den Abschnitt „Kirche und Kultur” S. 139 ff.). Sie müssen konkret gegen schlechte, ungerechte und un­menschliche Zustände und Einrichtungen kämpfen und sich für die Schaffung besserer einsetzen. Der Dienst an der Welt ist die Pflicht aller Menschen guten Willens; der Krebsschaden unserer Zeit ist die “Müdigkeit der Guten”.

Zuständereform und Gesinnungsreform stehen also in leben­diger Wechselwirkung. Man kann nicht unbedingt sagen, daß rein zeitlich gesehen die eine “das erste”, die andere das zweite” sein müsse. Da Gesinnungen sich auswirken wollen und Zu­stände und Einrichtungen sehr wohl vermögen, die Menschen zum Guten oder Schlechten zu beeinflussen, besteht ein unmittel­barer Zusammenhang zwischen ihnen. Wertmäßig aber ist die Gesinnung, die Tugend, das höhere Gut; sie kann schließlich auch ohne oder sogar gegen die entsprechenden Zustände und Einrichtungen bestehen — was umgekehrt auf die Dauer nicht der Fall sein kann. So ist sie also doch das Wichtigere und Ent­scheidende, und man kann in diesem Sinne sagen, daß sie und die Erziehung zu ihr das Erste” und Dringlichste (vgl. S. 62) ist. Das gilt umso mehr, als sie nicht nur die Lösung von fal­schen Einflüssen der Umwelt und ihre Überwindung, sondern auch die Überwindung falscher Kräfte im Innern des Menschen selber, sein Gefangensein in sich selber, in seine Charakteran­lagen, seine Triebe bewirken muß.

So stehen in den Aufrufen Pius’ XII. zur Einheit der Welt seine Mahnungen zur Erweckung der Gesinnungen, die ihre Einigung voraussetzt, an erster Stelle: der Gerechtigkeit, der Mäßigung, der Friedens- und Nächstenliebe, kurz der Solidari­tät. Ihr Fundament wiederum kann freilich nur ein religiöses sein: die Gottesliebe.

Wir stellen den Äußerungen des Papstes eine sehr anschau­liche Darstellung all der Kräfte voraus, die die Menschen beein­flussen und für die das Maß und die Norm der Unterscheidung in ihm selber in seinem sittlichen Charakter aufgebaut werden müssen.

Die vielfachen Hindernisse, die sich einer internationalen Völ­kergemeinschaft entgegenstellen und die sich mit dem Wachsen der Völkerzahl mehren, sind: die verschiedenen und oft entgegen­gesetzten, angeborenen oder erworbenen Anlagen, Anlagen vor­wiegend geistiger Natur oder vorwiegend körperlicher Art, die sich auf dem ganzen Gebiet des Verstehens, Empfindens und Handelns auswirken; ebenso die Fragen des Stammes und des Blutes, des Bodens und Klimas, der Erziehung und Gewohnheit, der Sprache, Geschichte und Kultur; alles das, was den einzelnen Menschen und das einzelne Volk umgibt und formt. Ebenso die Verhältnisse von Eigentum und Besitz, von Freiheit und wirt­schaftlicher Abhängigkeit, in denen ein Volk lebt oder zu leben gezwungen ist und die, wenn sie auch nicht die einzig bestim­mende Ursache sind, doch einen weitgehenden Einfluß auf sein ganzes Denken, Wollen und Handeln ausüben. Man nehme jene zahlreichen natürlichen Tendenzen oder Leidenschaften hinzu, die eine so große Bedeutung im täglichen Leben der Einzelnen haben. Obwohl auf Ziele gerichtet, die an sich berechtigt sind, besitzen sie in sich keinerlei Norm für Maß und Unterscheidung, sondern müssen eine solche von einer größeren Selbstbeherr­schung des Menschen selbst hernehmen, damit sie sich nicht in zersetzende Kräfte verwandeln: solche Tendenzen sind die Liebe zu sich selbst, das Verlangen nach Macht, der Trieb nach Aus­breitung, nach Angleichung und Aufsaugung.1

Mitten im Kriege schon erhob Pius XII. seine Stimme für einen “Kreuzzug des Geistes”. Er stützte seine Hoffnung auf das Erwachen eines neuen Geistes darauf, daß der schreckliche Anblick der Greuel des Krieges in allen Menschen guten Willens die Einsicht in die Notwendigkeit einer Umkehr von den fal­schen Wegen hervorrufen würde, die zu diesem schrecklichen Kriege geführt hatten, und ihren Willen zum tatkräftigen Han­deln aneifern würde. Sein Aufruf zielt dabei schon auf den Geist, in dem einmal der Frieden geschlossen wird: einen Geist der Weitsichtigkeit und Hochherzigkeit, Gerechtigkeit und Liebe, der sich mutig allen Racheinstinkten entgegenstellt und sich über sie erhebt.

Wir wissen wohl, wie groß die Schwierigkeiten sind, einen gerechten internationalen Frieden zu begründen, zu errichten und zu erhalten. Aber, wenn es jemals ein Ziel gab, würdig der Zusammenarbeit edler und großmütiger Geister, so ist es dieses Ziel. Es gilt mutig einen neuen geistigen Kreuzzug zu führen, in dem der Ruf wieder erschalle “Gott will es!”, einen Kreuzzug für reine und großmütige Herzen, um die Völker von den trü­ben Zisternen materieller und egoistischer Bestrebungen zurück­zuführen zur lebendigen Quelle des göttlichen Rechtes, das allein vermag, jene Sittlichkeit, jenen Edelmut und jene Beständig­keit zu schenken, deren Mangel sich immer mehr und mehr fühlbar macht, und zum großen Schaden der Nationen und der Menschheit sich auswirkt. Wir erwarten und hoffen, daß alle, die mit Uns durch das Band des Glaubens verbunden sind, jeder an seinem Platz, und in den Grenzen seiner Be­rufung, diesen Idealen, die zugleich die wirklichkeitsnahen Ziele eines Friedens in Gerechtigkeit und Liebe sind, Herz und Geist weit öffnen. So werden, wenn einmal der Sturm des Krieges zu Ende geht und verebbt, in allen Völkern und Na­tionen weitsichtige und von reiner Absicht erfüllte Geistesmän­ner erstehen, die mutig den finsteren Instinkten niedriger Rache die gestrenge und edle Majestät der Gerechtigkeit, der Schwe­ster der Liebe und Begleiterin echter Weisheit, entgegenzustellen wissen und vermögen.2

Man darf wohl sagen, daß sich die in diesem Aufruf enthal­tene Hoffnung des Papstes nach Ende des Krieges nicht erfüllt hat, kann aber auch nicht behaupten, daß sie ganz vereitelt wor­den sei. Denn es hat sich doch eine Elite von Menschen gebildet, die auf einen Neubau der Weltordnung hinarbeiten, deren Stimme unüberhörbar geworden ist und die gegen zähen Wider­stand und unter unendlichen Schwierigkeiten Schritt für Schritt auf den neuen Wegen vorwärts zu kommen versuchen.

Richtig aber bleibt, daß sich bei allzu vielen Gutgesinnten und bei allzu vielen, denen es nicht an Einsicht fehlt, eine Müdigkeit angesichts der Schwierigkeiten, eine Erschlaffung des Willens und ein Erkalten des Herzens angesichts der Mühen und Opfer dieser neuen Wege einstellt, daß sie sich innerhalb der Irrtümer einzurichten und resigniert mit dem Zustand der Welt abzufin­den versuchen. Die Besorgnis des Papstes einem solchen Zustand gegenüber äußert sich in einer Unermüdlichkeit seiner Rufe, Mahnungen und Warnungen; sie gewinnen gelegentlich eine Dringlichkeit, die bei der Abgewogenheit und Gemessenheit der gewöhnlichen kurialen Redeweise umso aufrüttelnder und er­schütternder den prophetischen Charakter seiner Predigt zeigen.

Wir wissen, daß ihr Sauerteig des Lebens sein wollt; doch Wir fürchten, daß das Fortdauern immer der gleichen Kämpfe, das Sichwiederholen immer der gleichen Wagnisse euch verleiten könnte, den Mut zu verlieren.

Laßt euch durch euren Vater und Hirten vor dieser Bedro­hung warnen. Wir möchten, daß die Stimme der Osterglocken euch zugleich mit der Freude, dem Frieden, der brüderlichen Liebe auch diese ernste Mahnung zuträgt: die Gefahr von heute ist die Müdigkeit der Guten! Schüttelt alle Erschlaffung ab; ent­faltet wieder die gewohnte Tatkraft. Nehmt euch den auferstan­denen Erlöser zum Beispiel, der den Tod für immer besiegt hat.3

*

Was nützte auch ein ständiges Erforschen der Wege Gottes, wenn man tatsächlich die Wege des Verderbens wählt und sich willenlos den Trieben der Natur überläßt? Was nützte es, zu wissen und auszusprechen, daß Gott unser Vater und die Men­schen Brüder sind, wenn man jedes Eingreifen Gottes in das private und öffentliche Leben fürchtet? Wozu dienen lange Er­örterungen über Gerechtigkeit, Liebe und Frieden, wenn der Wille von vornherein entschlossen ist, dem Opfer auszuweichen, wenn das Herz in eisiger Einsamkeit sich verschließt und nie­mand es wagt, die Mauer des trennenden Hasses zu durchbre­chen, um die Brüder in aufrichtiger Liebe zu empfangen? Ein solches Verhalten würde bei den Kindern des Lichts die Schuld nur noch mehr vergrößern, denn auch sie werden wenig Verzei­hung und Erbarmen finden, wenn sie weniger geliebt haben. Mit einer solchen Inkonsequenz und Trägheit hätte die Kirche in ihren Anfängen weder das Antlitz der Erde erneuert, noch sich so rasch ausgebreitet; sie hätte weder ihre segenspendende Tätigkeit durch die Jahrhunderte fortzusetzen vermocht, noch sich Bewunderung und Vertrauen der Völker erworben.

Bleibt euch stets bewußt, geliebte Söhne und Töchter, daß die Wurzel der heutigen Übel und ihre verhängnisvollen Folgen nicht wie in vorchristlichen Zeiten oder wie in heidnischen Län­dern unverschuldete Unkenntnis der auf die Ewigkeit hinge­ordneten Ziele des menschlichen Lebens ist oder auch Unkennt­nis der eigentlichen Wege, die dahin führen. Nein, heute ist es die Trägheit des Geistes, die Schlaffheit des Willens, die Kälte des Herzens. Die Menschen, die an solch geistlichem Siechtum daniederliegen, suchen sich zur Rechtfertigung ihres Verhaltens in die alte Finsternis einzuhüllen und sich mit alten und neuen Irrtümern zu entschuldigen. Es ist daher notwendig, auf ihren Willen einzuwirken.4

*

Angesichts der anhaltend kritischen Lage, die, wie Wir leider sagen müssen, jeden Augenblick sich in furchtbarer Weise ent­laden könnte, und deren tiefste Ursache in der religiösen Gleich­gültigkeit zu suchen ist, in dem moralischen Tiefstand des öffent­lichen und privaten Lebens, in der systematischen Vergiftung der einfachen Seelen, denen das Gift eingeträufelt wird, nachdem man ihnen den Sinn für die wahre Freiheit sozusagen einge­schläfert hat, können und dürfen die Guten nicht unbekümmert und untätig als stille Zuschauer einer nahen, alles umstürzenden Katastrophe ihr gewohntes Leben in den alten Geleisen weiter­führen…

Jetzt ist es Zeit, geliebte Söhne und Töchter, es ist wirklich Zeit, entscheidende Schritte zu unternehmen. Es ist Zeit, die verhängnisvolle Lethargie abzuschütteln. Es ist Zeit, daß alle Guten, denen das Schicksal der Welt am Herzen liegt, sich ein­ander nähern und sich aufs engste zusammenschließen. Mit dem Apostel wiederholen Wir: ‘Hora est jam nos de somno surgere’ (Röm. 13, 11) — Die Stunde ist da, vom Schlafe aufzustehen, denn es naht sich unsere Erlösung.

Es gilt eine ganze Welt von Grund aus umzuformen, sie aus einer verwilderten in eine menschlich edle, aus einer menschlich edlen in eine vergöttlichte Welt umzuwandeln, entsprechend den Heilsabsichten Gottes. Millionen von Menschen ersehnen eine Änderung des Kurses. Sie richten daher ihren Blick auf die Kirche Christi, die einzige erfahrene Lenkerin und Führerin, die infolge ihrer Achtung vor der menschlichen Freiheit sich an die Spitze eines so gewaltigen Unternehmens zu stellen vermag. Man fleht um ihre Führung mit offenen Worten. Ja noch mehr! Man weist hin auf das Meer von Tränen, auf die noch schmer­zenden Wunden, auf die endlos weiten Friedhöfe, die der be­waffnete Haß auf der ganzen Welt geschaffen.5

Es liegt also weithin nicht eine Not der Einsicht, der Erkennt­nis der Übel unseres Zustandes und der zu ihrer Bewältigung einzuschlagenden Wege vor, sondern eine Not des Willens: eine sittliche Not. Die Erschütterung der herkömmlichen Lebens­formen und -grundlagen hat nach Ansicht des Papstes etwas durchaus Positives: sie öffnet den Blick auf das Neue. Insofern ist sie “ein Geschenk Gottes”, das eine neue Bezeugung christ­lichen Geistes herausfordert. Zusammen mit dem oben zitierten Wort von der “Umformung der Welt von Grund auf” haben diese. Worte einen fast revolutionären Klang; dies Revolutio­näre ist aber nicht mehr oder weniger als das Revolutionäre, das die Botschaft des Evangeliums gegenüber jeder Geschichts­zeit notwendig haben muß. Es geht freilich nicht auf einen ge­waltsamen jähen Umsturz, sondern auf die Umformung, die als Umkehr und Bekehrung im Herzen der Menschen beginnt.

Der Papst geht also davon aus, daß die allgemeine Unsicher­heit und die Furcht vor neuen Zwistigkeiten und Kriegen, zu­sammen mit dem durch die neuen Entwicklungenn immer offen­sichtlicher werdenden gegenseitigen Aufeinander-Angewiesen­sein aller Lebensgebiete, aller Gesellschaftsschichten und -klassen und aller Menschen und Völker, einen natürlichen Ausgangs­punkt für die Bildung eines neuen Solidaritätsbewußtseins bilden kann. Er sagt das besonders auch der Arbeiterbewegung mit Hinsicht auf die Lehre vom Klassenkampf und den Staatsmän­nern und Politikern hinsichtlich ihrer Treuepflicht gegenüber abgeschlossenen Verträgen und abgegebenen Versprechungen. Doch genügt das nicht und hält nicht stand, wenn es sich nicht tiefer gründet: in dem Brudersein als Kinder des einen Vaters und der Verpflichtung vor dem göttlichen Quell alles Rechtes. In der Erlösungsordnung ist schließlich die Solidarität als Brü­derlichkeit begründet im Einssein in Christus. So hängt die Bru­derschaft aller Menschen und die Einheit der Welt im letzten an der Ausbreitung des Reiches Christi.

Unter der Oberfläche unbestreitbarer politischer und wirt­schaftlicher Schwierigkeiten verbirgt sich eine schlimmere seeli­sche und sittliche Not: die große Zahl der engen und kleinlichen Geister, der Egoisten und Erfolgsjäger, der Mitläufer, die sich aus Irrtum oder Kleinmut vom Schauspiel der großen Masse, von der Lautstärke der Meinungen, vom Rausche der Erregung überwältigen lassen. Von sich aus würden sie keinen Schritt fer­tig bringen, wie es doch die Pflicht lebendiger Christen ist, um, vom Geiste Gottes geführt, mit Festigkeit voranzuschreiten im Lichte der ewigen Wahrheiten und mit unverbrüchlichem Ver­trauen auf die göttliche Vorsehung. Hier liegt die eigentliche, die tiefste Not der Völker.

Gleich Termiten im Hause zernagt sie die Menschen von in­nen und macht sie unfähig für ihre Aufgabe, noch bevor es nach außen zutage tritt. Beschleunigt durch den Krieg, aber doch schon seit langem vorbereitet, sind in den Fundamenten der in­dustriell-kapitalistischen Ordnung wesentliche Änderungen ein­getreten. Seit Jahrhunderten dienende Völker bahnen sich den Weg zur Unabhängigkeit, andere, bisher Bevorzugte bemühen sich, auf alten und neuen Wegen ihre Stellung zu behaupten. Das immer stärkere und allgemeinere Verlangen nach sozialer Sicherung ist nur das Echo auf eine Lage der Menschheit, in der bei den einzelnen Völkern vieles, was durch Herkommen fest­begründet war oder schien, schwankend und unsicher gewor­den ist.

Warum also schafft die durch die Umstände hervorgerufene Gemeinsamkeit der Unsicherheit und Gefahr bei den einzelnen Völkern nicht auch das Bewußtsein der gegenseitigen Mitver­antwortlichkeit? Sind denn, so gesehen, die Sorgen des Arbeit­gebers nicht auch jene seiner Arbeiter? Ist nicht in jedem Volk die industrielle Produktion durch den wechselseitigen Einfluß ihrer Bestimmung mehr denn je mit der landwirtschafllichen Er­zeugung verkettet? Und ihr, die ihr teilnahmslos bleibt gegen­über den Nöten des Flüchtlings, des obdachlos Umherirrenden, solltet ihr euch nicht eins fühlen mit ihm, dessen trauriges Los von heute morgen das eurige sein kann?

Warum sollte diese Verbundenheit aller, die sich ohne Lebens­sicherheit und in Gefahr befinden, nicht für alle zum sicheren Wege werden, auf dem die Rettung kommen kann? Warum sollte dieser Geist der Solidarität nicht gleichsam zum Angel­punkt der sozialen Ordnung in ihren drei natürlichen Formen: der Familie, dem Eigentum und dem Staat, werden, um diese wieder, der Lage der Gegenwart angepaßt, ihrer organischen Zusammenarbeit zuzuführen? Der Lage der Gegenwart ange­paßt; denn diese ist trotz aller Schwierigkeiten ein Geschenk Got­tes, durch das sich unser christlicher Geist neu bezeugen soll.6

*

Es geht nicht nur um die Interessen der Arbeiterklasse und ihren Zutritt zur Ausübung voller Verantwortung, sondern um die Zukunft der ganzen menschlichen Gesellschaft. Die Arbeiter­bewegung kann sich nicht mit materiellen Erfolgen begnügen, mit einem vollkommeneren System von Garantien und Ver­sicherungen, mit einer erweiterten Einflußnahme auf das Wirtschaftsregime. Sie kann ihre Zukunfl nicht darin erblicken, daß sie in der Opposition zu anderen sozialen Klassen verbleibt oder in einer übertriebenen Einflußnahme des Staates auf die Einzel­persönlichkeiten ihr Heil sucht. Sie muß das zu verfolgende Ziel auf einer universellen Ebene sehen, wie sie die Enzyklika Qua­dragesimo anno dargelegt hat — in einer Sozialordnung, in der die materielle Prosperität das Ergebnis einer aufrichtigen Zu­sammenarbeit aller zum allgemeinen Wohl ist und als Stütze für höhere Werte dient, nämlich für die Kultur und vor allem die unlösliche Vereinigung von Geist und Gemüt.7

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Wer hätte nicht Furcht und Abscheu vor Streitigkeiten, Zwi­stigkeiten der Bürger, kriegerischen Zusammenstößen, die in Zukunft infolge der Gewalt neuer Waffen äußerst verheerend sein werden? Zu deren Fernhaltung begrüßen und loben Wir die Bemühungen, die dahin gehen, daß die Staaten durch immer fester geschlungene Bande zu einem Bund zusammenwachsen.

Ein solches Beginnen bricht aber leicht zusammen und ist auf lockeren Sand gegründet, wenn nicht überall auf Erden der Sinn für die brüderliche Verbundenheit aller herrscht, der das ge­genseitig gegebene und empfangene Treuwort heilig und unver­brüchlich macht, die Verträge stützt und die Gemeinschaften festigt. Nun beweisen aber Erfahrung und Leben ganz offenbar, daß die Menschen untereinander sich nicht als Brüder fühlen, wenn sie nicht alle sich als Kinder des gleichen Vaters fühlen. Nimmt man die Ehrfurcht vor dem höchsten Gesetzgeber und göttlichen Richter weg, dann bleiben Recht und Unrecht bloße Worte; dann wird das Sittengesetz beiseitegelassen; dann wagt und unternimmt gierige Bosheit jeglichen Frevel, wenn nichts zu fürchten ist; dann stürzen sich wie Ungeheuer in gegenseitigem Morden die Menschen aufeinander, deren einzige und so er­bärmliche Genugtuung darin besteht, zu wüten und den Lüsten zu frönen. Zu unserem Besten gereicht nur das, was Gott dient. So soll im Bereiche eines reinen Gewissens mit aller Kraft und Sorgfalt der Name des gegenwärtigen und liebenden Gottes ge­ehrt werden, denn der Weg zu wachsender Tugend und herr­lichem Fortschritt besteht darin, daß wir von den äußeren Din­gen uns zu inneren wenden und von diesen, ohne zu flüchten, zu den überirdischen aufsteigen.8

Von innen, vom Geist her müssen die Kräfle wachsen, die das Antlitz der Erde erneuern …

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Wenn es richtig ist, daß die Übel, an denen die heutige Mensch­heit leidet, wenigstens zum Teil wirtschaftliche Ursachen haben, im Kampf um eine gerechtere Verteilung der Güter, die Gott dem Menschen zu seinem Unterhalt und Fortschritt gegeben hat, so ist nicht weniger richtig: Die Wurzeln dieser Übel liegen noch viel tiefer, sie liegen darin, daß der religiöse Glaube und die sittliche Überzeugung mehr und mehr zerstört worden sind, je mehr sich die Völker von der Einheit der Glaubenslehre und des Sittengesetzes entfernt haben, die einstens durch die uner­müdliche und segensreiche Arbeit der Kirche gefördert wurde. Wenn eine künftige Erziehungsarbeit und Erneuerung an der Menschheit Erfolg haben soll, dann muß vor allem geistige und religiöse Erziehungsarbeit geleistet werden. Sie muß von Chri­stus als einzigem Fundament ausgehen; sie muß im Geist der Gerechtigkeit geleitet, im Geist der Liebe vollendet werden.9

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Die Erlösung der Welt wird wahrlich nicht eher vollendet werden, bis die Menschheit — den Lehren und dem Beispiel Christi folgend — einsieht, daß alle Menschen Kinder des einen Vaters sind, der im Himmel ist, daß sie dazu bestimmt sind, durch die Vereinigung mit Seinem göttlichen Sohn, den Er zur Erlösung für alle gesandt hat, wahre Brüder zu werden.

Nur diese Brüderschaft, zusammen mit dem höchsten Gefühl der persönlichen Würde, gibt dem Menschen die Versicherung der wahren Gleichheit, die erforderliche Grundlage für die Ge­rechtigkeit. Nur diese Brüderschafl garantiert die Gabe der wahren Freiheit in dem Genuß unserer Rechte und in der Erfül­lung unserer Pflichten, gehorsam gegenüber den Geboten, die der Allmächtige Gott und sein göttlicher Sohn für die Moral und Heiligkeit des menschlichen Lebens erlassen haben.

Nur diese Brüderschafl erweckt, nährt und belebt in den Her­zen der Menschen jene wahre Liebe, die den Druck und die Ge­walt verabscheut, die sich sowohl bei den Völkern als auch bei dem einzelnen über den Egoismus erhebt, die fähig ist, für das Allgemeinwohl Opfer zu bringen und freigebig vom Eigenen an die Mittellosen zu verteilen und den Leidenden behilflich zu sein.

Dies sind die Grundlagen, auf denen der Friede erbaut wer­den muß, ein Friede, der wahr und beständig, gerecht und von Dauer sein muß.10

Die folgenden Äußerungen des Papstes entfalten die Wahr­heit, daß zum Bestand der zu erstrebenden neuen Ordnung vor allem nötig ist, daß sie von wahrem Geist inspiriert ist.

Dazu reichen menschliche Mittel allein nicht aus;

dazu reichen auch keine Verträge und Abmachungen;

dazu reichen keine Institutionen, so wichtig und notwendig sie sind;

sie kann nicht allein von oben, von den Staatsmännern ge­schaffen werden ohne innere Zustimmung des Volkes;

der Widerstand gegen sie kann von dem Druck der Weltmei­nung am wirksamsten gebrochen werden, der Papst möchte mit­helfen sie zu bilden und zu erwecken.

Wir wissen wohl, daß menschliche Mittel nicht ausreichen, ein so hohes Ziel zu erreichen; es kommt zuerst darauf an, die Her­zen zu erneuern, die Leidenschaflen zu unterdrücken, den Haß zu beschwichtigen, die Normen der Gerechtigkeit wirklich in die Praxis zu überführen, eine gerechtere Verteilung der Reichtümer durchzuführen, die gegenseitige Liebe zu nähren und aller Tu­gend anzufeuern. Zur Erreichung dieses hohen Zieles kann nichts besser dienen und geeigneter sein als die christliche Religion.11

*

Auch die besten und vollständigsten Regelungen werden un­vollkommen und zu schließlichem Mißerfolg verurteilt sein, wenn die Leiter der Geschicke der Völker und diese selbst sich nicht immer mehr von jenem Geiste durchdringen lassen, von dem allein der tote Buchstabe der Paragraphen internationaler Verträge, Leben, Autorität und verpflichtende Kraft erhält: nämlich vom Geist eines tief innerlichen Verantwortungsgefühls, das die menschlichen Satzungen nach den heiligen und uner­schütterlichen Grundsätzen des göttlichen Rechts bemißt und wägt; es ist jener Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit (vgl. Matth. 5, 6), der in der Bergpredigt selig gepriesen wird, einer Gerechtigkeit, welche die sittliche Gerechtigkeit voraus­setzt, die erfließt aus jener allumfassenden Liebe, der Kernstück und Hauptziel christlicher Vollkommenheit ist, und die deshalb auch Brücken zu jenen schlägt, die nicht das Glück haben, un­seren Glauben zu teilen.12

*

Über den institutionellen Gesichtspunkt hinaus, der gleichsam das Gerüst des sozialen Lebens bildet, muß auch der Geist in Betracht gezogen werden, d. h. die Gesamtheit der seelischen Haltung, die unbedingt erforderlich ist, um eine wirksame Zu­sammenarbeit und ein dauerhaftes Verständnis überhaupt erst möglich zu machen: Achtung vor dem andern, der Wunsch, ihn besser kennenzulernen, ihm zu helfen, seinetwegen gewisse Opfer auf sich zu nehmen, weil man begriffen hat, daß niemals wirkliche Gegensätze zwischen echten Interessen, zumal sitt­licher und geistiger Art, von Personen und Gesellschaften be­stehen können.13

*

In letzter Zeit sind von den Völkern des Abendlandes be­trächtliche Anstrengungen gemacht worden, um Wege zu finden, die einen dauerhaften Frieden sichern. Die Staatsoberhäupter bieten alles auf, um die politischen, wirtschaftlichen und mili­tärischen Formeln zu finden, die die oft schwachen Bande zu stärken vermögen, die die Nationen miteinander verbinden. Diese Versuche haben zweifellos die größte Bedeutung. Doch sie setzen auf unterer Ebene, zwischen den Völkern selber, ein Ver­ständnis, ein gegenseitiges Einvernehmen voraus, das den Arbei­ten der führenden Männer als hinreichend feste Grundlage die­nen kann und eine ernsthafte Garantie für Beständigkeit bietet.14

*

Der Friede! Wer kann seinen Wert und seine Wohltaten be­schreiben? Möchten Wir in der Welt einen lebendigeren Wunsch nach ihm geweckt haben, so daß die Einzelnen und die Gemein­schaften von jetzt an bereit wären, zu seiner Erhaltung, seinem Schutz und seiner Festigung tiefergehendere und intimere Opfer zu bringen. Wie sehr wünschen Wir, daß der Druck der Welt­meinung die Widerstände und die unvernünftigen Versteifungen besiegt, überall die Notwendigkeit auferlegt, auch die schärf­sten Gegensätze freundschaftlich zu lösen, daß sie dazu zwingt, Schiedssprüche und Kompromisse zuzulassen, durch die so viele nicht wieder gut zu machende Übel vermieden werden könnten!15

Die einzigen Siege in der Welt, um die zu kämpfen sich lohnt, sind also die Siege über die bösen Geister des Hasses, des Miß­trauens, des reinen Nützlichkeitsdenkens und Eigennutzes, die die Beziehungen zwischen den Menschen und Völkern stören und zerstören. Es sind Siege, die zuerst in der eigenen Brust errungen werden müssen.

Es gibt einen Sieg, der Dividenden zahlt, sichere und hohe Dividenden. Es ist der Sieg über Haß und Mißtrauen, die Schranken aufrichten zwischen den Völkern, die einzig Frieden und Eintracht brauchen; der Sieg über eine skrupellose Gier, welche stufenweise die menschliche Vernunft stumpf machen kann gegen die Stimme der Menschenrechte und so die Saat des Konfliktes aussät daheim und draußen.

Was für eine Hilfe für die leidende Menschheit, wie ermuti­gend, wie weise würde es sein, wenn die Führer der Völker im Bewußtsein der heiligen Verantwortungen den kommenden Ge­schlechtern gegenüber am hohen Entschlusse mitwirken würden, die Hilfsmittel ihres Geistes und ihrer Industrie für die Errei­chung dieses Sieges einzusetzen. Das ist durchaus im Bereiche der Möglichkeit, wenn nur demütig das göttliche Gebot der Gerechtigkeit und der Liebe beobachtet wird. Möge Gottes lie­bende Gnade die Dunkelheit durchdringen, in welche mensch­liche Torheit den Menschen oft kommen läßt, und seinen Pfad erhellen, damit alle erkennen, was zu bleibender Eintracht und dauerhaftem Frieden führt.16

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Der Sieg über den Haß, der heute die Völker entzweit und folglich der Verzicht auf Systeme und Handlungsweisen, die den Haß immer neu schüren. Gegenwärtig aber sieht man in verschiedenen Ländern eine Propaganda am Werk, die ohne Hemmungen arbeitet und die vor offenbaren Fälschungen der Wahrheit nicht zurückschreckt, eine Propaganda, die Tag für Tag, ja fast Stunde für Stunde die gegnerischen Völker in fal­sches und beleidigendes Licht stellt. Wer ernstlich das Wohl des Volkes will, wer die geistigen und sittlichen Grundlagen einer künftigen Zusammenarbeit der Völker vor unberechenbaren Schäden zu bewahren wünscht, wird es als eine heilige Pflicht und eine hohe Aufgabe betrachten, im Denken und Fühlen der Menschen die natürlichen Ideale der Wahrhaftigkeit, der Ge­rechtigkeit und Höflichkeit, der Zusammenarbeit im Guten nicht preiszugeben, vor allem nicht das erhabene übernatürliche Ideal der Bruderliebe, das Christus der Welt gebracht hat.17

*

Der Sieg über das Mißtrauen, das heutzutage so lähmend auf das internationale Recht wirkt und jedes wahre Einvernehmen unmöglich macht. Wir müssen wieder zum Grundsatz zurück­kehren: Die Schwester der Gerechtigkeit ist die unverbrüch­liche Treue (Horaz, Od. 1, 24, 6-7); jene Treue in der Beob­achtung der Verträge, ohne die ein ruhig sicheres Zusammen­leben der Völker nicht möglich ist, vor allem nicht ein Neben­einander von mächtigen und schwachen Völkern. “Die Grund­lage der Gerechtigkeit, so sagt die alte römische Weisheit, ist die Treue, das heißt die Beständigkeit und Aufrichtigkeit in Ver­sprechungen und Verträgen” (Cicero, De officiis I, 7, 23).18

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Vertrauen: Dem Mitmenschen aus dem eigenen Volk schenkt ihr Vertrauen, solange er sich des Vertrauens nicht positiv un­würdig zeigt. Der Mitmensch ist euch Bruder und Schwester. Genauso müßt ihr den Angehörigen der anderen Nationen ge­genüberstehen. Auch hier heißt es nicht mit doppeltem Maß messen. Liebe zum Vaterland besagt nie und nimmer Mißachtung anderer Nationen, Mißtrauen oder Feindseligkeit ihnen gegenüber!19

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Zweifellos ist unerläßliche Vorbedingung für jedes friedliche Zusammenleben der Völker und gewissermaßen die Seele aller Rechtsbeziehungen zwischen ihnen das gegenseitige Vertrauen, die Zuversicht, daß alle Teile davon überzeugt sind, wie sehr Weisheit besser ist als Waffengewalt (Pred. IX, 18); daß man bereit ist, zu verhandeln und nicht zur Gewalt oder Gewaltan­drohung zu schreiten, wenn Verschleppung, Hindernisse, Ände­rungen oder sonstige Unstimmigkeiten vorliegen; denn derglei­chen braucht nicht notwendig von bösem Willen zu kommen, sondern kann in den gewandelten Verhältnissen und tatsäch­lichen Interessengegensätzen seinen Grund haben.20

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Der Sieg über den unheilvollen Grundsatz, daß Nützlichkeit die Grundlage und Maßregel des Rechtes ist, daß die Gewalt das Recht schafft. Das ist ein Grundsatz, der alle zwischenvölki­schen Beziehungen ins Wanken bringt, zum großen Schaden be­sonders jener Staaten, die entweder infolge ihres traditionellen Festhaltens an friedfertigen Methoden oder infolge ihrer gerin­geren Kriegsmacht mit den anderen nicht wetteifern können oder wollen. Man muß also zu einer ernsten und tiefen Sittlich­keit in bezug auf die Grundsätze der Völkergemeinschaft zurück­kehren. Das schließt natürlich nicht das Erstreben des ehrbar Nützlichen aus noch einen angemessenen und rechtmäßigen Ge­brauch der Machtmittel, wenn es gilt, heilige Rechte zu schüt­zen, die durch Gewalt bedroht sind, oder wenn es sich um Wie­dergutmachung erlittenen Unrechtes handelt.21

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Der Sieg über den frostigen Eigennutz, der im stolzen Be­wußtsein seiner Kraft nicht nur die Ehre und Unabhängigkeit der anderen Staaten, sondern auch die gerechte, gesunde und geordnete Freiheit der Bürger verletzt. An Stelle dieses Eigen­nutzes muß gemäß den Vorschriften der göttlichen Gesetze, eine ehrliche, rechtliche und wirtschaftliche Verbundenheit treten, eine brüderliche Zusammenarbeit der Völker, die dabei ihrer Selb­ständigkeit und Unabhängigkeit gewiß sind. Solange noch, be­dingt durch die harte Notwendigkeit des Krieges, die Waffen sprechen, können Wir kaum bestimmte Taten erwarten, welche die Wiederherstellung der sittlichen und rechtlich unveränder­lichen Rechte zum Ziele haben. Doch wäre es gut, wenn schon jetzt eine grundsätzliche Erklärung im Sinne ihrer Anerken­nung abgegeben würde. So würde die Unruhe und Verbitterung jener Menschen behoben, die sich in ihrem Dasein oder in der freien Entfaltung ihrer Tätigkeit bedroht oder verletzt fühlen.22

Der Kern aller Gesinnungen, aus denen heraus innere Zu­stimmung eine Ordnung der Gerechtigkeit und des Friedens allein beständig machen kann, ist die Liebe, die in ihrer höch­sten Form die brüderliche Liebe im Einssein mit Christus ist. Wo das Recht starr bleiben muß und das Beharren auf dem Recht den brüderlichen Blick auf die Lebensnot des Nächsten verdunkelt, da bricht sie diese Starrheit durch die Einführung des Prinzips der Billigkeit, die nicht nur dem Recht in seiner notwendigen Allgemeinheit, sondern auch der Situation mit ihrer nie ganz in allgemeine Normen zu fassenden Besonderheit gerecht wird (vgl. auch S. 24).

Der Papst spricht hier den tiefen Gedanken aus, daß die zu­sätzlichen Opfer und Lasten, die die Liebe auf sich nimmt, die Nachahmung der Knechtgestalt Christi sind, die er zum Dienste der Erlösung der Welt auf sich genommen hat. Im Wirken der Liebe breitet sich also durch die Christen sein Reich der Erlösung aus; die Königsherrschaft Christi in der dieser Weltzeit gemä­ßen Form. Der Liebesdienst des Christen an den Menschen und an den Ordnungen der Welt wäre danach die Form ihrer Teil­nahme am königlichen Priestertum ihres Herrn; denn der Knecht soll sich ja nicht über den Herrn setzen. Hier eröffnet sich wie­derum ein neuer überraschender Durchblick in die heilsgeschicht­liche Bedeutung der Einigung der Menschheit. Es wird auch aus­gesagt, daß die widergöttliche Herrschaft des Kriegsprinzips, unter der der Öffentlichkeitsanspruch der Kirche wirkungslos wird, so daß sie nicht auf das Ganze des Geschichtsverlaufs wirken kann, diesem heilsgeschichtlichen Sinn der Geschichte ab­solut widerspricht.. Die Kirche hat ihn eben nicht einfachhin in der Hand”; sie steht selber mit in der Dramatik des Kampfes zwischen Gott und dem Satan, in dem jeder Gläubige — auch als Einzelkämpfer in der Phalanx der Gotteskämpfer stehend ­seinen Beitrag zum Heil der Welt zu liefern hat.

Freilich ist es das Anliegen der Gerechtigkeit, die Normen jener Weltordnung, die erstes und hauptsächlichstes Fundament eines festgefügten Friedens ist, aufzustellen und unversehrt zu be­wahren. Doch kann diese allein die schwierigen Hindernisse nicht überwinden, die oft genug der Verwirklichung und Festi­gung des Friedens sich entgegenstellen. Wenn sich darum zur starr und scharf abgegrenzten Gerechtigkeit nicht die Liebe in brüderlichem Bunde gesellt, dann wird allzu leicht das geistige Auge vor Dunkelheit die Rechte des anderen nicht sehen kön­nen, das Ohr wird taub werden gegenüber der Stimme jener Billigkeit, die, wenn sie mit willigem und verständigem Bemü­hen untersucht wird, auch die verworrensten und schwierigsten Streitfälle in vernünftiger Ordnung lösen und beschwichtigen kann.23

*

Wenn Wir hier von Liebe sprechen, dann meinen Wir jene schöpferische, hochherzige Liebe, die Christus gebracht hat, die Liebe, die den göttlichen Erlöser um unseres Heiles willen bis in den Tod gedrängt hat: “Er hat mich geliebt und sich für mich dahingegeben”, die Liebe, die “uns drängt” und die das voll­bringt, daß “diejenigen, die leben, nicht mehr sich selbst le­ben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist”, jene Liebe, um deretwillen Christus “Knechtsgestalt” angenom­men hat, damit wir alle Brüder würden in Ihm, dem Erstgebo­renen, d. h. Söhne desselben Gottes, Erben desselben Reiches, berufen zur Freude derselben ewigen Glückseligkeit.24

*

Wenn endlich einmal der Geist der Menschen diese innige Liebe in sich aufnimmt und in ihr beharrt, dann wird ohne Zweifel dem Menschengeschlecht das Licht des Friedens leuchten. Der aufreizenden Leidenschaft des Zornes folgt dann die Ruhe verständiger Gesinnung, der formlos und zügellos gewordenen Streitsucht wohlwollend hilfsbereite Zusammenarbeit, der Feind­schaft die billige Hochachtung voreinander, in materiellen und geistigen Dingen, so daß eine ruhige Aufhellung einen solch schrecklichen Sturm der Gemüter verheißungsvoll ablöst.25

*

Die Triebkraft der christlichen Liebe liegt darin, daß die ka­tholische Lehre die Gewissen erzieht und lehrt, als Nächsten nicht bloß diesen oder jenen Menschen zu betrachten, sondern ein ganzes Volk; und nicht nur ein Volk, sondern die Menschen aller Völker, Brüder und Schwestern, die den gleichen Glauben an Christus bekennen und am gleichen eucharistischen Mahle teilnehmen; und nicht bloß die Brüder und Schwestern der glei­chen Mutter, der Kirche, sondern alle Menschen auf der ganzen Welt, die gemäß dem Gebot desselben einen Erlösers Achtung, Mitgefühl und Liebe verdienen. Diese Liebe, ohne die im Den­ken und Handeln der wahre Christ nicht einmal vorstellbar ist, bedeutet eine große Kraft gegen jeden nationalen Egoismus und für den Frieden der Welt. Sie war auch in den zwei letzten Weltkriegen da und tat viel, um die Übel und die Schrecken des Konftikts zu vermindern, aber den Lauf der Ereignisse zu hindern vermochte sie nicht. Nachdem die Kriegsmaschine ein­mal in Bewegung gesetzt war, konnte nur sie den Verlauf und den Ausgang bestimmen.26

*

Die Kraft [der Liebe] muß also in der Zeit des Friedens zum Einsatz gelangen, um dessen Festigkeit und Ausbreitung zu si­chern. Sie muß heute in jedem Katholiken von frühester Jugend an lebendig und bewußt sein. Sie muß in all ihren Formen er­weckt und genährt werden, in der Familie, in der Schule, in der Erziehung, im Volkslied, im Buch, im Film. Sie muß die Katho­liken der verschiedenen Länder und Erdteile einander näherbringen und sie in gemeinsamer Friedensaktion vereinen, wie es schon mit beachtlichem Erfolg geschieht. Die Kirche hat den Frieden nicht einfachhin in ihrer Hand, aber jene mächtige Kraft kann und darf sie nicht brachliegen lassen. Der Herr der Kirche wird ihr für eine so hohe Aufgabe die Hilfe seines Segens geben.27

Die Aufgaben in diesem Kampfe sind äußerst vielgestaltig; er ist an jedem Ort zu leisten, wo einer steht, sei seine Rolle ge­schichtlich klein oder groß. Sie ergeben ein “Gesamtgewicht”, das vielleicht dem Bösen in der Welt die Wage hält oder zumin­dest seinen Sieg, den allgemeinen Ruin der Menschheit aufhält. Es ist uns ja in der Schrift gesagt, daß die Herrschaft des Anti­christen, die einmal für kurze Zeit vor dem Endgericht eintreten wird, “aufgehalten” werden kann (2. Thess. 2, 1-7). So erhält hier wieder das Werk des einfachen, einzelnen Gläubigen eine heilsgeschichtliche Bedeutung — nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Kraft der Liebe Christi, in der er wirkt.

Deshalb mahnt der Papst ununterbrochen zum Vollzug der Liebestätigkeit, die auf jeder Ebene — von der psychologischen bis zur heilsgeschichtlich-eschatologischen — an der Einheit der Menschheit wirkt.

Die Botschaft der Tat und des Lebens ist die Verwirklichung der Botschaft des Wortes und der Lehre, so vielgestaltig wie Tat und Leben einer alles beherrschenden Idee sein können. Es ist an erster Stelle die christliche Liebe, d. h. die verwirklichte und gelebte Liebe Christi, der als Ihm selbst getan betrachtet, was aus Liebe zu Ihm dem Nächsten getan wird. Es ist die Liebe in ihren vielfachen Formen: in den Spitälern, in den Sanatorien, in den Altersheimen, in den Kindergärten, in den Zuftuchtsstät­ten für die Verlassenen, die Verirrten, die Versehrten, die Gei­stesgestörten. Die Liebe Christi, die nicht wartet, bis das Elend zu ihr kommt, die es vielmehr aufsucht, nicht nur in der Hei­mat, sondern auch in fremdem Lande. Die Liebe, die in kriege­rischen Auseinandersetzungen nicht unterscheidet zwischen Freund und Feind; die im Namen Christi die Pfleger, die Pfle­gerinnen und die Ärzte antreibt, sich mit der Sorgfalt von Brü­dern über den Verwundeten zu neigen, sei er nun Freund oder Feind. Die Liebe, die mit gleicher Bereitschaft ihre Dienste im Palaste des Reichen wie in der Hütte des Armen leistet.28

*

In welcher Weise aber wird diese Liebe zum wirksamen Werk­zeug für die friedliche Verständigung unter den Völkern? Vor allem kraft des Gesamtgewichtes der ungezählten Akte der Güte, die, wie auf einer Waage des Sittlichen, die passive Summe der Egoismen überwiegen oder wenigstens verhindern, daß diese zum allgemeinen Ruin führen. Wenn unter den Menschen ver­schiedener Völker in Hunderten und Tausenden von Fällen das Gute getan wird, so werden von beiden Seiten Fäden einträch­tiger Verständigung gewoben, so wird der Verzicht auf jede feindliche Auseinandersetzung vorbereitet.29

*

Ein überzeugter Christ darf sich nicht in einem bequemen und eigennützigen „Isolationismus” abkapseln, wenn er Zeuge der Not und des Elends seiner Brüder ist; wenn die Hilferufe der wirtschaftlich Schwachen an sein Ohr dringen; wenn er das Streben der Arbeiterklassen nach geregelteren und gerechteren Lebensbedingungen kennt; wenn er sich der Mißbräuche einer Wirtschaftsordnung bewußt ist, die das Geld über die soziale Verantwortung stellt; wenn er die Abirrungen eines sturen Na­tionalismus genau kennt, der die Verbundenheit der einzelnen Völker leugnet oder mit Füßen tritt, eine Verbundenheit, die jedwedem vielfältige Pflichten gegenüber der großen Völkerfamilie auferlege.30

*

Nichts ist in der Tat so geeignet, die unerläßlichen geistigen Voraussetzungen des Friedens zu schaffen, wie der Trost, der freigebig von Staat zu Staat, von Volk zu Volk über jede natio­nale Grenze hinweg gegeben wird, so daß auf allen Seiten die Gefühle von Rivalität und Rache besänftigt, die Herrschsucht gezügelt, die Idee einer privilegierten Absonderung verbannt wird und die Völker gerade durch ihr Unglück einander ken­nen, ertragen und unterstützen lernen; dann könnte sich über den Trümmern einer Zivilisation, die die Gebote des Evange­liums vergessen hatte, von neuem die christliche Gemeinschaft erheben, deren oberstes Gesetz die Liebe ist.31

*

Hört, all ihr Einzelnen und Völker, die ihr irgendwie die Möglichkeit habt, euern Brüdern zu Hilfe zu kommen, hört die Mahnung des Propheten: ‘Teile dein Brot mit den Hungrigen’ (Is. 58,7). Schaut auf das große Bild. Nicht nur die Hungrigen der Erde halten euch in diesem Augenblick ihre flehenden Hände hin. Christus selbst bittet euch um das Brot, welches seinen Ar­men fehlt. Jeden Bissen, den ihr ihnen gebt, habt ihr ihm gege­ben; jeden Bissen, den ihr ihnen verweigert, habt ihr ihm ver­weigert. Der Tag wird kommen, an dem das, was viele selbst jetzt noch nicht sehen wollen, vor den Augen aller offenbar werden wird, wenn der oberste Richter in der Herrlichkeit sei­ner Gerechtigkeit erscheint und vor der ganzen Menschheit sei­nen unwiderruflichen Richterspruch fällt. Dann werden die auf ewig unglücklich sein, in deren Ohren die schreckliche Verdam­mung erklingt: ‘Weichet von mir, ihr Verfluchten, denn ich war hungrig, und ihr habt mich nicht gespeist’ (Matth. 25,41-42).

Aber selig auf ewig werden die sein, die die unendlich holden göttlichen Worte vernehmen: ‘Kommet, ihr Gesegneten meines Vaters, denn ich war hungrig, und ihr habt mich gespeist ­denn was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan’ (Matth. 25, 34-40).32

___

III

1 Ansprache vom 13. 10. 1955 an das “Italienische Studienzentrum für internationale Versöhnung”; HK 10. Jhg., S. 127.

2 Ansprache vom 24. 12. 1939 an das Kardinalskollegium (Weih­nachtsbotschaft 1939); U.-G. 3664, S. 1879.

3 Ansprache vom 5. 4. 1953 bei Erteilung des Segens “Urbi et Orbi” von der Loggia der Peterskirche (Osterbotschaft 1953); HK 7. Jhg., S. 353.

4 Rundfunkbotschaft vom 10. 2. 1952 an die römischen Gläubigen; HK 6. Jhg., S. 268; U.-G. Nr. 650, S. 217.

5 wie 4; HK 6. Jhg., S. 267 f.; U.-G. Nr. 645, 647, S. 295 f.

6 Rundfunkansprache vom 23. 12. 1950 (Weihnachtsbotschaft 1950); HK 5. Jhg., S. 186; U.-G. Nr. 3673, 3674, 3675, 3676, S. 1884 ff. Ansprache vom 20. 11. 1955 an die Teilnehmer der 127. Sitzung des Verwaltungsrats der Internationalen Organisation der Arbeit; HK 9. Jhg., S. 150.

8 Apostolische Ermahnung vom 11. 2. 1949 an den Weltepiskopat zur Abhaltung von Votivmessen zur Sühne für den Frevel der Gotteshasser; HK 3. Jhg., S. 260.

9 Enzyklika “Summi pontificatus” vom 20. 10. 1939; U.-G. Nr. 61, 63, S. 29 f.

10 Brief vom 20. 12. 1949 an den Präsidenten der USA, H. S. Tru­man; HK 4. Jhg., S. 196 f.; U.-G. Nr. 3604, 3605, S. 1864.

11 Enzyklika “Mirabile illud” vom 6. 12. 1950 (Anordnung von Ge­beten für den Weltfrieden); HK 5. Jhg., S. 188; U.-G. Nr. 3629, S. 1858.

12 wie 2; U.-G. Nr. 3663, S. 1878.

13 Ansprache vom 30. 9. 1955 an den 12. Internationalen Kongreß der Städte und Gemeinden; HK 10. Jhg., S. 56.

14 Ansprache vom 18. 9. 1955 an die Teilnehmer der 5. Jahrestagung des “Congress of European-American Associations”; HK 10. Jhg., S. 105.

15 Ansprache vom 2. 3. 1956 an das Diplomatische Corps anläßlich seines 80. Geburtstages; HK 10. Jhg., S. 306.

16 Ansprache vom 10. 11. 1947 an eine Gruppe amerikanischer Sena­toren (am Vorabend des Waffenstillstandstages 1918); HK 2. Jhg., S. 161; U.-G. Nr. 3952, 3953, S. 2036 f.

17 Ansprache vom 24. 12. 1940 an das Kardinalskollegium (Weih­nachtsbotschaft 1940); U.-G. Nr. 3587, S. 1835.

18 wie 17; U.-G. Nr. 3588, S. 1835 f.

19 Ansprache vom 13. 9. 1952 an Mitglieder der “Pax-Christi”-Bewe­gung; HK 7. Jhg., S. 77; U.-G. Nr. 3882, S. 1998. 20

20 wie 9; U.-G. Nr. 56, S. 27.

21 wie 17; U.-G. Nr. 3589, S. 1836.

22 wie 17; U.-G. Nr. 3591, S. 1836.

23 Ansprache vom 9. 4. 1939 in St. Peter (Osteransprache 1939); U.-G. Nr. 3641, S. 1867.

24 wie 23; U.-G. Nr. 3642, S. 1867.

25 wie 23; U.-G. Nr. 3643, S. 1867 f.

26 wie 1; HK 10. Jhg., S. 129 f.

27 wie 1; HK 10. Jhg., S. 130.

28 wie 1; HK 10. Jhg., S. 129.

29 wie 1; HK 10. Jhg., S. 129.

30 Ansprache vom 24. 12. 1948 an das Kardinalskollegium (Weihnachtsbotschaft 1948); HK 3. Jhg., S. 164; U.-G. Nr. 4145, S. 2138.

31 Ansprache vom 24. 12. 1946 an das Kardinalskollegium (Weihnachtsbotschaft 1946); HK 1. Jhg., S. 277; U.-G. Nr. 3759, S. 1931.

32Rundfunkbotschaft vom 4. 4. 1946 an die Welt; HK 1. Jhg., S. 23; U.-G. Nr. 3421, S. 1747.
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Quelle: Herder-Bücherei Band 8



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