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Papst Pius XII.: Enzyklika SUMMI PONTIFICATUS

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Der geheime Ratschluß des Herrn1 hat Uns ohne Unser Verdienst die Würde und Bürde des höchsten Hirtenamtes in dem Jahre zufallen lassen, in dessen Verlauf die vom verewigten Papste Leo XIII. um die Jahrhundertwende und an der Schwelle eines Heiligen Jahres vollzogene Weihe des Menschengeschlechts an das Heiligste Herz des Welterlösers ihre vierzigste Wiederkehr feiern kann.

Mit welcher Freude, Ergriffenheit, innerster Zustim­mung haben Wir damals — ein junger Levit, der soeben sein Introibo ad altare Dei2 hatte sprechen dürfen — das Rundschreiben Annum Sacrum3 gleich einer Stimme vom Himmel begrüßt! Mit welcher Inbrunst erschlossen Wir Unser Herz den Gesinnungen und Absichten dieses wahrhaft von der Vorsehung gefügten Aktes eines Papstes, der die Höhen und Tiefen, die offenen und verschwiegenen Nöte seiner Zeit beherrschend überblickt! Wie sollten Wir daher nicht heute von heißem Dank gegen Gott erfüllt sein, der das Erstlingsjahr Unseres Hohenpriester­amtes mit jener bedeutungsreichen und teuren Erinnerung aus dem Erstlingsjahr Unseres Priestertums zusammen­fallen ließ? Wie sollten Wir nicht freudigen Herzens die Gelegenheit ergreifen, um die Huldigung vor dem König der Könige und dem Herrn der Herrscher4 gleichsam zum Staffel­gebet Unseres Pontifikats zu machen, im Geiste Unseres unvergeßlichen Vorgängers und in getreuer Verwirk­lichung seiner Ziele? Ja, in ihr sehen Wir Anfang und Zielpunkt Unseres oberhirtlichen Wollens und Hoffens, Unseres Lehrens und Wirkens, Duldens und Leidens, um alles ganz der Ausbreitung des Reiches Christi zu weihen.

Wenn Wir die äußeren Geschehnisse und geistigen Wandlungen dieser vierzig Jahre im Lichte der Ewigkeit überblicken, ihren Wert und Unwert wägen, dann er­schließt sich Unserem geistigen Auge immer mehr der religiöse Sinn jener Welthuldigung an Christus den König. Sie wollte in ihrer sinnbildlichen Kraft eine Mahnung sein, die Seelen läutern und erheben, innerlich festigen und wehrhaft machen und damit zugleich in seherischer Weisheit der Gesundung, der Würde, dem wahren Wohl jeder menschlichen Gemeinschaft dienen. Immer deutlicher offenbart sie sich als einer der großen Mahn- und Gnadenrufe Gottes an seine Kirche und darüber hinaus an eine Welt, die der Erweckung und Wegweisung nur allzu bedürftig war; an eine Welt, die dem Diesseitskult verfallen, in ihm sich immer hem­mungsloser verlor und in kaltem Nützlichkeitsstreben aufging; an eine Menschheit, in der wachsende Schichten sich dem Glauben an Christus und mehr noch der An­erkennung und Anwendung seines Gesetzes entwöhnt hatten; an eine Weltauffassung, der die Liebes- und Verzichtlehre der Bergpredigt, die göttliche Liebestat des Kreuzes ein Ärgernis und eine Torheit dünkten. So wie einst der Vorläufer des Herrn den Fragern und Suchern seiner Tage entgegenrief: Seht das Lamm Gottes!5, um ihnen zu sagen, daß der Erwartete der Völker6 uner­kannt in ihrer Mitte weile, so richtete hier der Stellvertreter Christi an die Verneiner, die Zweifler, die Unentschiedenen und Halben, die dem verherrlichten, in seiner Kirche fortlebenden und wirkenden Erlöser die Gefolgschaft weigerten oder mit dieser Gefolgschaft nicht letzten Ernst machten, sein hoheitsvolles und beschwörendes Seht da euren König!7

Aus der Verbreitung und Vertiefung der Andacht zum göttlichen Erlöserherzen, die in der Weihe des Menschengeschlechts an der Jahrhundertwende und weiter­hin in der Einführung des Christkönigsfestes8 durch Unsern unmittelbaren Amtsvorgänger ihre erhebende Krönung fand, ist unsagbarer Segen erflossen für unge­zählte Seelen — ein starker Lebensstrom, der die Stadt Gottes mit Freude erfüllt9. Welche Zeit bedürfte dieses Segens dringender als die gegenwärtige? Welche Zeit leidet inmitten alles technischen und rein zivilisatorischen Fort­schrittes so sehr an seelischer Leere, an abgrundtiefer innerer Armut? Kann man nicht auf dieses unser Welt­alter das entlarvende Wort der Geheimen Offenbarung anwenden: Du sagst: Ich bin reich, ich habe Überfluß und brauche nichts mehr. Und du weißt nicht, daß du elend und erbärmlich bist, arm, blind und bloß10.

Ehrwürdige Brüder! Kann es Größeres, Dringenderes geben, als solcher Zeit den unergründlichen Reichtum Christi zu verkünden11? Kann es Edleres geben, als vor ihr, die so vielen trügerischen Fahnen gefolgt ist und weiter folgt, das Königsbanner Christi zu entfalten, um der sieg­reichen Standarte des Kreuzes die Gefolgschaft auch der Abtrünnigen wieder zu gewinnen? Wessen Herz sollte nicht entbrennen in hilfsbereitem Mitleid angesichts all der Brüder und Schwestern, die durch Irrtum und Leidenschaft, durch Verhetzung und Vorurteile dem Glauben an den wahren Gott, der Froh- und Heilsbotschaft Jesu Christi entfremdet wurden? Welcher Streiter Christi — sei er Priester oder Laie — wird sich nicht zu gestei­gerter Wachsamkeit, zu entschlossener Abwehr aufgerufen fühlen, wenn er die Front der Christusfeinde wachsen und wachsen sieht? Muß er doch Zeuge davon sein, wie die Wortführer dieser Richtungen die Lebenswahrheiten und Lebenswerte unseres christlichen Gottesglaubens grund­sätzlich ablehnen oder doch tatsächlich verdrängen, wie sie die Tafeln der Gottesgebote mit frevelnder Hand zerbrechen, um an ihre Stelle neue Gesetzestafeln zu setzen, aus denen der sittliche Gehalt der Sinaioffenbarung, der Geist der Bergpredigt und des Kreuzes verbannt sind. Wer sollte nicht mit wehem Schmerz gewahren, wie solche Verirrung traurige Ernte unter denen hält, die in Tagen ruhiger Geborgenheit sich zur Gefolgschaft Christi zählten, die aber — leider mehr Namens- als Tatchristen — in der Stunde der Bewährung, der An­fechtung, des Leidens, der getarnten oder offenen Ver­folgung eine Beute des Kleinmuts, der Schwäche, des Zweifels, der Unentschlossenheit werden, und, von Angst erfaßt wegen der Opfer, die sie um des christlichen Glaubens willen bringen sollten, sich nicht ermannen können, den Leidenskelch der Christustreue zu trinken?

In solcher Umwelt und Geisteslage, Ehrwürdige Brüder, möge das bevorstehende Christkönigsfest, zu dem Wir das vorliegende Rundschreiben in Euer aller Hand hoffen, ein Gnadentag tiefgehender Erneuerung und Erweckung im Sinne der Herrschaft Christi sein! Ein Tag, an dem die Weltweihe an das göttliche Herz in besonders feierlicher Weise vollzogen werden soll an dem die Gläubigen aller Völker und Nationen hul­digend und sühnend sich um den Thron des Ewigen Königs scharen, um Ihm und seinem Gesetz, das ein Gesetz der Wahrheit und Liebe ist, den Schwur der Treue zu erneuern für Zeit und Ewigkeit. Es sei ein Gnadentag für die Getreuen, wo das Feuer, das der Herr auf diese Erde brachte, in ihren Herzen immer mehr zu heller, lauterer Flamme sich entfache; ein Gnadentag für die Lauen, Müden und Verdrossenen, an dem ihr kleinmütig gewordenes Herz im Geiste sich wieder erneuert und ermannt; ein Gnadentag auch für die, welche Christus noch nicht erkannt oder wieder verloren haben. Aus Millionen gläubiger Herzen soll das Gebet zum Himmel steigen: Das Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt12 möge ihnen den Weg des Heiles erhellen, seine Gnade möge in dem Herzen der Irrenden, das ja doch nicht zur Ruhe kommt, das Heimweh nach den ewigen Gütern erwecken; aus diesem Heimweh möge eine Heimkehr werden zu dem, der vom Schmerzensthron seines Kreuzes aus auch nach ihren Seelen dürstet und kein brennenderes Verlangen kennt, als auch ihnen Weg, Wahrheit und Leben13 zu sein.

Wenn Wir so diese Erstlingsenzyklika Unseres Pon­tifikats vertrauensvoll und hoffend unter das Zeichen Christi des Königs stellen, fühlen Wir Uns der einmütigen und freudigen Zustimmung der gesamten Herde des Herrn vollkommen gewiß. Die Erfahrungen, Sorgen und Prüfungen der Gegenwart wecken, steigern und läutern wie selten zuvor das katholische Gemeinschafts­gefühl. Sie haben in allen, die noch an Gott und Christus glauben, das Bewußtsein erzeugt, von einer gemeinsamen Gefahr gemeinsam bedroht zu sein.

Dieser Geist katholischer Verbundenheit, in der heu­tigen schweren Lage mächtig gesteigert, bedeutet zugleich Sammlung und Selbstbehauptung, Entschlossenheit und Siegeswillen. Sein Hauch war es, den Wir tröstlich und unvergeßlich gerade in jenen Tagen verspürten, da Wir zagenden Schrittes, aber voll Vertrauen auf Gott den Thron bestiegen, der durch den Tod Unseres großen Vorgängers verwaist war.

Lebendig bleibt in Uns die Erinnerung an die unzäh­ligen Beweise kindlicher Treue zur Kirche und zum Stellvertreter Christi, die anläßlich Unserer Wahl und Krönung Uns zuteil wurden und sich überaus feinfühlend, warmherzig und ungezwungen äußerten. Darum ergreifen Wir gern diese günstige Gelegenheit, um Euch, Ehr­würdige Brüder, und allen, die zur Herde des Herrn gehören, gerührten Herzens für diese Kundgebung zu danken. Es war wie der große Volksentscheid einer Friedensgemeinschaft, die dem Papsttum ihre Ehrfurcht, Liebe und unerschütterliche Treue bekundete, der gott­gewollten Sendung des Hohenpriesters und Oberhirten ihre Anerkennung zollte. Denn alle jene Kundgebungen wollten und konnten ja schließlich nicht Unsere arme Person meinen, sondern nur das höchste Amt, zu dem Uns der Herr erhoben hat. Wohl haben Wir von Anfang an die ganze Wucht der schweren Verantwortung gefühlt, die Uns mit der höchsten Gewalt von der göttlichen Vorsehung auferlegt ward; aber Wir fühlten Uns gestärkt, als Wir sehen durften, in welch großartiger und geradezu greifbarer Form die unlösbare Einheit der katholischen Kirche sich kundtat, die sich um den unerschütterlichen Felsen Petri nur um so fester zusammenschließt, ihre Mauern und Vorwerke nur um so höher auftürmt, je mehr der Übermut der Feinde Christi sich steigert.

Diese Weltkundgebung katholischer Einheit und über­natürlich-brüderlicher Verbundenheit der Völker um den gemeinsamen Vater mußte Uns um so hoffnungsreicher erscheinen, je beunruhigender bereits damals die äußeren Verhältnisse und die geistige Lage waren. Darum hat die Erinnerung an jene Stunden Uns auch getröstet, als Wir bereits in den ersten Monaten Unseres Pontifikats die Mühen, Sorgen und Prüfungen erfahren mußten, mit denen die Braut Christi ihren Weg über die Welt bestreut sieht.

Wir wollen auch nicht verschweigen, daß in Unserem Herzen ein starkes Echo ergriffener Dankbarkeit durch die Glückwünsche derer geweckt wurde, die zwar nicht zum sichtbaren Leib der katholischen Kirche gehören, die aber bei dem Adel und der Aufrichtigkeit ihres Herzens auch jene Gefühle nicht vergessen wollten, die sie in der Liebe zu Christi Person oder im Glauben an Gott mit Uns verbinden. An sie alle ergeht der Ausdruck Unserer Dankbarkeit. Wir empfehlen sie alle und jeden einzelnen von ihnen dem Schutz und der Führung des Herrn, und Wir versichern feierlich, daß nur ein Gedanke Unser Herz leitet: das Beispiel des Guten Hirten nachzuahmen, um alle zur wahren Glückseligkeit zu führen, damit sie das Leben haben und es in Fülle besitzen14.

Vor allem aber drängt es Uns, Unseren tiefempfundenen Dank auszusprechen für die Erweise ehrerbietiger Hul­digung, die Uns von Herrschern, Staatsoberhäuptern und öffentlichen Autoritäten jener Nationen zugekommen sind, mit denen der Heilige Stuhl freundschaftliche Beziehungen unterhält. Besonders freudig bewegt es Unser Herz, daß Wir in diesem Unserem ersten Rundschreiben an die Weltkirche zu jenen Staaten auch das geliebte Italien rechnen dürfen, in dem als in einem fruchtbaren Garten die Apostelfürsten den Glauben gepflanzt haben. Dank den Lateranverträgen, dem Werk der Vorsehung, nimmt es nunmehr einen Ehrenplatz in der Reihe der beim Apostolischen Stuhle amtlich vertretenen Länder ein. Gleich der Morgenröte friedvoller und brüderlicher Eintracht im Heiligtum wie im bürgerlichen Leben ging von diesen Verträgen die Pax Christi Italiae reddita15 aus. Das ist Unser Gebet zum Herrn, daß dieser Friede wie heiteres Himmelsblau das Gemüt des italienischen Volkes durchziehe, belebe, weite und machtvoll stärke: dieses Volk, das Uns so nahe steht, in dessen Mitte Wir denselben Lebensodem atmen. In zuversichtlichem Hoffen flehen Wir zu Gott, daß die Unserem Vorgänger und Uns so teure Nation, getreu ihrer ruhmreichen katholischen Vergangenheit, unter des großen Gottes mächtigem Schutz immer mehr die Wahrheit des Psalmwortes an sich erfahre: Glückselig das Volk, dessen Gott der Herr! 16

Die glückverheißende neue rechtliche und religiöse Lage, die jenes Werk für Italien und den ganzen katho­lischen Erdkreis geschaffen und besiegelt hat — und es soll in der Geschichte seine unaustilgbaren Spuren zurück­lassen — erschien Uns nie so gewaltig und einheits­schaffend als in jenem Augenblick, da Wir von der hohen Loggia der Vatikanbasilika zum ersten Male Unsere Arme ausbreiteten und Unsere Segenshand erhoben über Rom, den Sitz des Papsttums und Unsere vielgeliebte Geburtsstadt, über das mit der Kirche versöhnte Italien und über die Völker der ganzen Welt.

Wir sind Stellvertreter desjenigen, der in entscheidender Stunde vor dem Vertreter der höchsten irdischen Macht von damals das große Wort sprach: Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme17. Als solcher erachten Wir es gerade auch in unseren Tagen als besondere Pflicht Unseres Amtes, mit apostolischem Freimut der Wahrheit Zeugnis zu geben. Diese Pflicht umfaßt notwendig die Darlegung und Widerlegung der menschlichen Irrtümer und Vergehen, die erkannt werden müssen, wenn sie behandelt und geheilt werden sollen: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen18. In der Erfüllung dieser Unserer Sendung werden Wir Uns von irdischen Rücksichten nicht beein­flussen lassen; weder Mißtrauen und Widerspruch, Ab­lehnung und Unverständnis, noch die Furcht, mißver­standen oder falsch ausgelegt zu werden, kann Uns davon abhalten. Wir werden jedoch stets handeln beseelt von jener väterlichen Liebe, die selber mit den Schmerzen der Kinder leidend, ihnen das Heilmittel angibt, und Wir wollen Uns immerfort bemühen, das göttliche Vor­bild aller Hirten nachzuahmen, den guten Jesus, der Licht ist zugleich und Liebe: Die Wahrheit tätigen in Liebe19.

Am Eingang des Weges, der zur geistigen und sittlichen Not unserer Tage führt, steht der todbringende Versuch von nicht wenigen, Christus zu entthronen, die Ver­werfung des Gesetzes der Wahrheit, das er verkündete, des Gesetzes der Liebe, die der lebenspendende Odem seines Reiches ist. Die Königsrechte Christi wieder anerkennen, zurückfinden zum Gesetz seiner Wahrheit und seiner Liebe, das ist der einzige Weg der Rettung für den Einzelmenschen und die Gemeinschaft.

In dem Augenblick, Ehrwürdige Brüder, da Wir diese Zeilen schreiben, erreicht Uns die Schreckenskunde, daß das entsetzliche Unwetter des Krieges, das Wir mit Unserem ganzen Einsatz vergeblich zu beschwören suchten, doch ausgebrochen ist. Die Feder will Uns entsinken, wenn Wir an das abgrundtiefe Leid unzähliger Menschen denken, denen gestern noch am heimischen Herd der Sonnenschein eines bescheidenen Glückes leuchtete. Unser Vaterherz bangt in tiefer Betrübnis, wenn Wir ahnend vorausschauen, was alles aus der Drachensaat der Gewalt und des Hasses hervorwachsen mag, für die heute das Schwert die blutigen Furchen zieht. Aber gerade inmitten dieser apokalyptischen Vor­ausschau gegenwärtigen und zukünftigen Unheils erachten Wir es als Unsere Pflicht, die Augen und Herzen aller, in denen noch ein Funke guten Willens glimmt, mit wachsender Eindringlichkeit hinzulenken auf den Ein­zigen, von dem der Welt das Heil kommt — auf den Einzigen, dessen allmächtige und gütige Hand auch diesem Sturm Einhalt gebieten kann — auf den Einzigen, aus dessen Wahrheit und Liebe dieser in Irrtum und Eigensucht, in Streit und Haß verkrampften Menschheit die Erkenntnisse aufleuchten und die Gesinnungen sich entzünden können, die für eine Neuordnung der Welt im Geiste des Königtums Christi notwendige Voraus­setzung sind.

Vielleicht — Gott der Herr gebe es — ist diese Stunde höchster Not auch eine Stunde des Erkenntnis- und Gesinnungswandels für viele, die bisher in blindem Vertrauen die Wege zeitgängiger Massenirrtümer wan­delten, ohne zu ahnen, wie hohl und brüchig der Boden war, auf dem sie standen. Vielleicht werden viele, die für die Erzieherweisheit und die Erziehersorgen der Kirche kein Auge hatten, heute die kirchlichen Mahnungen begreifen, die sie in der Selbstsicherheit früherer Tage nicht beachteten. Die Not der Gegenwart ist eine Recht­fertigung des Christentums, wie sie erschütternder nicht gedacht werden kann. Auf einen gigantischen Gipfel­punkt widerchristlicher Irrtümer und Bewegungen sind aus ihnen unsagbar bittere Früchte gereift, und diese sprechen ein Verdammungsurteil, dessen Wucht jede bloß theoretische Widerlegung übertrifft.

Stunden so peinvoller Ernüchterung und Enttäuschung sind oft Stunden der Gnade — ein Vorübergehen des Herrn20, wo auf des Heilands Wort: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an21 sich Türen öffnen, die ihm sonst verschlossen waren. Gott weiß, mit welch verstehender Liebe, mit welch heiliger Hirtenfreude sich Unser Herz denen zuwendet, denen aus derart leidvoller Erkenntnis das heilsuchende und heilbringende Verlangen nach der Wahrheit Christi, nach der Gerechtigkeit und dem Frieden Christi erwächst. Und auch für die, denen solche Stunde der Erkenntnis noch nicht geschlagen, weiß Unser Herz nichts als Liebe und Unser Mund nichts als das Gebet zum Vater der Erleuchtung. Er möge ihrer Christus­fremdheit oder gar Christusfeindschaft ein Damaskuslicht aufleuchten lassen, wie es einst Saulus zum Paulus wandelte, und das so oft gerade in den trübsten Tagen der Kirche seine geheimnisvolle Kraft erwiesen hat.

Eine zusammenfassende lehramtliche Stellungnahme zu den Irrtümern der Gegenwart mag einem späteren, von den Bedrängnissen des äußeren Geschehens weniger beunruhigten Zeitpunkt vorbehalten bleiben; jetzt jeden­falls beschränken Wir Uns auf einige grundlegende Hinweise.

Die gegenwärtige Zeit, Ehrwürdige Brüder, hat zu den falschen Lehren der Vergangenheit noch neue Irrtümer gehäuft bis zu einem Grade, daß sie zu einem Ende mit Schrecken führen mußten. Vor allem liegt die eigentliche Wurzel der Übel, die in der modernen Gesellschaft zu beklagen sind, in der Leugnung und Ablehnung eines allgemein gültigen Sittengesetzes für das Leben des einzelnen und das Gesellschaftsleben, wie für die Bezie­hungen der Staaten untereinander: es herrscht heute weithin Verkennung oder geradezu Vergessen eines natürlichen Sittengesetzes.

Dieses natürliche Gesetz beruht auf Gott als seinem Fundament. Er ist der allmächtige Schöpfer und Vater aller, ihr höchster und unabhängiger Gesetzgeber, der allwissende und gerechte Vergelter der menschlichen Handlungen. Wo Gott geleugnet wird, da wird die Grundlage der Sittlichkeit erschüttert; die Stimme der Natur wird geschwächt, wenn nicht erstickt, jene Stimme, die auch den Ungebildetsten und selbst noch den unzivi­lisierten Wilden lehrt, was gut und was böse ist, erlaubt und unerlaubt, jene Stimme, die Verantwortlichkeit für die eigenen Taten vor einem höchsten Richter predigt.

Wenn man fragt, wie es zur Leugnung der Grundlage der Sittlichkeit gekommen ist, so lautet die Antwort: Es hat damit begonnen, daß man sich von der Lehre Christi entfernte, deren Bewahrer und Lehrer der Stuhl Petri ist. Vor Zeiten hat diese Lehre Europa seinen geistigen Zusammenhalt gegeben, und Europa, erzogen und ver­edelt durch das Kreuz, hat einen solchen Aufschwung genommen, daß es Erzieher anderer Völker und anderer Erdteile werden konnte. Durch ihre Entfernung von dem unfehlbaren Lehramt der Kirche aber sind nicht wenige getrennte Brüder so weit gekommen, daß sie selbst das Grunddogma des Christentums, die Gottheit des Erlösers, geleugnet und so den allgemeinen Auf­lösungsprozeß beschleunigt haben.

Als Jesus gekreuzigt wurde, brach eine Finsternis über das ganze Land herein22, wie der Heilige Bericht erzählt; ein schreckenerregendes Sinnbild dessen, was geschah und was geistigerweise dauernd wieder geschieht, wo immer der Unglaube in Blindheit und Selbstüberheblichkeit Christus aus dem Leben der Gegenwart, besonders aus dem öffentlichen Leben, tatsächlich ausgeschlossen und mit dem Glauben an Christus auch den Glauben an Gott verdrängt hat. Als Folge davon kamen die sittlichen Werte, nach denen in früheren Zeiten das private und öffentliche Tun beurteilt wurde, gleichsam außer Kurs; Mensch, Familie und Staat wurden dem wohltuenden und erneuernden Einfluß des Gottesgedankens und der kirchlichen Lehre durch die immer rascher fortschreitende, hochgepriesene Laisierung des gesellschaftlichen Lebens entzogen; und nun hat diese auch in Gegenden, wo viele Jahrhunderte hindurch die Strahlen der christlichen Kultur leuchteten, immer klarer, immer deutlicher, immer mehr beängstigende Anzeichen eines verderbten und verderblichen Heidentums wieder aufkommen lassen: Finsternis brach herein, als sie Jesus gekreuzigt hatten23.

Viele waren vielleicht bei der Trennung von der Lehre Christi sich nicht voll bewußt, daß ein luftiges Truggebilde schillernder Redensarten sie betört hatte, von Redensarten, die eine derartige Trennung als Be­freiung von der Knechtschaft ausgaben, in der man bisher zurückgehalten worden sei; weder sahen sie voraus, welch bittere Folgen es habe, den traurigen Tausch der Wahrheit, die frei macht, gegen den Irrtum, der knechtet, zu vollziehen; noch bedachten sie, daß, wer auf das unendlich weise und väterliche Gesetz Gottes und auf die einigende und erhebende Lehre von der Liebe Christi verzichtete, der Willkür einer armseligen, wandelbaren Menschenweisheit sich verschrieb: man redete von Fortschritt, und man machte Rückschritte; von Aufschwung, und man sank ab; von Aufstieg zur Mündigkeit, und man versklavte; man merkte nicht, wie vergeblich alles menschliche Bemühen ist, das Gesetz Christi durch irgend etwas ihm Gleiches zu ersetzen: Sie verfielen mit ihren Gedanken auf Nichtigkeiten24.

Der Glaube an Gott und an Jesus Christus wurde geschwächt, das Licht der sittlichen Grundsätze wurde in den Seelen verdunkelt, und so war die einzige und unersetzliche Grundlage jener Festigkeit und Ruhe, jener inneren und äußeren, privaten und öffentlichen Ordnung untergraben, die allein die Wohlfahrt der Staaten hervor­bringen und bewahren kann.

Gewiß, auch als durch gleiche, der christlichen Lehr­verkündigung entnommene Ideale Europa brüderlich verbunden war, fehlten Streitigkeiten, Wirren und Kriege nicht, .die es verwüsteten; aber wohl niemals wurde so fühlbar wie heute die verzagte Ratlosigkeit verspürt, die über der Möglichkeit eines Ausgleichs liegt; denn damals war eben jenes Bewußtsein von Recht und Un­recht, von Erlaubtem und Unerlaubtem lebendig, das Vereinbarungen erleichtert, während es den Ausbruch der Leidenschaften zügelte und den Weg zu einer Verständigung in Ehren offen läßt. Umgekehrt kommen heutzutage die Zwistigkeiten nicht nur vom Ansturm sich empörender Leidenschaften, sondern aus einer tiefen Krise des Geistigen, welche die gesunden Grundsätze der privaten und öffentlichen Gesittung verkehrt hat.

Unter den vielfältigen Irrtümern, die aus der Ver­nachlässigung und Verkennung der religiösen Gebote und sittlichen Grundsätze wie aus einem Giftquell hervor­brechen, wollen Wir zwei besonders Eurer Beachtung unterbreiten, Ehrwürdige Brüder, und zwar Irrtümer, die das friedliche Zusammenleben der Völker geradezu unmöglich oder wenigstens überaus schwankend und unsicher machen.

Der erste dieser gefährlichen Irrtümer, der heute weitverbreitet ist, liegt darin, daß man das Gesetz der Solidarität und Liebe zwischen den Menschen in Ver­gessenheit geraten läßt, jenes Gesetz, das sowohl durch den gemeinsamen Ursprung und durch die nämliche Vernunftnatur aller Menschen, gleichviel welchen Volkes, vorgeschrieben und auferlegt ist, wie auch durch das Opfer der Erlösung, das Jesus Christus am Altar des Kreuzes seinem himmlischen Vater für die sündige Menschheit darbrachte.

In der Tat erzählt die erste Seite der Schrift mit groß­artiger Einfachheit, wie Gott als Krönung seines Schöp­fungswerkes nach seinem Bild und Gleichnis den Menschen machte25; und ebenso berichtet sie, wie er ihn mit über­natürlichen Gaben und Vergünstigungen bereicherte und ihn so für ein ewiges und unaussprechliches Glück be­stimmte. Sie zeigt weiter, wie von dem ersten Paar die andern Menschen herstammen, und dann läßt sie mit unübertroffener Ausdruckskraft der Sprache deren Teilung in mannigfache Gruppen und die Verstreuung in die verschiedenen Teile der Welt folgen. Auch als sie sich von ihrem Schöpfer abwandten, hörte Gott nicht auf, sie als Söhne zu betrachten, die eines Tages nach seinem allbarmherzigen Plan noch einmal wieder in seiner Freund­schaft vereint sein sollten26.

Der Völkerapostel macht sich zum Künder dieser Wahrheit, welche die Menschen in einer großen Familie brüderlich eint, wenn er der griechischen Welt verkündet, daß Gott aus einem einzigen Stamm alle Geschlechter der Menschen hervorgehen ließ, damit sie die ganze Oberfläche der Erde bewohnten, und daß er die Zeit ihres Daseins und die Grenzen ihrer Wohnsitze bestimmte, auf daß sie den Herrn suchten27. Wunderbare Schau, die uns das Menschen­geschlecht sehen läßt in der Einheit eines gemeinsamen Ursprungs in Gott: Ein Gott und Vater aller, der da ist über allen, durch alles und in uns allen28; in der Einheit der Natur, bei allen gleich gefügt aus stofflichem Leib und geistiger, unsterblicher Seele ; in der Einheit des un­mittelbaren Ziels und seiner Aufgabe in der Welt; in der Einheit der Siedlung auf dem Erdboden, dessen Güter zu nutzen alle Menschen naturrechtlich befugt sind, um so ihr Leben zu erhalten und zu entwickeln; in der Einheit des übernatürlichen Endziels, Gottes selbst, nach dem zu streben alle verpflichtet sind; in der Einheit der Mittel, um dieses Ziel zu erreichen.

Der gleiche Apostel zeigt uns die Menschheit in der Einheit der Beziehungen zum Sohne Gottes, dem Eben­bild des unsichtbaren Gottes, in dem alle Dinge geschaffen sind: In ihm ist alles erschaffen29; in der Einheit der für alle durch Christus gewirkten Erlösung, durch Christus, der die zerbrochene ursprüngliche Freundschaft mit Gott durch sein heiliges und bitterstes Leiden wiederherstellte, indem er sich zum Mittler zwischen Gott und den Menschen machte: Denn es gibt nur einen Gott und einen Mittler zwischen Gott und den Menschen: den Menschen Christus Jesus30.

Eben dieser göttliche Heils- und Friedensmittler wollte nun jene Freundschaft zwischen Gott und der Menschheit noch inniger gestalten: daher ließ er in der weihevollen Stille des Abendmahlsaals, bevor er das Kreuzopfer vollbrachte, von seinen Gotteslippen Worte kommen, die mit hellem Klang durch die Jahrhunderte widerhallten und so Heldentaten der Liebe inmitten einer liebeleeren und haßzerrissenen Welt weckten: Dies ist mein Gebot: Liebet einander, wie ich euch geliebt habe31.

Es handelt sich hier um übernatürliche Wahrheiten, die tiefe Grundmauern und starke Bande der Einheit legen, einer Einheit, die vervollkommnet wird durch die Liebe zu Gott und zum göttlichen Erlöser, von dem alle das Heil empfangen zum Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit im Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes gelangen, zur Mannesreife, zum Vollmaß des Alters Christi32.

Im Lichte dieser rechtlichen und tatsächlichen Einheit des Ganzen der Menschheit fügen sich die Einzelnen nicht bindungslos aneinander wie Sandkörner; vielmehr einen sie sich in organischen, harmonischen und wechsel­seitigen Beziehungen (die mit dem Wandel der Zeiten verschiedenartige Formen annehmen können) entsprechend ihrem natürlichen und übernatürlichen Ziel und Antrieb. Daß die Völker sich entfalten und sich unterscheiden gemäß der Verschiedenheit von Lebens- und Kultur­bedingungen, ist nicht auf Spaltung der Einheit des Menschengeschlechts hingerichtet; die Völker sollen diese vielmehr durch die Mitteilung ihrer besonderen Gaben und durch den gegenseitigen Austausch ihrer Werte reicher und schöner gestalten; dies kann aber nur geschehen und im ganzen wirksam sein, wenn eine wechselseitige Liebe und eine lebendig gefühlte Zuneigung alle Kinder desselben Vaters und alle durch dasselbe Gottesblut Erlösten eint.

Die Kirche bewahrt mit größter Treue die erzieherische Weisheit Gottes. Daher kann sie nicht daran denken und denkt nicht daran, die für jedes Volk eigentümlichen Sonderwerte anzutasten oder minder zu achten, die von jedem mit empfindsamer Anhänglichkeit und mit begreif­lichem Stolz gehegt und als kostbares Vätergut betrachtet werden. Das Ziel der Kirche ist die Einheit im Über­natürlichen und in umfassender Liebe durch Gesinnung und Tat, nicht die Einerleiheit, die nur äußerlich und oberflächlich ist und gerade darum kraftlos macht. Die Kirche begrüßt freudig und begleitet mit mütterlichem Wohlwollen jede Einstellung und Bemühung für eine verständige und geordnete Entfaltung solcher eigen­gearteter Kräfte und Strebungen, die im innersten Eigen­sein jedes Volkstums wurzeln; Voraussetzung dabei ist nur, daß sie mit den Verpflichtungen nicht in Widerspruch stehen, die sich der Menschheit durch ihren einheitlichen Ursprung und durch die Einheitlichkeit ihrer gemeinsamen Aufgaben auferlegen. Diese grundsätzliche Regel ist der Leitstern im allumfassenden Apostolat der Kirche, wie ihr Wirken auf dem Missionsfeld nicht nur einmal zeigt. Ungemein viele Untersuchungen und bahnbrechende For­schungen sind das mit Opfern, Hingabe und Liebe ge­wirkte Werk der Glaubensboten aller Zeiten, Unter­suchungen und Forschungen, die darauf abzielten, das innere Verständnis und die Achtung vor verschieden­artigstem Kulturgut zu erleichtern und seine geistigen Werte zum Besten einer lebendigen und lebensnahen Verkündigung der Frohbotschaft Christi zu heben. Jed­wede Gebräuche und Gewohnheiten, die nicht unlösbar mit religiösem Irrtum und Aberglauben verknüpft sind, werden stets mit Wohlwollen geprüft und — wenn immer möglich — geschützt und gefördert. Gerade Unser unmittelbarer Vorgänger heiligen und verehrungs­würdigen Andenkens wandte derartige Richtlinien auf eine besonders heikle Angelegenheit an und traf groß­zügige Entscheidungen, die seinem Weitblick und seinem glühenden apostolischen Eifer ein hochragendes Denkmal setzen. Es ist nicht nötig, Ehrwürdige Brüder, zu erklären, daß Wir selbst ohne Zögern denselben Weg gehen wollen. Alle, ohne Ausnahme, die sich der Kirche anschließen, welcher Herkunft und welcher Sprache sie auch seien, sollen wissen, daß sie im Hause des Herrn, wo das Gesetz und der Friede Christi herrschen, gleiche Kindesrechte besitzen. Im Einklang mit diesen Grundsätzen der Gleich­heit verwendet die Kirche alle Mühe auf die Bildung eines hochstehenden einheimischen Klerus und auf die allmähliche Erweiterung der Reihen einheimischer Bi­schöfe. Gerade um diesen Unseren Absichten einen äußeren Ausdruck zu geben, wählten Wir das bevorstehende Christkönigsfest, um am Grabe des Apostel­fürsten zwölf Vertreter der verschiedensten Völker und Stämme zur bischöflichen Würde zu erheben.

Mitten in der Zerrissenheit und Gegensätzlichkeit, die die Menschheitsfamilie spalten, vermag diese feier­liche Handlung allen Unseren auf der weiten Welt ver­streuten Kindern laut zu künden, daß Geist, Lehre und Tun der Kirche nicht abweichen können von der Predigt des Völkerapostels: Zieht den neuen Menschen an, der das Bild des Schöpfers trägt und zu ganz neuer Erkenntnis führt. Da heißt es nicht mehr Heide oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Barbare oder Szythe, Sklave oder Freier: Christus ist alles und in allen33.

Man fürchte nicht, daß das Bewußtsein des umfas­senden brüderlichen Bandes, wie es die christliche Lehre nährt, und die ihr entsprechende Gesinnung in Gegensatz zur Anhänglichkeit an das Erbgut und an die Größe des eigenen Vaterlandes treten; man fürchte ebensowenig, daß dies alles sich hindernd in den Weg stellt, wenn es um die Förderung des Wohls und der berechtigten An­liegen der eigenen Heimat geht. Dieselbe Lehre zeigt nämlich, daß es bei der Übung der Liebe eine von Gott gefügte Ordnung gibt, und nach dieser muß man mit gesteigerter Liebe und mit Vorzug diejenigen umfassen und bedenken, die besonders eng mit einem verbunden sind. Auch der göttliche Meister zeigte durch sein Beispiel, daß er der Heimat und dem Vaterland in besonderer Weise zugetan war; er weinte ob der drohenden Ver­wüstung der Heiligen Stadt. Aber die begründete und rechte Liebe zum eigenen Vaterland darf nicht blind machen für die Weltweite der christlichen Liebe, die auch die andern und ihr Wohl im befriedenden Licht der Liebe sehen lehrt.

Wunderbar ist diese Lehre von der Liebe und vom Frieden. In hohem Maße hat sie zum bürgerlichen und religiösen Fortschritt der Menschheit beigetragen. Denn die von übernatürlicher Liebe beseelten Boten dieser Lehre begnügten sich nicht damit, das Land urbar zu machen und Krankheiten zu heilen; darüber hinaus wurde von ihnen der Boden eigentlichen Lebens ange­reichert, geprägt und emporentwickelt zu göttlichen Höhen; man nahm den Aufschwung zu den Gipfeln der Heiligkeit, wo alles und jedes im Lichte Gottes gesehen wird. Denkmäler und Heiligtümer erhoben sich, die bezeugen, zu welchen Geisteshöhen der christliche Gedanke den Aufstieg bahnt. Vor allem aber machten sie aus den Menschen, aus den Ungebildeten, aus den Starken und den Schwachen, lebendige Tempel Gottes und Rebzweige am selben Weinstock, an Christus. Man überlieferte den künftigen Geschlechtern die Schätze der Kunst und Wissenschaft des Altertums; aber vor alldem: man ließ sie teilhaben an jenem unaussprechlichen Ge­schenk der ewigen Weisheit, das die Menschen durch ein Band übernatürlicher Zusammengehörigkeit zu Brüdern vereint.

Ehrwürdige Brüder, das Außerachtlassen des Gesetzes der allumfassenden Liebe, die allein den Frieden sichern, den Haß ersticken und den Geist bösartigen Zwistes mäßigen kann, muß die Quelle schwerster Schäden im friedvollen Zusammenleben der Völker bilden. Nicht weniger unheilvoll aber erweisen sich für das Wohl der Nationen und den Fortschritt der großen menschlichen Gesellschaft, die in ihrem Schoß alle Völker umspannt, jene falschen Gedankengänge, nach denen die Staats­gewalt frei und unabhängig vom höchsten Wesen dastehen soll; und doch ist Gott die erste Ursache und das letzte Ziel des Einzelnen wie der Gesellschaft. Die Staatsgewalt soll keine Bindung an ein höheres Gesetz anerkennen, das aus Gott als der ersten Quelle erfließen würde; vielmehr billigt man ihr unbegrenzte Handlungsfreiheit zu und überläßt sie damit dem unsteten Wellengang der Willkür und ausschließlich den Forderungen schwankender geschichtlicher Ansprüche und zeitbedingter Interessen.

Damit verneint man die Herrscherhoheit Gottes und die verpflichtende Kraft seines Gesetzes. Mit unerbitt­licher Folgerichtigkeit greift dann die staatliche Gewalt nach jener unumschränkten Selbstherrlichkeit, die doch nur dem Schöpfer zusteht; sie sucht, sich an die Stelle des Allmächtigen zu setzen, erhebt den Staat oder die Masse zum letzten Ziel des Lebens, zur obersten Richt­schnur der sittlichen und rechtlichen Ordnung, und verbietet damit jeden Appell an die Grundsätze der natürlichen Vernunft und des christlichen Gewissens. Wir wollen nicht verkennen, daß abwegige Grund­sätze sich glücklicherweise nicht immer voll auswirken, besonders dann nicht, wenn jahrhundertealtes christliches Herkommen, von dem die Völker gelebt haben, noch tief, wenn auch nur unbewußt, in den Herzen verwurzelt ist. Dennoch darf man nicht vergessen, daß jede Richt­schnur des sozialen Lebens wesenhaft ungenügend ist und versagen muß, wenn sie nur auf rein menschlichen Grundmauern ruht, nur von irdischen Beweggründen sich leiten läßt und ihre ganze Kraft auf die Zwangsmittel einer rein äußeren Gewalt stützen will.

Wo die Abhängigkeit des menschlichen Rechtes vom göttlichen Recht geleugnet wird, wo man sich nur an die schwankende Idee einer rein irdischen Autorität wendet und eine Eigengesetzlichkeit fordert, die einzig auf dem Standpunkt der Nützlichkeitsmoral steht, dort fehlt einem solchen rein menschlichen Recht gerade bei seinen schwersten Anforderungen die sittliche Kraft ­und das nicht ohne Grund — denn die sittliche Binde­gewalt ist die wesentliche Voraussetzung dafür, daß ein Recht Anerkennung finden und auch Opfer fordern kann.

Es ist wohl richtig, daß eine Macht, die auf so schwachen und schwankenden Grundlagen ruht, manchmal unter gegebenen Umständen äußere Erfolge erreicht, die weniger tiefblickende Beobachter in Erstaunen setzen können; aber es kommt dann der Augenblick, wo das unaus­weichliche Gesetz doch triumphiert, das jedes Werk trifft, das aufgebaut ist auf dem verborgenen oder offenen Miß­verhältnis zwischen der Größe des materiellen, äußeren Erfolges und der Schwäche seines inneren Wertes und sittlichen Fundaments. Und dieses Mißverhältnis besteht immer dann, wenn die Staatsgewalt die Oberhoheit des obersten Gesetzgebers verkennt oder verleugnet. Er hat den Staatshäuptern die Gewalt gegeben, und er hat ihrer Gewalt die Grenzen bezeichnet und gezogen.

Die staatliche Herrschaftsgewalt ist vom Schöpfer gewollt — das hat mit hoher Weisheit Unser großer Vorgänger Leo XIII. in seinem Rundschreiben Immortale Dei34 dargelegt. Sie soll das gemeinschaftliche Leben nach den Richtlinien einer in ihren allgemeinen Grund­gesetzen unveränderlichen Ordnung regeln; sie soll der menschlichen Persönlichkeit in der natürlichen Ordnung die Erreichung der leiblichen, geistigen und sittlichen Vollkommenheit erleichtern und sie schließlich fördern im Streben nach ihrem übernatürlichen Ziel.

Es ist also das ausgezeichnete Vorrecht und die hohe Sendung des Staates, die private Tätigkeit der Einzelnen im nationalen Leben zu überwachen, zu fördern und zu ordnen, um sie einheitlich auf das allgemeine Wohl auszurichten. Das letztere kann jedoch nicht nach Willkür bestimmt werden, noch darf es seine Norm in erster Linie von der irdischen Wohlfahrt der Gesellschaft emp­fangen; es erhält sie vielmehr von der harmonischen Entwicklung und natürlichen Vervollkommnung des Menschen, dem die Gemeinschaft vom Schöpfer selbst als Mittel zugeordnet ist.

Den Staat als Endziel betrachten wollen, dem einfach alles unterzuordnen und zuzuweisen sei, würde schließ­lich notwendig einer wahren und dauerhaften Wohlfahrt der Völker schaden. Und das in jedem Fall, mag man dem Staat eine derart unbegrenzte Oberhoheit zugestehen als dem Bevollmächtigten der Nation, des Volkes oder auch einer einzelnen sozialen Klasse, oder mag der Staat selbst, unabhängig von jedweder Beauftragung, für sich als den unumschränkten Herrn ein derartiges Recht beanspruchen.

In der Tat, die Privatinitiative hat ihre innere, emp­findliche und verwickelte Gesetzmäßigkeit, die das Ver­wirklichen der ihr eigentümlichen Ziele sicherstellt. Wenn nun der Staat diese Privatinitiative an sich zieht und von sich aus ordnen will, so wird sie, gewaltsam losgetrennt von ihrem Mutterboden, nämlich von dem verantwortlichen Einsatz der Einzelperson, nur Schaden leiden, und zwar zum Nachteil des öffentlichen Wohls.

Auch die erste und wesenhafte Keimzelle der Gesell­schaft, die Familie, ihr Wohlsein und Wachsen, würde dann Gefahr laufen, lediglich unter dem Gesichtswinkel völkischer Kraft betrachtet zu werden. Damit aber würde man vergessen, daß Mensch und Familie durch ihre Natur vor dem Staat sind, und daß der Schöpfer beiden Kräfte und Rechte verliehen und eine Aufgabe zugewiesen hat, die unbezweifelbaren Naturforderungen entspricht.

Die Erziehung des kommenden Geschlechtes würde nicht mehr auf eine ausgeglichene Entwicklung des Körpers und aller geistigsittlichen Anlagen zielen, sondern auf die einseitige Ausbildung jener staatsbürgerlichen Tugenden, die man als notwendig zur Verwirklichung politischer Erfolge erachtet; jene Tugenden dagegen, die das gesellschaftliche Leben mit dem Feiergewand von Edelsinn, Menschlichkeit und Ehrfurcht umkleiden, würden weniger empfohlen, gleichsam als ob sie den Stolz des Staatsbürgers verminderten.

In schmerzlicher Klarheit stehen vor Unserm Blick, die Gefahren, die dem heutigen und kommenden Ge­schlecht aus der Verkennung, Verkürzung und fort­schreitenden Auslöschung der Eigenrechte der Familie erwachsen müssen. Darum erheben Wir Uns, im vollen Bewußtsein Unserer heiligen Amtspflicht, zu ihrem frei­mütigen Anwalt. Nirgendwo werden die äußeren und inneren, die materiellen und geistigen Nöte unserer Zeit so bis zur Neige verkostet, nirgendwo die vielfachen Irrtümer in ihren tausend Auswirkungen so bitter durch­litten, wie innerhalb der Klein- und Edelzelle der Familie. Ein richtiger Wagemut, ja ein Heldentum, das in seiner Schlichtheit dreifach achtunggebietend dasteht, die wach­sende Entbehrungen und fortschreitende Einengung zu tragen, die ein früher nie gekanntes Ausmaß erreichen und deren innerer Sinn und sachliche Notwendigkeit oft nicht zu ersehen sind. Wer in der Seelsorge steht, wer in die Herzen schauen kann, weiß um die heimlichen Tränen der Mütter, um den stillen Schmerz ungezählter Väter, weiß um die Bitternis, von der keine Statistik spricht, noch sprechen kann. Er sieht mit Besorgnis die Bitternis immer höher steigen und beobachtet, wie die Mächte der Umwälzung auf der Lauer liegen, um solche Stimmungen für ihre dunklen Ziele auszunützen. Niemand, der guten Willens und hellen Sinnes ist, wird in so außergewöhnlichen Zeiten der Staatsgewalt ein weitgehendes Notrecht verweigern wollen. Aber die von Gott gesetzte, sittliche Ordnung verlangt auch in solcher Lage die ernste, in gewissem Sinn sogar ver­schärfte Prüfung, ob derartige Maßnahmen sittlich erlaubt und vom wahren Gemeinwohl sachlich erfordert sind.

In jedem Falle — je größer die materiellen Opfer sind, die seitens des Staates von dem Einzelnen und der Familie verlangt werden: um so heiliger und unver­letzlicher müssen ihm die Rechte des Gewissens sein. Er kann Gut und Blut fordern, aber niemals die von Gott erlösten Seelen. Der Auftrag, den Gott den Eltern gab, für die materielle und seelische Wohlfahrt ihrer Kinder zu sorgen und ihnen eine ausgeglichene Erziehung im Geist echter Religiosität zu vermitteln, kann ihnen von niemand ohne schwere Rechtsverletzung entrissen werden. Diese Erziehung soll gewiß auch sein eine Erziehung «zum Staat hin», d. h. zur bewußten, gewissen­haften, freudigen Pflichterfüllung eines edlen Patriotismus, der dem irdischen Vaterland das ihm zukommende Vollmaß an Liebe, Hingabe und Mitarbeit schenkt. Eine Erziehung jedoch, die darauf vergäße oder gar bewußt unterließe, Auge und Herz der Jugend auch auf das ewige Vaterland zu lenken, wäre ein Unrecht an der Jugend, ein Unrecht an den unabdingbaren Erzieherrechten und Erzieher­pflichten der christlichen Familie — eine Grenzüber­schreitung, die nach Abhilfe ruft, gerade auch im Interesse des Volks- und Staatswohls. Mag sie denen, die dafür verantwortlich sind, vorübergehend als Quelle wahrer Kraft und Macht erscheinen; in Wirklichkeit wäre sie das Gegenteil und ihre bittern Auswirkungen würden das beweisen. Die Majestätbeleidigung gegen den König der Könige und den Herrn der Herrscher35, die in einer christusfremden oder gar christusfeindlichen Erziehung sich vollzieht, die Umkehr des Herrenwortes : Lasset die Kinder zu mir kommen36in sein Gegenteil, müßte bitterste Früchte tragen. Der Staat, der den blutenden, in Gewis­senskämpfen sich verzehrenden Herzen der christlichen Väter und Mütter ihre Sorgen abnimmt und ihre Rechte wiedergibt, baut nur an seinem inneren Frieden und an der Grundlegung einer glücklichen Zukunft des Vaterlandes. Die Seelen der Kinder, die Gott den Eltern schenkte, die in der Taufe mit dem Königszeichen Christi besiegelt wurden, sind ein heiliges Treuhandgut, über dem Gottes eifersüchtige Liebe wacht. Derselbe Christus, der gesagt hat: Lasset die Kinder zu mir kommen 37, hat — bei all seiner erbarmenden Güte — ein schneidendes Wehe gerufen über jene, die den Lieblingen seines Herzens Ärgernis bereiten. Und welches Ärgernis wirkt ver­nichtender und nachhaltiger auf ganze Geschlechter als eine Fehlleitung der Jugenderziehung in eine Richtung, die von Christus, der Weg, Wahrheit und Leben 38 ist, weg­führt in offenen oder getarnten Abfall von ihm? Dieser Christus, dem man die heutige und kommende Jugend zu entfremden sucht, er ist derselbe, der aus den Händen seines himmlischen Vaters alle Königsgewalt empfing im Himmel und auf Erden. Er trägt in seiner allmächtigen Hand das Schicksal der Staaten, der Völker und Nationen. Bei ihm steht es, ihr Leben, Wachsen, Gedeihen und ihre Größe zu kürzen oder zu verlängern. Von allem, was diese Erde trägt, ist nur die Menschenseele unsterblich. Ein Erziehungssystem, das den von Gottes heiligem Gesetz umfriedeten Bannkreis der christlichen Familie nicht achten, ihre sittlichen Grundlagen bedrohen, der Jugend den Weg zu Christus, zu den Lebens- und Freuden­quellen des Heilandes 39 versperren wollte, das gar den Abfall von Christus und seiner Kirche als Kennzeichen der Treue zum Volk oder einer bestimmten Klasse erachten wollte, würde sich selbst das Urteil sprechen und zu gegebener Zeit die unentrinnbare Wahrheit des Prophetenwortes an sich erfahren : Alle, die Dich verlassen, werden in den Staub geschrieben 40.

Die falsche Auffassung von der schrankenlosen Autorität des Staates, Ehrwürdige Brüder, ist nicht nur für das innere Leben der Nation, ihre Wohlfahrt und ihren geordneten Aufschwung verderblich, sondern schadet auch den Be­ziehungen der Völker untereinander, weil sie die über­nationale Gemeinschaft zerstört, dem Völkerrecht seine Grundlage und seine Bedeutung entzieht, zur Verletzung fremder Rechte führt und jedes Verstehen und friedliche Zusammenleben erschwert.

Die Menschheit ist zwar, gemäß der von Gott ein­gerichteten natürlichen Ordnung, in gesellschaftliche Gruppen, Nationen und Staaten geteilt, die voneinander unabhängig sind in Bezug auf Gestaltung und Leitung ihres Eigenlebens; zugleich ist sie aber auch durch gegenseitige sittliche und rechtliche Bindungen zu einer großen Gemeinschaft zusammengeschlossen, deren Ziel das Wohl aller Völker ist und die ihre Einheit und ihren Fortschritt durch besondere Gesetze schützt.

Es ist nun klar, daß die angebliche absolute Autonomie des Staates zu dieser naturgegebenen Rechtsordnung in offenem Widerspruch steht, sie geradezu leugnet, indem sie die Dauerhaftigkeit internationaler Beziehungen dem Ermessen der Regierenden überläßt und dadurch eine gesicherte Einigung und fruchtbare Zusammenarbeit zum gemeinsamen Wohl unmöglich macht. Soll es also, Ehrwürdige Brüder, ein dauernd friedliches Nebeneinander und fruchtbringende Verbindungen von Land zu Land geben, so ist dafür unerläßliche Voraussetzung, daß die Völker das die internationalen Beziehungen unterbauende Naturrecht anerkennen und danach handeln, durch das allein jene Verbindungen bestehen und sich auswirken können. Zu diesem Naturrecht gehört die Achtung der jeweiligen Rechte auf Unabhängigkeit, auf Dasein und auf Entwicklungsmöglichkeiten kultureller Art; dazu gehört ferner die Einhaltung der Verträge, die nach den Satzungen des Völkerrechts eingegangen worden sind.

Zweifellos ist unerläßliche Vorbedingung für jedes: friedliche Zusammenleben der Völker und gewissermaßen die Seele aller Rechtsbeziehungen zwischen ihnen das gegenseitige Vertrauen, die Zuversicht, daß alle Teile davon überzeugt sind, wie sehr Weisheit besser ist als Waffen­gewalt41 ; daß man bereit ist, zu verhandeln und nicht zur Gewalt oder Gewaltandrohung zu schreiten, wenn Verschleppung, Hindernisse, Änderungen oder sonstige Unstimmigkeiten vorliegen; denn dergleichen braucht nicht notwendig von bösem Willen zu kommen, sondern kann in den gewandelten Verhältnissen und tatsächlichen Interessengegensätzen seinen Grund haben.

Wollte man jedoch das Völkerrecht vom göttlichen Recht loslösen, um es auf den unabhängigen Willen der Staaten aufzubauen, so würde man es dadurch ent­thronen und ihm die vornehmste und stärkste Verankerung nehmen, und es der unseligen Dynamik privater Interessen und kollektiver Selbstsucht zu überantworten, die beide nur mehr die eigenen Rechte auf Kosten der Rechte anderer zur Geltung bringen wollen.

Es kann wohl geschehen, daß im Lauf der Zeit und unter wesentlich veränderten Umständen, die beim Ver­tragsabschluß nicht vorgesehen waren und vielleicht nicht vorhergesehen werden konnten, ein Vertrag oder einzelne Bestimmungen desselben wirklich oder scheinbar ungerecht, unausführbar, allzu drückend für einen Vertragspartner werden. Wenn ein solcher Fall eintreten sollte, müßte zeitig durch ehrliche Verhandlungen der Vertrag geändert oder durch einen neuen ersetzt werden. Aber von vorneherein Verträge als etwas Vorübergehendes ansehen und sich stillschweigend das Recht zu ihrer einseitigen Lösung vorbehalten, sobald es nützlich dünkt, hieße jegliches gegenseitige Vertrauen von Staat zu Staat zerstören. Das wäre das Ende der naturgewollten Ordnung, und es blieben nur mehr unüberbrückbare Trennungsgräben zwischen den Völkern und Nationen.

Heute, Ehrwürdige Brüder, blickt eine ganze Welt mit Grauen in den Abgrund, an den die von Uns gekennzeichneten Irrtümer und die aus ihnen geborenen prak­tischen Ergebnisse die Menschheit geführt haben. Die Trugbilder eines stolzen Fortschrittglaubens liegen am Boden. Wer auch jetzt noch nicht erwachen will, den müßte das Geschehen dieser Tage aufrütteln mit den Worten des Propheten: Ihr Tauben, hört, und ihr Blinden, schauet auf! 42 Was nach außen Ordnung schien, war nichts anderes als wachsende Verwirrung. Eine Ver­wirrung der sittlichen und rechtlichen Lebensgesetze, die sich von der Majestät des Gottesgesetzes gelöst und alle Bereiche der menschlichen Betätigung verseucht hatten. Aber lassen Wir das Vergangene. Schauen Wir in die Zukunft, in jene Zukunft, die nach den blutigen Kämpfen von heute eine neue Ordnung in Gerechtigkeit und Wohlfahrt bringen soll, wie uns die Mächtigen dieser Welt versprechen. Wird diese Zukunft andere, wird sie bessere Wege wandeln? Die Friedensschlüsse, die völkerrechtliche Neuordnung am Ende des nun entfesselten Krieges — werden sie wirklich von Gerech­tigkeit und Billigkeit gegen alle beseelt sein, werden sie die Menschheit befreien und befrieden, oder werden sie ausmünden in eine traurige Wiederholung alter und neuer Irrtümer? Von der bewaffneten Auseinandersetzung und ihrem Ergebnis allein eine entscheidende Besserung zu erhoffen, ist eitel ; das beweist die Erfahrung. Die Stunde des Sieges ist eine Stunde des äußeren Triumphes für jene, deren Fahnen er zufällt. Aber sie ist zugleich auch eine Stunde der Versuchung, wo der Engel der Gerechtigkeit ringt mit den Dämonen der Gewalt. Nur zu leicht verhärtet sich das Herz des Siegers; Maß­haltung und voranschauende Weisheit erscheinen ihm als Schwäche. Die lodernde Leidenschaft der Masse, durch Opfer und Leiden zur Glut entfacht, blendet oft auch das Auge der Verantwortlichen und läßt sie die mahnende Stimme der Menschlichkeit und Billigkeit überhören ; sie wird übertönt oder erstickt von dem mitleidlosen «Wehe den Besiegten!». Entschlüsse und Entscheidungen, aus solcher Stimmung erwachsen, würden Gefahr laufen, nichts zu sein als Unrecht unter dem Mantel der Gerechtigkeit.

Nein, Ehrwürdige Brüder, nicht von außen her wird den Völkern Rettung kommen. Das Schwert kann Frie­densbedingungen diktieren, aber keinen wahren Frieden schaffen. Von innen, vom Geiste her müssen die Kräfte wachsen, die das Antlitz der Erde erneuern. Nach den Bitternissen und Kämpfen der Gegenwart darf nicht wieder eine Neuordnung der Welt, des staatlichen und überstaatlichen Gemeinschaftslebens werden, die auf dem Flugsand immerfort sich wandelnder und vergehender Rechtsschöpfung steht und dem individuellen oder kol­lektiven Eigennutz überlassen bleibt. Ihr letzter und unerschütterlicher Felsgrund muß wieder das aus Natur und Offenbarung sprechende Gottesrecht werden. Von ihm allein kann dem menschlichen Gesetzgeber der Geist der Selbstbeherrschung, der helle Sinn für sittliche Ver­antwortung kommen, ohne den die Spanne zwischen dem berechtigten Gebrauch und dem Mißbrauch der Gewalt oft nur allzu kurz ist. Nur so werden seine Ent­scheidungen innere Stetigkeit, hehre Würde und religiöse Sanktion finden und nicht zum Spielball von Eigennutz und Leidenschaft werden. Wenn es richtig ist, daß die Übel, an denen die heutige Menschheit leidet, wenigstens zum Teil wirtschaftliche Ursachen haben, im Kampf um eine gerechtere Verteilung der Güter, die Gott dem Menschen zu seinem Unterhalt und Fortschritt gegeben hat, so ist nicht weniger richtig: Die Wurzeln dieser Übel liegen noch viel tiefer, sie liegen darin, daß der religiöse Glaube und die sittliche Überwindung mehr und mehr zerstört worden sind, je mehr sich die Völker von der Einheit der Glaubenslehre und des Sittengesetzes entfernt haben, die einstens durch die unermüdliche und segensreiche Arbeit der Kirche gefördert wurde. Wenn eine künftige Erziehungsarbeit und Erneuerung an der Menschheit Erfolg haben soll, dann muß vor allem geistige und religiöse Erziehungsarbeit geleistet werden. Sie muß von Christus als dem einzigen Fundament aus­gehen; sie muß im Geist der Gerechtigkeit geleitet und im Geist der Liebe vollendet werden.

Diese Wiedergeburt durchzuführen, unter Anpassung an die veränderten Zeiten und die neuen Bedürfnisse der Menschheit, ist recht eigentlich Aufgabe der Mutter Kirche. Ihr ist die Verkündigung der Frohen Botschaft von ihrem göttlichen Stifter übertragen. Hier wird den Menschen Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe eingeschärft. Dazu beitragen, diese Gesetze so fest als möglich in den Herzen und in den Gewissen verankern, das ist die ge­eignetste und vornehmste, die weitaus wirksamste Arbeit für den Frieden. Diese Aufgabe ist so gewaltig, daß die streitende Kirche menschlich gesprochen fast daran verzweifeln müßte. Aber an der Ausbreitung des Gottes­reiches zu arbeiten, in jedem Jahrhundert anders, mit neuen Mitteln, unter neuen und harten Kämpfen, ist ein Gebot, unter dessen heiligem Zwang jeder steht, den die Gnade des Herrn der Dienstbarkeit Satans ent­rissen und im Bade der Wiedergeburt zum Bürger seines Reiches umgeschaffen hat. Mitglied dieses Reiches sein, heißt seinem Geist entsprechend leben, heißt an seinem Wachstum arbeiten, seine Schätze auch denen erschließen, die noch nicht seine Glieder sind. Das besagt aber in unsern Tagen: ankämpfen müssen gegen Hindernisse und Widerstände, die in ausgeklügeltem System in die Breite und Tiefe angelegt sind wie nie zuvor; daher ist heute mehr denn je ein offenes, mutiges Glaubens­bekenntnis gefordert, Standhaftigkeit im Kampf, äußerste Opferbereitschaft. Wer im Geiste Christi lebt, den ent­mutigen die Schwierigkeiten nicht, vielmehr treiben sie ihn zu höchster Kraftanspannung und vollstem Gott­vertrauen an; der entzieht sich nicht den harten For­derungen des Augenblicks, sondern stellt sich ihnen und vollbringt seine Hilfeleistung mit jener Liebe, die vor keinem Opfer zurückschreckt, die stärker ist als der Tod, die sich nicht auslöschen läßt durch die reißenden Wasser der Trübsal.

Ein inniger Trost, eine beglückende Freude, für die Wir Gott dem Herrn Tag für Tag in tiefer Demut danken, ist es für Uns, Ehrwürdige Brüder, in allen Breiten der katholischen Welt unverkennbare Zeichen eines Geistes zu sehen, der den riesengroßen Aufgaben der Zeit mutig die Stirne bietet, der mit bewundernswerter Hochherzig­keit und entschlossenem Ernst darangeht, die erste und wesentliche Sorge um persönliche Selbstheiligung mit dem apostolischen Ringen um den Aufbau des Gottesreiches in fruchtbarem Ausgleich zu vereinen. Das von Unsern Vorgängern mit so viel Liebe gepflegte Werk der Eucha­ristischen Kongresse und die Mitarbeit der Laien, die in der Katholischen Aktion zum vertieften Bewußtsein ihrer hohen Sendung und Würde erzogen werden, schenken der Kirche in einem Moment gesteigerter Bedrohung und verstärkter Beanspruchung Gnadenquellen und Kraft­reserven, die in dem zwischen Christentum und Anti­christentum entbrannten Kampf nicht hoch genug ein­geschätzt werden können.

In einem Zeitpunkt, da zwischen Priesterzahl und Priesteraufgaben ein Mißverhältnis besteht, das dem Worte Christi: Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige43, einen sorgenschweren Sinn gibt, bedeutet die zahlreiche, eifrige und hingebende Mitarbeit der Laien am hierar­chischen Apostolat eine wertvolle Hilfe für die Priester und zeigt Entfaltungsmöglichkeiten, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Das Gebet der Kirche zu dem Herrn der Ernte, er möge Arbeiter in seinen Weinberg senden44, ist in einer Weise erhört worden, die den For­derungen der Gegenwart entspricht und die eine Ergän­zung der vielfach eingeengten priesterlichen Seelsorge ermöglicht. Eine einsatzbereite Front katholischer Männer und Frauen, Jungmänner und Jungfrauen widmet, dem Ruf des obersten Hirten folgend, in Unterordnung unter die Bischöfe diesem Apostolat die ganze Glut des Herzens und müht sich, den Massenabfall von Christus in eine Massenheimkehr zu Christus zu wandeln. Ihnen allen gilt in diesem für die Kirche und die Menschheit so bedeutungsvollen Augenblick Unser väterlicher Gruß, Unser bewegter Dank, Unsere vertrauensvolle Hoffnung. Sie haben in Wahrheit ihr Leben und Schaffen unter das Banner Christi des Königs gestellt. Sie können mit dem Psalmisten sprechen: Meine Werke gehören dem König45. Der Ruf: Zu uns komme Dein Reich! — ist nicht nur Sehnsuchtsziel ihres Betens, sondern auch Leitstern ihres Handelns. In allen Klassen, Berufsschichten und Gruppen macht diese Zusammenarbeit zwischen Priestern und Laien wertvolle Energien frei und weist ihnen Aufgaben zu, wie sie edle und treue Herzen ehrender und beglückender nicht erhoffen können. Diese apostolische Arbeit, im Geiste der Kirche geleistet, weiht auch den Laien gewisser­maßen zum Diener Christi, wie es der hl. Augustinus mit folgenden Worten erklärt: «Meine Brüder, wenn ihr den Herrn sagen hört: Wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein46, so dürft ihr nicht nur an die guten Bischöfe und Geistlichen denken. Auch ihr dient ja in eurer Weise Christus, indem ihr heilig lebt, Almosen spendet und Christi Namen und Lehre so viel als möglich verkündet. Jeder Familienvater sei schon auf Grund dieses Namens sich bewußt, daß er seine Familie in väterlicher Güte umfangen soll. Um Christi und um des ewigen Lebens willen möge er alle die Seinen ermahnen, belehren, auf­muntern und zurechtweisen; er zeige ihnen ein gutes Herz, aber sehe auch auf ernste Zucht; so wird der Hausvater in seinem Heim ein kirchliches, ja geradezu ein bischöfliches Amt erfüllen, indem er Christus dient, um auf ewig auch bei Christus zu sein.»47

Bei der Förderung dieses heute so wichtigen Laien­apostolates fällt eine besondere Sendung der Familie zu. Der Geist der Familie ist für den Geist des jungen Geschlechtes entscheidend. Solange am heimischen Herd die heilige Flamme des Christusglaubens brennt, solange Vater und Mutter das Leben ihrer Kinder nach diesem Glauben formen und prägen, wird es immer wieder Jugend geben, die bereit ist, die Königsrechte des Erlösers anzuerkennen und jedem Widerstand zu leisten, der diesen Erlöser aus der Öffentlichkeit verbannen oder in seine Rechte frevelnd eingreifen will. Wo die Kirchen geschlossen, wo von den Wänden der höhern und niedern Schulen das Bild des Gekreuzigten entfernt wird, bleibt die Familie der providentielle, in einem gewissen Grade unangreifbare Zufluchtsort christlicher Glaubensgesinnung. Und — Gott sei es gedankt! — unzählige Familien erfüllen diese ihre Sendung in unbeirrbarer Treue, die allen An­fechtungen und Opfern trotzt. Jugend aus beiden Ge­schlechtern, in großer Zahl — auch in solchen Ländern, wo das Bekenntnis zu Christus Leid und Verfolgung bedeutet — harrt aus am Throne des Erlöser-Königs mit jener ruhigen und sicheren Entschlossenheit, die an die ruhmreichsten Zeiten der kämpfenden Kirche erinnert. Welche Ströme des Segens könnten sich über die Welt ergießen, wieviel Licht, Ordnung und Befriedigung in die verschiedenen Bereiche des Gemeinschaftslebens ein­ziehen, wieviel kostbare, ja unersetzbare Kräfte könnten für die großen Aufgaben und Ziele der Menschheit nutzbar gemacht werden, wenn man der Kirche, der berufenen Lehrmeisterin von Gerechtigkeit und Liebe, freie Bahn gäbe, auf die sie kraft ihres Gottesauftrages ein heiliges, unbestreitbares Recht besitzt! Wieviel Unheil könnte verhütet, wieviel Glück und Zufriedenheit geschaffen werden, wollte die soziale und übernationale Friedens­arbeit sich von den starken Antrieben des Evangeliums christlicher Liebe im Kampf gegen individuellen und kollektiven Eigennutz lenken lassen!

Die Gesetze, die das Leben der gläubigen Christen ordnen, und die Forderungen wahren Menschentums widersprechen sich nicht, sondern stützen sich gegen­seitig. Im Interesse der leidenden, in ihrem materiellen und geistigen Gefüge tief erschütterten Menschheit haben Wir keinen sehnlicheren Wunsch, als diesen: die Not der Gegenwart möge vielen die Augen öffnen, damit sie Christus den Herrn und die Sendung seiner Kirche in der Welt im wahren Lichte sehen, und alle Machthaber mögen sich entschließen, für die welterzieherischen Auf­gaben der Kirche im Sinne der Gerechtigkeit und des Friedens die Bahn freizugeben. Voraussetzung für diese Friedensarbeit ist, daß der Kirche bei der Ausübung der ihr von Gott anvertrauten Sendung keine Hindernisse in den Weg gelegt werden; daß man ihr Betätigungsfeld nicht einengt und nicht die Massen, besonders die Jugend, ihrem segensreichen Einfluß entzieht. Als Stellvertreter dessen, der vom Propheten Fürst des Friedens 48 genannt worden ist, wenden Wir Uns daher an die Lenker der Völker und an alle, die auf das öffentliche Leben Einfluß besitzen, damit sich die Kirche in voller Freiheit ihrer Erziehungsaufgabe widmen könne, indem sie die Wahrheit verkündigt, die Gerechtigkeit einschärft und die Herzen mit der göttlichen Liebe Christi erneuert.

Auf die Ausübung dieser ihrer Mission, die als Endziel hier auf Erden den göttlichen Plan verwirklichen will, alles in Christus zu erneuern, was im Himmel und auf Erden ist 49, kann die Kirche niemals verzichten; umso weniger heute, wo ihre Arbeit notwendiger denn je erscheint, da die traurige Erfahrung lehrt, daß äußere Mittel, mensch­liche Vorsorge und politische Maßnahmen allein außer­stande sind, der bedrängten Menschheit wirksame Erleich­terung zu bringen.

Gerade weil die menschlichen Auskunftsmittel leider die Stürme abzuwenden nicht im Stande waren, die unsere Kultur in ihren Wirbel reißen, wenden viele erneut voll Hoffnung ihren Blick zur Kirche, dem Hort der Wahrheit und Liebe, zum Stuhle Petri, von dem, wie sie fühlen, der Menschheit jene Einheit des Glaubens und des Sittengesetzes wiedergeschenkt werden kann, die zu anderer Zeit den friedlichen Beziehungen der Völker Dauer und Festigkeit verlieh; eine Einheit, nach der nicht wenige für die Geschicke der Völker verant­wortlichen Staatsmänner mit schmerzlicher Sehnsucht Aus­schau halten: sie müssen es ja Tag für Tag erfahren, wie sehr die Mittel versagen, auf die sie einstens ihre Hoffnung setzten. Eine Einheit, auf welche die Scharen, groß an Zahl, Unserer eigenen Kinder harren, die täglich den Gott des Friedens und der Liebe anrufen50. Eine Einheit; die so viele edle Geister herbeisehnen, die zwar nicht zu Uns gehören, die aber doch in ihrem Hunger und Durst nach Gerechtigkeit und Frieden ihr Augenmerk auf den Stuhl Petri richten, von wo sie Führung und Rat erhoffen.

Was sie an der katholischen Kirche achten, ist die sichere Festigkeit, mit der die Kirche durch zwei Jahr­tausende die christliche Glaubens- und Lebensregel be­wahrt hat. Was sie achten, ist die unerschütterliche Geschlossenheit der kirchlichen Hierarchie, die geeint um Petri Nachfolger sich selbstlos aufopfert, um das Licht der Frohbotschaft in die Menschheit hineinzutragen, sie zu führen und zu heiligen; die in mütterlichem Verstehen weitherzig ist gegen alle, aber unbeugsam bleibt, wenn sie, selbst um den Preis von Verfolgung und blutigem Tod, erklären muß: Non licet, es ist nicht erlaubt 51

Und doch, Ehrwürdige Brüder, die Lehre Christi, die allein den Menschen eine sichere Glaubensgrundlage bieten kann, von der aus der Blick in selige Fernen schweift und das Herz den göttlichen Dingen sich weit erschließt, die Lehre Christi, die in den großen Zeitnöten mächtige Hilfe verleiht — sie und das rastlose Mühen der Kirche, jene Lehre zu verkünden, zu verbreiten und die Menschen nach ihr zu bilden, sind nicht selten Gegenstand mißtraui­schen Verdachts, als ob sie den Unterbau der staatlichen Autorität erschütterten und sich deren Rechte anmaßten.

Solchem Argwohn gegenüber erklären Wir mit aposto­lischer Offenheit: Bei allem Festhalten an dem, was Unser Vorgänger Pius XI. verehrungswürdigen Angedenkens in seinem Rundschreiben Quas primas 52 vom 11. Dez. 1925 über die Gewalt Christi des Königs und Seiner Kirche gelehrt hat, liegen der Kirche derartige Bestrebungen vollkommen fern; sie breitet ihre mütterlichen Arme gegen die Welt aus — nicht um zu herrschen, sondern um zu dienen. Sie beansprucht nicht, sich innerhalb des Eigenbereichs anderer rechtmäßiger Gewalten an deren Stelle zu setzen; sie bietet ihnen vielmehr ihre Hilfe an, ganz nach dem Beispiel und im Geiste ihres göttlichen Stifters, der umherzog, Wohltaten spendend 53.

Die Kirche predigt mit Nachdruck Gehorsam und Ehrfurcht gegenüber der weltlichen Autorität, die ja ihre hohe Abkunft von Gott herleitet, und sie hält sich an die Lehre ihres göttlichen Meisters, der sagt: Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gebührt54; sie will sich keine Macht anmaßen, sondern läßt in ihrer Liturgie singen: «Doch der raubt nie ein irdisch’ Reich, der himmlische vergeben kann»55. Sie beugt nicht die menschliche Kraft nieder, sondern erhebt sie zu allem Hochherzigen und Edlen, sie prägt Charaktere, die unentwegt zu ihrem Gewissen stehen. Die Kirche, die den Völkern die Gesittung brachte, hat sich nie gegen den kulturellen Fortschritt der Menschheit gestemmt, im Gegenteil ­ihr Mutterstolz schaut auf ihn mit Freude und Gefallen. Was ihr Wirken will, haben die Engel an der Krippe des menschgewordenen Gottes wunderbar verkündet, als sie sangen: Ehre sei Gott in der Höhe, und auf Erden Frieden den Menschen seiner Huld 56. Es ist der Friede, den die Welt nicht geben kann; ihn hat der göttliche Erlöser seinen Jüngern als Erbe hinterlassen: Den Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch57; und nach dieser erha­benen Lehre Christi, die er selbst im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe zusammenfaßt, haben Millionen von Seelen den Frieden gefunden, finden ihn heute und immerdar. Die Geschichte von fast zweitausend Jahren — und ein großer Redner Roms hat die Geschichte treffend die «Lehrmeisterin des Lebens»58 genannt, ­liefert den Beweis von der Wahrheit des Schriftwortes, daß jene den Frieden nicht finden, die sich Gott wider­setzen59. Denn Christus allein ist der Eckstein60, auf dem das Heil des Einzelmenschen und der Gesellschaft fest­begründet steht.

Auf diesen Eckstein ist die Kirche gebaut, und daher werden feindliche Mächte nichts gegen sie ausrichten: Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen61. Nicht einmal schwächen können sie die Kirche, denn alle inneren und äußeren Kämpfe steigern nur ihre Kraft und winden nur immer neue ruhmreiche Siegeskränze um ihr Haupt. Jeder andere Bau dagegen, der nicht fest auf Christi Lehre ruht, ist auf Flugsand gebaut und muß über kurz oder lang zusammenstürzen62.

Ehrwürdige Brüder, die Stunde, in der dieses Unser erstes Rundschreiben zu Euch hinausgeht, ist in mehr als einer Hinsicht wahrhaft eine Stunde der Finsternis 63, in der die Geister der Gewalt und des Unfriedens die blutige Schale namenlosen Leides über die Menschheit ausgießen. Brauchen Wir Euch zu versichern, daß Unser Vaterherz allen seinen Kindern mitleidend in Liebe nahe ist, vor allem den Bedrängten, Unterdrückten und Ver­folgten? Schon sind Völker in den mörderischen Strudel des Krieges hineingezogen, und vielleicht stehen sie erst am Anfang der Leiden64; und doch ist bereits in Tausenden von Familien Tod und Verwaisung, Trauer und Elend bitterer Hausgast geworden. Das Blut ungezählter Men­schen, auch von Nichtkämpfern, erhebt erschütternde Klage, insbesondere auch über ein so geliebtes Volk, wie das polnische, dessen kirchliche Treue und Ver­dienste um die Rettung der christlichen Kultur mit unauslöschlichen Lettern in das Buch der Geschichte geschrieben sind und ihm ein Recht geben auf das mensch­lich-brüderliche Mitgefühl der Welt. Vertrauend auf die mächtige Fürsprache Marias, der Hilfe der Christen, ersehnt es die Stunde einer Auferstehung nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und eines wahren Friedens.

Was heute geschehen ist und weiter geschieht, stand wie eine Vision vor Unserem Auge, als Wir in einer Zeit, wo noch nicht alle Hoffnung geschwunden war, nichts unversucht ließen, um in den Unserem heiligen Amte gemäßen Formen und mit den Uns zu Gebote stehenden Mitteln den Waffengang zu verhüten und die Wege zu einer für beide Teile ehrenvollen Vereinbarung offen zu halten. Überzeugt davon, daß der Gewalt­anwendung von der einen Seite die bewaffnete Antwort der Gegenseite folgen werde, erachteten Wir es — selbst auf die Gefahr von Mißverständnissen Unserer Absichten und Ziele hin — für eine unabweisbare Pflicht Unseres Amtes und ein Gebot christlicher Liebe, alles daran zu setzen, um der Menschheit und der Christenheit die Schrecken eines neuen Weltbrandes zu ersparen. Unsere Mahnungen sind, wenn auch nicht ungehört, so doch unbefolgt verhallt. Und während Unser Herz erschauert in Hirtenleid und Hirtensorge, ersteht vor Uns das Bild des Guten Hirten; es ist Uns, als müßten Wir in seinem Namen der Welt von heute sein klagendes Wort zurufen: Ach hättest Du es doch erkannt, was Dir zum Frieden dient! Nun aber ist es vor Deinen Augen verborgen! 65

Inmitten dieser Welt, die heute das grauenvolle Gegen­stück zu dem Frieden Christi im Reiche Christi bietet, steht die Kirche und stehen ihre Gläubigen vor Zeiten und vielleicht Jahren der Prüfung, wie sie in ihrer bewegten Kampf- und Leidensgeschichte sicher selten zu ver­zeichnen waren. Aber gerade in solchen Zeiten weiß der, der einen festen Glauben und ein gestähltes Herz besitzt, daß Christus der König den Seinen nie so nahe ist, wie in der Stunde der Heimsuchung, die stets eine Feuerprobe christlicher Bewährung bedeutet. Mit blu­tendem Herzen ob der Leiden und Gefahren so vieler ihrer Kinder, aber auch mit dem Starkmut und der Unbeirrbarkeit, die ihr die Verheißungen des Herrn ver­leihen, geht die Braut Christi den kommenden Stürmen entgegen. Und sie weiß: die Wahrheit, die sie predigt, die Liebe, die sie lehrt und übt, wird beim Aufbau einer neuen Welt in Gerechtigkeit und Liebe mithelfen als unentbehrliche Beraterin und Stütze aller, die guten Willens sind, wenn einmal die Menschheit auf dem Weg des Irrtums sich müde gelaufen und den bitteren Trank des Hasses und der Gewalttat bis zur Neige ausgekostet hat.

Inzwischen aber, Ehrwürdige Brüder, soll die Welt, sollen besonders alle vom Kriegselend Betroffenen erfahren, daß das Grundgesetz des Reiches Christi, die katholische Bruderliebe, nicht ein leeres Wort ist, sondern lebendige Wirklichkeit. Ein unübersehbares Arbeitsfeld eröffnet sich der christlichen Caritas in allen ihren Formen. Wir haben das Vertrauen zu Unsern Söhnen und Töchtern, vor allem auch in denjenigen Ländern, deren Boden noch nicht von der Geißel des Krieges heimgesucht ward, daß sie im Geiste des göttlichen Samaritans sich derer erinnern, die als Opfer des Krieges ein Recht auf Mitleid und Hilfe haben.

Die katholische Kirche steht da als die Stadt Gottes, «deren König die Wahrheit, deren Gesetz die Liebe, deren Lebensform die Ewigkeit ist66»; sie kündet die Wahrheit, unverfälscht und unvermindert, sie wirkt mit mütterlicher Hingabe aus Christi Liebe, und erhebt sich als Erscheinung seligen Friedens über dem Strudel von Irrtum und Leidenschaft. So harrt sie des Augenblicks, da Christi des Königs allmächtige Hand dem Sturm gebietet und die Geister bannt, die den Unfrieden herauf­beschworen. Was in Unserer Macht liegt, um das Kommen des Tages zu beschleunigen, wo die Friedenstaube auf dieser von einer Sintflut der Zwietracht überfluteten Erde eine Rast findet, das wollen Wir auch weiterhin tun; Wir vertrauen dabei auf jene hervorragenden Staats­männer, die vor Kriegsausbruch sich mit Edelmut ein­gesetzt haben, um die Völker vor solcher Geißel zu bewahren; Wir vertrauen auf Millionen von Seelen aller Länder und Schichten, die wie nach Gerechtigkeit, ebenso auch nach Liebe und Erbarmen rufen; Wir vertrauen aber vor allem auf den allmächtigen Gott, zu dem Wir täglich flehen: Im Schatten deiner Flügel hoffe ich, bis die Trübsal weicht 67.

Gott kann alles: in seiner Hand trägt er das Glück und Los der Völker, ebenso wie die Pläne der Menschen; er vermag sie in Milde zu wenden, wie er es will. Selbst Hindernisse werden in seiner allmächtigen Hand zu Werk­zeugen, um Dinge und Geschehnisse zu formen und den freien Entschluß der Herzen auf seine Ziele zu lenken.

Darum, Ehrwürdige Brüder, betet ohne Unterlaß, betet vor allem dann, wenn Ihr das göttliche Opfer der Liebe darbringt. Betet, Ihr, von denen der mutige Glaubenseinsatz heute harte, schwere, oft heldenhafte Opfer fordert; betet, Ihr leidenden und bedrückten Glieder der Kirche, wenn Jesus zu Euch kommt, um eure Schmerzen mit tröstender Liebe zu lindern.

Vergeßt auch nicht, durch wahren Bußgeist und würdige Werke der Buße Euer Gebet angenehmer zu gestalten in den Augen dessen, der Stütze ist allen, die stürzen, und der alle Gebeugten aufrichtet68, damit er in seiner Barmherzigkeit die Tage der Prüfung abkürze und sich so das Wort des Psalmisten erfülle: Sie schrien in ihrer Bedrängnis zum Herrn, und er befreite sie aus ihren Ängsten69.

Und ihr, lichte Scharen der Kinder, ihr Lieblinge Jesu, erhebt beim Empfang des himmlischen Lebens­brotes euer unberührtes, unschuldvolles Gebet und vereint es mit dem Flehen der ganzen Kirche. Dem Flehruf der Unschuldigen kann Jesu Herz nicht widerstehen ; denn es liebt euch. Betet alle, betet ohne Unterlass.

So werdet ihr in die Tat umsetzen, was der göttliche Meister als erhabenes Gebot, als heiligstes Vermächtnis seines Herzens hinterließ: daß alle eins seien70: daß alle in jener Glaubens- und Liebeseinheit leben, an der die Welt erkennen soll, wie stark und eindrucksmächtig Christi Sendung und seiner Kirche Wirken ist.

Die alte Kirche hat dieses Gottesgebot begriffen, getätigt und in einem erhabenen Gebet ausgesprochen; das sollt Ihr zu dem eurigen machen mit jenen Gesin­nungen, die das Leid der Stunde erheischt: «Gedenke, o Herr, deiner Kirche, erlöse sie von allem Übel und mache sie vollkommen in deiner Liebe. Führe sie, die Geheiligte, von den vier Himmelsrichtungen zusammen in dein Reich, das du ihr bereitet hast; denn dein ist die Macht und Ehre in Ewigkeit71.

Im Vertrauen, daß Gott, des Friedens Mehrer und Freund, das Gebet seiner Kirche erhöre, erteilen Wir als Unterpfand überströmender göttlicher Gnade, aus der Fülle Unseres väterlichen Herzens, den Apostolischen Segen.

Gegeben zu Castel Gandolfo, bei Rom, am 20. Oktober 1939, im ersten Jahre Unseres Pontifikates.

PAPST PIUS XII.

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1 Pius XII., Rundschreiben an die Ehrwürdigen Brüder, Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und die anderen Oberhirten, die in Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle leben unter dem Zeichen des Christkönigs. AAS XXXI (1939) 481-509. (Amtliche Übersetzung.)

(Die weiteren Fußnoten folgen später!)

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(Quelle: MENSCH UND GEMEINSCHAFT IN CHRISTLICHER SCHAU – Dokumente – Herausgegeben von Dr. EMIL MARTY unter Mitwirkung von Josef Schafer und Anton Rohrbasser – Verlag der Paulusdruckerei Freiburg in der Schweiz, 1945)



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